Kapitel 7: Die Werkstatt der Humanisten

Inhalt des Kapitels
Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera

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Abschnitt 1: »Renaissance«

Nach der Entstehung des Papsttums in Avignon und dessen Übersiedlung nach Rom Ende des 14. Jahrhunderts begann die Wiederbelebung der Antike in Italien. Als Gründer des Humanismus setzt man Petrarca an, wenngleich der Begriff Humanismus erst ein Jahrhundert später auftauchte und dessen Verwendung in unserem Sinne erst rückblickend durch Winckelmann 1765 eingeführt wurde (Hunger, S. 525 f). Petrarca kannte außer Cicero, Seneca und anderen Klassikern auch schon einen frühen »Kirchenvater«, Augustin. Leider sind fast alle Manuskripte, die er benützte, auch seine eigenen Abschriften, verlorengegangen, weshalb eine so frühe Kenntnis des Augustin nicht mehr nachweisbar ist.
Dieser immer wieder behauptete Verlust jener Bücher, »die bei einigen Humanisten höhere Verehrung genossen als die Reliquien,« (bei Hunger, S. 547) entbehrt jeglicher Erklärung. Die Briefe dieses ersten Humanisten sind ja in großer Zahl erhalten. Da schreibt Petrarca an seine Lieblingsdichter, von denen er durch 14 Jahrhunderte getrennt ist, als wären es Zeitgenossen. Er erlebt ihre Lebensläufe, als würden sie sich zu seiner eigenen Lebenszeit abspielen. Selbst Machiavelli schreibt 1513 noch in diesem Sinne: »Hier empfinde ich keine Scheu, mich mit ihnen zu unterhalten und sie nach den Gründen ihres Handelns zu fragen; sie aber antworten mir, weil sie Menschen sind.« (bei Hunger S. 539). Diese emotionale Nähe ist doch sehr bezeichnend. Bis hin zur Ausdrucksweise und Rechtschreibung ist man sich fast gleich. Kein Wunder. Es handelt sich ja um die Wiedergeburt.
Eine derartige »aktive Rezeption« der Antike scheint mir nur möglich, weil das eigene Weltempfinden mit jenem der Antike völlig verschmilzt, was bei einem (theoretischen) Abstand von anderthalb Jahrtausenden unvorstellbar bleiben muß. Von der liebevollen Nachahmung zur einfühlsamen Neuschöpfung alter Texte ist nur ein kleiner Schritt.
Diese »Wiedergeburt« (Renaissance) hat mit ganz unterschiedlichen Erzeugnissen aufzuwarten. Neben den offensichtlichen Fälschungen gibt es auch die bewußte Rettung fast verlorener Denkmäler, die Wiederherstellung aus Fragmenten und die Aufwertung mündlicher Überlieferung zur Schriftwürdigkeit. Für deren relative Echtheit spricht oft der heidnische Inhalt. Man wußte fast nichts mehr vom Heidentum und erntete keinen Ruhm mit seiner Rettung. Oft mußte man die mittelalterlichen Texte umarbeiten. Die Romulus-Sammlung von Fabeln, die angeblich 350-500 AD geschrieben war, (vermutlich aus dem 11. Jahrhundert stammte), hatte in den frühesten Fassungen noch Götter, Tempel und Opfer.

Es wäre nicht nur eine Überforderung meiner Arbeitskraft sondern auch Überbeanspruchung der Geduld des Lesers, wenn ich alle oder auch nur die Mehrzahl der wichtigsten Schriften des angeblichen Mittelalters und der erfundenen Antike untersuchen würde und ihre Entstehung im Hochmittelalter der Staufer und der Frührenaissance der Humanisten nachweisen wollte. Einige ausgewählte Beispiele müssen genügen. Jedes Beispiel steht für viele andere ähnlichen Typs und muß natürlich mehrere Eigenheiten zugleich vertreten und aufzeigen: den angeblichen Entstehungszeitraum, die Literaturgattung, die Art der Aufdeckung der Fälschung usw.
Zuerst betrachte ich eine »Geschichtsquelle« ersten Ranges des 10. Jahrhunderts, Roswitha von Gandersheim; dann eine antike Dichtung von größter Beliebtheit, den Goldenen Esel von Apuleius, dessen Entlarvung zugleich den wichtigsten Kirchenvater, Sankt Augustin, vom Sockel stürzt; sodann eine antike »Geschichtsquelle« von höchster politischer Bedeutung, die Germania des Tacitus.


Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne

Roswitha, oder altherthümelnd Hrotsuit genannt, (935-973), war Nonne im Stift von Gandersheim bei Braunschweig und gilt als die erste deutsche Dichterin. Wieso eigentlich deutsch? Sie schrieb in Mittellatein, jedenfalls lateinisch. Aber lassen wir diesen Ruhm den Deutschen.
Ich schlage in einigen Literaturlexika nach, besonders in dem ausführlichen Walter Killy (1990), denn da kommt die erste deutsche Dichterin mehrseitig vor. Leider ist sie durch fremde Hinweise nicht belegt, wir kennen sie nur aus ihren eigenen Schriften. Ihre Lateinlehrerin war ihre Äbtissin Gerberg (940-1001), die das klassische Latein allerdings auch erst an anderen Schulen lernen mußte.
Bis 959 hatte Roswitha schon einige ihrer heute berühmten Legenden und Dramen fertig. Richtig, damals war sie also knapp 24 Jahre alt, und ihre Lateinlehrerin höchstens 19. Die Texte muten an wie Teenagerfantasien. Da gibt es laut Lexikon »burleske Märtyrergeschichten«, und besonders die ganz ausgefallene Legende, die sie sich von einem Augenzeugen aus Córdoba (Spanien), der sie besuchte, erzählen ließ: Die Geschichte von dem hübschen zehnjährigen Knaben Pelagius, der sich als Christ nicht von dem muselmanischen Kalifen Abder-Rahman (»III«) befummeln lassen wollte und den Märtyrertod vorzog. Jungfrauenfantasien?
Oder von dem Calimachus, der so geil war, daß er es sogar mit Leichen trieb. (sorry, steht da).
Es gibt aber auch ganz klassisch durchgereimte Dramen, in denen ein Bündnis mit dem Teufel vorkommt, wie ein früher Dr. Faustus, und dann besonders die »Hetären-Dramen«, Abraham und Paphnutius betitelt, wo im Bordell Verrat an der Jungfräulichkeit begangen wird, so daß Gott selbst eingreifen muß in Gestalt enthaltsamer Mönche, die das Bordell aufsuchen, um Bekehrungen zu bewirken.
Den Abschluß der Sammlung bildet eine Offenbarung des Johannes in 35 Hexametern. Ich komme darauf zurück.
Nun wäre leicht einzuwenden, daß ein Bordell in dem kleinen Städtchen Gandersheim im 10. Jahrhundert keine so große Einnahmequelle gewesen wäre, um ein Nonnenkloster damit zu unterhalten, aber man muß ja nicht alles so wörtlich nehmen. Solange Roswitha den Römer Terenz nachahmt, dessen lasterhafte Liebesaffären angeblich dem damaligen (also 10. Jh.) Zeitgeschmack der Sachsen sehr zusagten, wie behauptet wird, ist alles gerettet. Sie entschuldