Kapitel 3: Die Präzession als Zeitmaßstab
Inhalt des Kapitels
Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Das Almagest des Ptolemäus, Grundlage moderner Astronomie
Abschnitt 2-A: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?
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Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Die einfachste Behauptung, mit der der konstante Zeitablauf und die Bestätigung des Jahresabstands von Cäsar bis heute untermauert werden, hat auf den ersten Blick etwas Bestechendes: Da die Sonne zu Jesu Geburt ins Sternbild der Fische eintrat und heute in Wassermann eintritt, dürften rund zwei Jahrtausende dazwischenliegen, denn der Rücklauf (Präzession) der Sonne im Tierkreis beträgt pro Bild rund 2100 Jahre. Die Präzessionsbewegung der Fixsterne gilt als ein untrügliches Maß der Zeit, heute wie schon bei den alten Griechen.
Das tropische Jahr ist rund 20 Minuten kürzer als das siderische Jahr, das bedeutet, daß der Frühlingspunkt, an dem Tag und Nacht gleich lang sind, jedes Jahr eher eintritt als die Stellung der Sonne vor dem Sternhintergrund. Beide Situationen können mit einfachen Messungen festgestellt werden. Den Römern sind dergleichen Beobachtungen geläufig gewesen. Seit der Renaissance nennt man den gesamten Umlauf, bis siderisches und tropisches Jahr wieder zusammenfallen, also den Durchgang der Sonne durch den gesamten Tierkreis, ein Platonisches Jahr und rechnet mit rund 26.000 Jahren.
Was aber den Eintritt der Sonne in ein bestimmtes Sternbild anbetrifft: Man kann dafür einen mathematisch errechneten Punkt wählen (das Zeichen), der seinerseits von der willkürlichen Festlegung des Nullpunktes auf der Ekliptik abhängt, oder sich auf einen auffälligen Stern des Bildes am Himmel beziehen, was aber bei dem nicht sehr hellen und weit auseinandergezogenen Bild der Fische je nach Laune geschieht. Daher gibt es verschiedene Angaben, wann der Eintritt ins Sternbild Fische gewesen sein soll: 167 v.Chr., 128 v.Chr. oder zu Jesu Geburt oder noch ein Jahrhundert später (letztere Angabe bei Drews, S.40).
So verschwimmend, wie sich aus diesem Blickwinkel die antike Zeitbestimmung darbietet, war sie jedoch nicht. Die genaue Bestimmung des Frühlingspunktes war für die Kalendermacher seit frühester Zeit von großer Wichtigkeit. Dieser Tag wird darum als astronomischer Nullpunkt genommen, noch heute.
In klaren Nächten habe ich unzählige Beobachtungen am Sternhimmel vorgenommen und mir Gedanken über die Technik der Alten gemacht. Vor allem interessierte mich ihre Bestimmung des Jahresanfangs und des Frühlingspunktes, die beide von der Größe und Stellung der Sonne ausgehen.
Steckt man einen Stab lotrecht in die Erde und hat in Ost und West einen ebenen Horizont, dann muß die Schattenlinie bei Sonnenaufgang mit der bei Sonnenuntergang an der Tagundnachtgleiche eine gerade Linie bilden. (Zur Kontrolle: Im rechten Winkel dazu liegen Mittag und Mitternacht). Da die Sonne optisch recht breit ist ein halbes Grad und darum ungenaue Ergebnisse liefert, nimmt man als Meßpunkt lieber einen hellen Stern, den man über einen Stab anpeilt. Der Stern, der an der Tagundnachtgleiche des Herbstes in der Sonne steht (»Herbstanfang«), ist an Mitternacht der Frühlings-Tagundnachtgleiche genau im Süden zu sehen. Zur Zeit des Kaisers Augustus war es Spika (»Kornähre«), ein prachtvoll heller Stern im Tierkreiszeichen Jungfrau, der hellste Stern auf der Ekliptik. Durch einen Blick zum Himmel bei Mitternacht ließ sich auf diese Weise der Frühlingspunkt einwandfrei bestimmen.
Die im Hochmittelalter als Weissagung auf Jesus bezogene und darum unvergessene 4. Ekloge des Virgil, die auf seinen Gönner, den späteren Kaiser Augustus (und seinen bekannten Geburtstag, an dem Spika in der Sonne stand) gemünzt war, beginnt mit den Worten: »Nun kehrt die Jungfrau (Virgo) wieder ...« und verherrlicht dann den Kaiser, dessen »neues Geschlecht vom Himmel gesandt wird.« Die danach genannte »keusche Lucina« (Lichtbringerin) war eine Geburtsgöttin der Römer und konnte dichterisch mit Spika gleichgesetzt werden.
Laut Ptolemäus ( Almagest VII,2 und 3) verwendete Hipparch um 130 v.Chr. Spika als Meßpunkt und benützte dabei schon Aufzeichnungen von Timocharis (290 v.Chr.). Ptolemäus nennt die Abweichungen, die den beiden Autoren entsprechen: 6° für Hipparch und 8° für Timocharis. Hipparch habe aus diesem Unterschied die Präzession berechnet und eine entsprechende Kalenderschaltung eingeführt. Leider weiß Geminos in Rom ein Jahrhundert später nichts davon (merkt Ginzel, S. 390, kritisch an). Es ist auch nicht möglich, aus diesen groben Angaben das Platonische Jahr zu errechnen, außerdem sind nur die Abstände zwischen Timocharis und Hipparch einigermaßen richtig, nicht ihr Abstand zu Ptolemäus, wenn man die Stellung von Spika rückerrechnet.
Im Jahr 1900 (auf das unsere modernen Sterntafeln berechnet sind) stand Spika auf 202,4° Länge auf der Ekliptik. Wenn Spika zu Augustus Zeit wie angenommen bei Frühlingsanfang um Mitternacht genau im Süden stand (180°), hat sich der Frühlingspunkt seitdem 22,4° fortbewegt, sofern die Präzession der Äquinoktien durchgehend gleich war. 1° Abweichung entspricht etwa 72 Jahren, denn ein ganzes Platonisches Jahr von 360° dauert rund 25 900 Jahre. Die Abweichung des Frühlingspunktes von Spika bis zum Jahr 1900 entspricht also (22,4 x 72 =) 1572 Jahren. Seit der Errichtung der Sonnenuhr des Augustus sollen aber rund 1900 Jahre vergangen sein, während Spika einen Abstand anzeigt, der 330 Jahre kürzer ist, mithin auf etwa 1600 Jahre schließen läßt. Mit größerer Genauigkeit kann man es sich leider nicht sagen, denn ein Fehler von einem halben Grad entspricht ja 36 Jahren. Hier liegt also der erste astronomische Hinweis vor, der eine Verkürzung des Zeitabstandes zu Augustus um rund drei Jahrhunderte erforderlich macht.
Abschnitt 2: Das Almagest des Ptolemäus, Grundlage moderner Astronomie
Wenn wir wüßten, wann Ptolemäus sein »Almagest wirklich geschrieben hat, könnten wir diesen Zeitabstand als Maßstab benützen. Leider setzt an dieser Stelle unserer Untersuchung schärfere Kritik ein: Wissen wir denn, wie genau man damals die Sternpositionen aufzeichnete? Noch heute streitet man sich darum, ob Ptolemäus seine Sterntafeln nach eigenen Beobachtungen aufstellte oder von Vorbildern, dem dreihundert Jahre früheren Hipparch etwa, unverändert übernommen hat (R. R. Newton 1980), denn sein Frühlingspunkt stimmt nicht mit dem überein, den wir heute für Ptolemäus (140 AD) annehmen müßten.
Der Fehler kann zum Beispiel auf allmähliche Veränderungen der Erdbahn hinweisen, eventuell sogar auf eine kosmische Katastrophe, wie sie für das 1. Jahrtausend v.Chr. seit mehr als 15 Jahren diskutiert wird. Vor allem ist es Christoph Marx (VFG 3-4, 1993, S. 38 ff.; und 1996), der von Velikovsky ausgehend auf plötzliche Bewegungssprünge bei den Planeten hinweist und sogar einen »letzten großen Ruck im Jahr 1348« annimmt: Alle davorliegenden astronomischen Angaben wären für uns unbrauchbar, da sie andere Koordinaten der Erdbahn enthielten. Der akademischen Wissenschaft ist dies seit Generationen ein äußerst unangenehmes Thema, wie Christian Blöss feststellen mußte, dessen Buch »Planeten, Götter, Katastrophen (1991) unbeachtet blieb.
Durch die Berechnungen des Persers Dschelali im Auftrag des Seldschukenherrschers Malik Schah (umgerechnet 1074 AD, laut Enzyklopädie des Islam) wissen wir allerdings, daß zu diesem Zeitpunkt die Jahreslänge genauso war wie heute. Leider ist nicht ganz sicher, wann diese Berechnungen wirklich stattfanden. Vielleicht kann man es an den Originalmanuskirpten überprüfen. Außerdem wäre auch denkbar, daß sich inzwischen der Abstand der Erde zur Sonne und damit die Bahngeschwindigkeit der Erde geändert hat, wodurch sich ein gleiches Ergebnis eingespielt haben könnte, denn Dschelalis Daten sind noch heute von größter Genauigkeit.
Der ptolemäische Fehler könnte auch auf Fälschungen der Bücher beruhen; das Almagest des Ptolemäus könnte ja von den Arabern selbst verfaßt oder umgeschrieben worden sein, wofür einige gute Gründe sprechen. Oder der Zeitabstand zum Erstellungsdatum der Angaben könnte falsch kalkuliert sein, wobei natürlich noch völlig unklar ist, wer hier falsch kalkuliert hat: der große Astronom Ptolemäus, als er Hipparch abschrieb, oder die Araber, als sie Ptolemäus verwendeten, oder die Renaissance-Autoren, die unsere Fassung des Almagest schufen.
Zahlenangaben im Almagest, die unsinnig anmuten, werden heute einfach als Mißlesungen, Übersetzungsfehler und schludrige Abschriften erklärt. Der Fehler für den Frühlingspunkt im Almagest beträgt allerdings nur 2°. (Dergleichen knappe »Verschiebungen« kommen auch in modernen Büchern vor: Das 500-Seiten-Werk von Santillana und Dechend 1993, das sich eingehend mit der Präzession beschäftigt, zeigt nur zwei Druckfehler an, die Zahlen betreffen, und zwar ausgerechnet diese beiden Zahlen der Frühlingspunkte bei Hipparch und Timocharis, um 2°!).
Könnte es auch sein, daß Hipparch den Frühlingspunkt korrekt beobachtete, so daß der durch die Kalkulation in der Renaissance vermeintlich um 300 Jahre zu späte Zeitpunkt nachträglich eine Fixierung bei Ptolemäus erforderte? Dann hätten diejenigen Recht, die Ptolemäus als reinen Kompilator ohne eigene Beobachtungen einstufen.
Hat Ptolemäus uns betrogen?
Abschnitt 2-A: Wer schrieb das Almagest?
Die aufregende These eines modernen Kritikers läßt Ptolemäus erblassen und beschert uns eine Vorstellung über die Erstellung des heutigen Zeitstrahls. Der amerikanische Astronom Robert R. Newton hat ein aufsehenerregendes Buch über Ptolemäus verfaßt (1977, siehe hierzu Marx, 1993, S.42), in dem er diesem berühmtesten aller antiken Astronomen vorwirft, er habe wissentlich betrogen, sowohl seine Zeitgenossen als auch die Nachwelt, weil er als Beobachtungen ausgab, was eigentlich nur kalkuliert war unter Benützung älterer Sterntafeln und Berechnungen von Euktemon und Meton, Hipparch und Eratosthenes. Das Verbrechen des Claudius Ptolemäus, (so der Titel dieses Buches,) bestand darin, daß alle angegebenen Daten nachträglich errechnet sind und für den behaupteten Zeitpunkt, 140 AD, nicht stimmen können. Das gilt für die Längenangabe des Meridians von Alexandria, für den Frühlingspunkt und die Mondstellungen, für den Merkur und andere Planetenbeobachtungen, für die Aufgangszeiten der Fixsterne eigentlich für sämtliche Daten des Almagest. Die Zeitpunkte der Tagundnachtgleichen, die er bringt, sind um 28 Stunden, der des Sommeranfangs um 36 Stunden zu spät gegenüber modernen Berechnungen für jenes Jahr.
Für die Meridianbestimmung gilt Entsprechendes. Nach Britton (1969, zit. in Newton S.100) sind alle Maßangaben des Ptolemäus so, als wäre Mittag eine halbe Stunde eher gewesen. Die Annahme eines derartigen Irrtums ist nötig, um die Meßpunkte des Ptolemäus, die aus der Zeit des Eratosthenes stammen, im Sinne moderner Rückerrechnungen korrekt erscheinen zu lassen. Ptolemäus gibt nämlich die Schiefenabweichung für Eratosthenes (2 Epsilon) mit 11/83 eines Kreises an, korrekt rückerrechnet durch Ptolemäus, der für seine eigene Zeit genau denselben Wert in Grad angibt: 47° 42' 30", was natürlich nicht stimmen kann, da zwischen beiden Zeitpunkten mehr als drei Jahrhunderte liegen sollen.
Im Laufe seiner Untersuchung steigert sich Newton immer mehr in eine ehrliche Wut hinein: Erst beschreibt Ptolemäus in allen Einzelheiten seine ausgeklügelten Beobachtungsinstrumente, z.B. um die Mondparallaxe festzustellen, dann gibt er genau an, wann er diese Instrumente zur Messung anwandte, und am Ende ist alles erlogen, denn zu dem angegebenen Zeitpunkt kann der Mond gar nicht an der bewußten Stelle gestanden haben! Und obendrein sind die Meßergebnisse falsch. Ptolemäus hatte aber eine ganz modern anmutende Forderung gestellt (im Almagest III,1): »Wir denken, daß es korrekt ist, die Phänomene durch die einfachst mögliche Hypothese zu beschreiben, vorausgesetzt sie steht in keiner Weise im Widerspruch zu den Beobachtungen.« Er wendet sich dabei in selbstverständlicher Art an die Leser seines Buches, als wären sie auf diese Forderung vorbereitet. Dabei versucht er, seine (neue) Theorie plausibel zu machen durch Meßergebnisse nicht durch Logik, wie es sonst bei den alten Griechen üblich war. Erreicht wird damit zweierlei: Einschleusung falscher Daten und blinder Glaube an die Unveränderlichkeit der kosmischen Uhr.
Die Angaben im Almagest für Länge und Breite von 1030 Sternen bis zur 6. Größe sind nicht aus astrologischen oder mythologischen Gründen gemacht worden, sondern müssen durch Beobachtung gewonnen sein, erkennt Newton weiter, und dennoch sind sie falsch! Das ist Betrug, ereifert er sich. Übrigens sind diese Beobachtungsdaten über die Lebenszeit des Ptolemäus gestreckt, und da die von ihm benützte Jahreslänge ungenau ist, weichen die Daten immer mehr von den heute errechenbaren ab, je jünger sie werden. Auch die Angaben innerhalb eines Jahresverlaufs schwanken periodisch, da die Grundannahme nicht stimmt. Das alles beweist, daß Ptolemäus nicht zum Himmel schaute, sondern seine Werte später kalkuliert sind.
Dasselbe trifft auch für die Zahlen zu, die Ptolemäus von anderen Astronomen überliefert. Die drei Mondfinsternisse von 382 und 381 v.Chr. sind ebenso fabuliert wie die vier Standortbestimmungen von Fixsternen in diesem Zusammenhang. Auffällig wird es bei den babylonischen Daten, die Ptolemäus nur nach Jahren, nicht nach Tagen mitteilt. Mit Hilfe einer Liste von Regierungsjahren der babylonischen Könige von 746 v.Chr. bis Alexander, die wir mit unserer AD-Zeittabelle von dem großen Makedonen ausgehend rückwärts umrechnen können, gibt Ptolemäus zum Beispiel 7 Mondfinsternisse an, von denen höchstens zwei »möglicherweise echt« sein können, wie Newton feststellt (S.374). Dabei spielt es keine Rolle, ob die Königsliste auf historischen Fakten beruht, sie könnte genausogut erfunden sein, denn sie dient nur als Rahmen, der gerade durch die Finsternisse bestätigt werden soll. Da diese Bestätigung ausfällt, ist die Königsliste für das Studium der Chronologie wertlos. Darum, schließt Newton (S. 375), muß die Chronologie Babylons ganz neu geprüft werden, und zwar unabhängig von den Vorgaben des Ptolemäus.
Ob man diesen ungeheuerlichen Betrug nicht schon in der Antike gemerkt hat? Heliodor, sagt Newton (S. 376 f), benützte das Almagest und erkannte, daß die Werte für eine Konjunktion von Mars mit Jupiter im Jahr 509 um vier Tage falsch lagen; statt am 17. Juni fand die Konjunktion schon am 13. Juni statt. Aber Heliodor zog daraus keine Schlußfolgerung, weil er so Newton die Werte von Ptolemäus nicht nachmaß, d.h. dessen Instrumente nicht benützte.
In einem anderen Buch ein Jahr früher (1976) hat Newton schon eine genaue Untersuchung aller Planetenbeobachtungen, die das Almagest überliefert, durchgeführt und durch Nachrechnen festgestellt, daß fast keine Angabe Vertrauen verdient. Von 17 Beobachtungen des Merkur (S. 181 ff), von denen 8 von Ptolemäus selbst stammen sollen, sind nur die 6 von einem gewissen Dionysius aus Alexandria (3. Jh. v.Chr.) einigermaßen richtig, zumindest stimmt bei ihnen die Präzession ungefähr. Wiederum sind also die um mehrere Jahrhunderte älteren Daten verwendbar.
Bei den Venusbeobachtungen wird es noch deutlicher (S. 193 ff). Von den 11 Angaben sollen wiederum 6 von Ptolemäus selbst beobachtet sein, 3 weitere von seinem Zeitgenossen Theon und zwei von Timocharis. Eine von Theon und die beiden von Timocharis sind einigermaßen vertrauenswürdig, wenngleich wir von diesem Timocharis als Mensch rein gar nichts wissen, was über die Angabe im Almagest hinausgeht (Pauly-Wissowa 1894, Bd.6, S. 1936). Er kann genausogut erfunden sein. Bei den Angaben von Ptolemäus müssen wir einmal 10 Jahre abziehen, bei zwei anderen scheint man »vergessen zu haben, die Präzession einzubeziehen«. Dummerweise stimmen gerade die Plejaden, eins der bekanntesten Sternbilder der Antike, weder hinsichtlich der Größe noch der Anzahl der Sterne.
In einigen Manuskripten des Almagest, fährt Newton fort (S. 208), sind noch sehr späte Beobachtungen vom Ende der Antike angefügt, von dem oben genannten Heliodorus, Schüler von Proklos, des letzten großen Philosophen von Athen. Von letzterem soll eine der Beobachtungen stammen (im Jahr 475), sechs hat Heliodor selbst gemacht (498 bis 510), eine weitere mit seinem Bruder zusammen. Diese Daten sind fast ganz verläßlich! (Nur eine Angabe wird bedingt als falsch eingeschätzt.)
Woher kommt diese überraschende Korrektheit?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Da der Amerikaner Newton diese Korrektheit der Angaben Heliodors nicht erklären kann, habe ich unser Datierungsproblem eingeschaltet: Heliodors Daten sind nach einer damals üblichen Jahreszählung verzeichnet, der Diokletian-Ära, die während der Renaissance noch im Orient benützt wurde. Man konnte also im 15. Jh. noch den genauen Jahresabstand zu Heliodor berechnen und damit seine Meßdaten korrekt wiedergeben. Hieraus wird meines Erachtens deutlich, daß die dem Ptolemäus in den Daten angekreideten Fehler auf einem falsch kalkulierten Abstand zum Beobachtungszeitpunkt beruhen dürften, während die von Heliodor mitgeteilten Werte den richtigen Zeitabstand enthalten.
Wenden wir uns den Überlieferern des Almagest zu, den fähigen islamischen Astronomen wie Ibn Yunis, der angeblich um 1008 AD (umgerechnet) schrieb. Er hatte durch Beobachtung und Berechnung festgestellt, daß die überlieferten Meßergebnisse des Sonnenstandes nur für Hipparch gelten konnten, für Ptolemäus dagegen falsch sein müßten. Das würde bedeuten, daß der von dem islamischen Astronomen berechnete
Zeitabstand zu Hipparch elfeinhalb Jahrhunderte betragen müsste, weshalb wir Ibn Yunis nach unserer heutigen Chronologie bei 1008 AD ansiedeln, während er da Hipparch der neuen These zufolge an Ptolemäus' Datum liegen muss im 13. Jh. gelebt haben wird. Damit wird er Zeitgenosse der astronomischen Wissenschaftler in Kastilien, die die alphonsinischen Sterntafeln (unter Alfons X, el Sabio) aufstellten. Damit paßt er nun endlich in den wissenschaftsgeschichtlichen Rahmen.
Es bleiben die Fragen: Wann wird Ibn Yunis in den islamischen Texten in Hedschra-Jahren geführt? Gibt es alte Handschriften, die unverfälschte Daten tragen?
Aus den vermeintlichen astronomischen Fehlern des Almagest werden für uns Anhaltspunkte für den Zeitabstand zur Vergangenheit, und daraus erkennen wir die Täuschungsmanöver der Astronomen der Renaissance.
Kopernikus akzeptierte nämlich 1543 die Daten, als gehörten sie zu Ptolemäus, denn wie alle seine Zeitgenossen im Abendland verwendete er schon unsere heutige Art der Jahreszählung, die den Abstand um drei Jahrhunderte vergrößert.
Daß im Almagest nur die Daten des Heliodor vertrauenswürdig sind, hatte schon Ismael Bouillard im 17. Jahrhundert hervorgehoben, aber die Fehler in den übrigen Berechnungen stellte erst der Franzose Delambre (1817, Bd. 1, sowie im Vorwort zu 1819) klar heraus. Das wurde damals zwar viel diskutiert, geriet aber dann doch in Vergessenheit, bis Robert Newton vor zwei Jahrzehnten auf eigenem Wege dasselbe herausfand und durch seine äußerst genauen Kalkulationen bis ins kleinste Detail nachwies. In ehrlichem Entsetzen machte er daraus den größten Skandal der antiken Wissenschaft (1977, S. 379):
»Das Almagest hat der Astronomie mehr Schaden zugefügt als irgend ein anderes Buch, das je geschrieben wurde, und die Astronomie wäre besser dran, wenn es nie existiert hätte. Dadurch ist Ptolemäus nicht der größte Astronom der Antike, sondern etwas noch viel Ungewöhnlicheres: Er ist der erfolgreichste Betrüger in der Geschichte der Wissenschaft.«
Wie schon angedeutet sieht meine Lösung des Problems anders aus, denn einige Punkte in den zitierten Gedankengängen von Newton leuchten mir nicht ein.
In der Kritik an den altgriechischen Gradangaben im Almagest sind zwei Vorgänge miteinander vermengt, die ich nun trennen möchte. Die Angaben des Ptolemäus stimmen, soweit es den durch die Präzession vorgegebenen Zeitabstand betrifft, grob für Hipparch, sind also dem Ptolemäus nur zugeschrieben. Und zweitens sind sie auch für Hipparch noch recht ungenau, weil ihnen ein fehlerhaftes Planetenmodell zugrundeliegt. Sie können also nicht auf Beobachtungen beruhen, sondern fallen als Rückerrechnungen auf.
Der Ausgangspunkt für alle Berechnungen, sagt Newton ( S. 94), war die Beobachtung des Sommeranfangs durch Meton am 28. 6. 432 v.Chr. um 10 Uhr in Athen. Dieser vielleicht einzige verläßliche Meßpunkt der alten Griechen wird nun 296 Jahre später von Hipparch verwendet, wie das Almagest behauptet. Der erste Sprung von Meton zu Hipparch verrät eine genaue Kenntnis der Zeitverschiebung, die Illig als Sprung über 297 Jahre bezeichnet. Der zweite Sprung, nämlich von Hipparch zu Ptolemäus, mit rund 275 Jahren, kommt mir wie eine absichtliche Verschleierung seitens der Renaissance-Autoren vor. Diese haben die für Hipparch errechneten Daten dem Ptolemäus untergeschoben, damit der zeitliche Abstand von 1300 (statt rund 1000) Jahren stimmt.
Ein weiterer Stein des Anstoßes liegt in der unglaubwürdigen und durch Newton schärfstens widerlegten Behauptung des Ptolemäus, die Phänomene zu beobachten statt zu errechnen, was ihm den hohen Ruf als größten Astronom der Antike eingetragen hatte. Diese Forderung ist aber typisch für die Renaissance. Ich wüßte keinen Zeitgenossen oder Nachfolger des Ptolemäus, der solche komplizierten technischen Apparaturen zur Sternbeobachtung eingesetzt hätte, wie sie im Almagest beschrieben werden. Erst in der Renaissance erfand man derartige Geräte.
Newton, der zwar bestens bewandert ist in antiker Sternkunde, aber die Machenschaften der »Wiederentdecker antiker Texte« im christlichen Abendland nicht ahnte, mußte dem Ptolemäus unterstellen, daß er wissentlich betrogen habe.
Die Errechnung antiker Sterndaten während der Renaissance, die das Almagest bietet, hatte möglicherweise nur den einen Sinn, die neue Chronologie ein für allemal festzulegen. Das gilt nicht nur für den Sprung über 297 Jahre im Mittelalter, sondern auch für die Generationenfolge des Alten Testamentes, die über die babylonische Königsliste fixiert werden sollte. Wie wir wissen, sind derartige Herrscherlisten, etwa die von »Berosos« oder »Manethon«, typische Erzeugnisse der Humanisten. Mit der Aufstellung dieser Chronologien und ihrer Absicherung durch errechnete Sterndaten wurde nicht nur die Bibel fundiert, sondern eine ganze Weltanschauung: Man wollte glauben machen, daß der Himmel ein untrüglicher Maßstab für alle Zeitläufe sei. Wie nach einem Fahrplan dreht sich der Kosmos nach ehernem Gesetz, wird hier vorgegaukelt, und diese göttlichen Gesetze sind offensichtlich für die Ewigkeit gültig. Alle modernen Methoden und Theorien der Astronomie und Geologie beruhen auf diesem Prinzip der Unstörbarkeit und des gesetzmäßigen Ablaufs der Gestirnbewegungen. Das hat sich trotz einiger angemeldeter Zweifel noch nicht geändert. Man hält den Kosmos für eine Präzisionsuhr, die »shock- and waterproof« stets die genaue Zeit angibt.
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Auf dem Jahrestreffen der Zeitrekonstrukteure 1995 trug Christian Blöss kritische Gedanken zu den »Sonnenfinsternisbeobachtungen in Mitteleuropa von 600 bis 900 n.Chr.« vor (gedruckt in ZS 3 1995). Sie fußen weitgehend auf den Nachforschungen von R. R. Newton (1972), der alle erreichbaren mittelalterlichen Texte auswertete, um festzustellen, ob sich die Erdrotation oder die Mondbahn seit damals geändert haben. Grundlage für diese Prüfung ist wohl die damals vieldiskutierte Idee von Hörbiger und Fauth, die gegenseitige Anziehung von Erde und Mond müsse eine fortwährende Veränderung des Mondumlaufs zur Folge haben. Als Ursache sieht Newton eine Änderung des Verhältnisses von Wasser zu Eis auf der Erde an und liegt auch damit im Ideenbereich Hörbigers. Die Schlußfolgerungen Newtons, die eine »kleine Eiszeit« anvisieren, dürften allerdings auf ganz anderen Fehlern basieren, die mit einer Theorie der Rotationsveränderungen nichts zu tun haben. Es handelt sich schlicht um die Wertlosigkeit der sogenannten Dokumente des Mittelalters, die Beobachtungen vortäuschen, wo es sich nur um »die plötzlich aufkommende Anwendung eines (sicherlich unvollkommenen) Rechenkalküls für zurückliegende Sonnenfinsternisse handelt« (Blöss, S. 328).
Die angeblichen Annalen der Klöster aus jenem Zeitraum sind weder damals geschrieben noch bringen sie Nachrichten aus jener Zeit, zumindest nicht, was die Finsternisse anbetrifft. Da gibt es haarsträubende Fehler, die durch Abschreiben oder Fehllesung niemals zustande kommen können. Sehr oft stimmen weder die Tage noch die Jahre, manchmal gibt es astronomische Beschreibungen und detaillierte Gradangaben, wie sie erst viele Jahrhunderte später möglich waren, (wie Illig 1996, S.91 ff, treffend untersucht). Newton sichtet sein Material durchaus kritisch, so daß ohnehin nicht mehr viel übrig bleibt. In den rund 50 deutschen Quellen erkennt Newton nur 6 von insgesamt 39 Angaben über die Sonnenfinsternisse dieses Zeitraums als vertrauenswürdig an; für ganz Europa bleiben von 183 Angaben nur 27 als unabhängig oder original übrig, von denen sich die Hälfte auf nur zwei Finsternisse bezieht. Bei den ebenfalls ausgewerteten byzantinischen Texten geht es nicht besser zu, und was besonders auffällt: Die dortigen Finsternisse fallen auf ganz andere Daten. Bedenkt man weiterhin, daß einige der verwendeten Angaben nur Randbemerkungen neben dem Text sind oder nur das Jahr angeben (Sonnen- und Mondfinsternisse finden gewöhnlich einmal im Jahr statt,) dann ist die Fälschungsmöglichkeit recht offensichtlich. Wenn Newton nicht einen kleinen Trick anwenden würde, nämlich die aus heutiger Sicht errechneten jeweils nächstliegenden Finsternisse als realen Bezug auszuwählen, würde vermutlich kein Datum mehr als zeitgenössische Beobachtung bestehen können.
Blöss (S. 325) findet an Hand des enormen Materials, das Newton auswertete, auch heraus, daß »über ganz Europa hinweg querkopiert« wurde. Eigentlich möchte man daraus schließen, daß die Daten an zentraler Stelle errechnet und zur Eintragung in den Annalen verteilt wurden. Und wie gesagt: Byzanz hatte andere Fälscher.
Schon Ginzel wußte genau, daß die Sonnenfinsternisdaten im 10. Jahrhundert um bis zu drei Tage falsch lagen, also nachträglich mit Hilfe fehlerhafter Modelle errechnet worden sein müßten, was sogar einigen Chronisten des Hochmittelalters schon aufgefallen sei, wie er sagt.So ergibt sich für diese Untersuchung der Finsternisse: Alle behaupteten astronomischen Beobachtungen der Mönche sind rückerrechnet.
Abschnitt 5: Resignation?
Wenn es also keine wissenschaftliche Methode gibt, um festzustellen, wievielmal die Erde um die Sonne gekreist ist, seit Cäsar den Kalender reformierte, müßte uns ein Fehler in der Jahreszählung ganz gleich wie groß von der Sache her als unerkennbare Größe unberührt lassen.
Da aber die Geschichtswissenschaft eigene feste Skalen vorlegt, zumindest jeweils für einen eng umschriebenen Kulturkreis, interessiert mich ganz außerordentlich, wie verbindlich die Gleichsetzungen dieser Skalen sind. Erst indem ein in unseren Chroniken berichteter Vorgang in die Weltgeschichte eingeordnet wird, verliert er seinen epischen oder romanhaften Charakter und wird zum historischen Faktum.
Oder anders gesagt: Würden arabische Texte unabhängig von den fränkischen Quellen ihrerseits über Karl den Großen berichten und auch noch zeitlich übereinstimmende Angaben dazu machen, dann wäre nicht nur dieser Überkaiser gerettet, sondern auch seine Epoche. Fehlt diese fremde Bestätigung, dann hat Illigs Hypothese eines Zeitsprungs und erfundener Jahrhunderte im Mittelalter durchaus Chancen auf Verifizierbarkeit.
Ein Ergebnis steht schon jetzt fest: Das Geschichtsbild, das heute weltweite Verbreitung gefunden hat, löst sich als phantasievolles Nebelgebilde auf. Die Untersuchung ergibt ein neues Bild unserer Geschichte, das vom bisherigen radikal abweicht. Die gesamte abendländische Geschichte muß neu geschrieben werden.
INHALT DES GANZEN BUCHS
Abschnitt 1: Seit Erschaffung der Welt
Abschnitt 2: Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Abschnitt 3: Die spanische ERA
Abschnitt 4: Das magische Jahr Tausendeins
Abschnitt 5: So wird eine Epoche geschaffen
Abschnitt 6: Die Entlarvung der spanischen ERA
Abschnitt 7: Der geniale Regiomontanus
Abschnitt 1: Warven, Ablagerungsschichten in schwedischen Seen
Abschnitt 2: Die Radiokarbonmethode verändert unser Geschichtsbild
Abschnitt 3: Ist die Karbonbestimmung wissenschaftlich?
Abschnitt 4: Sind Eisschichten datierbar?
Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?
Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie
Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer
Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte
Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera
Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«
Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?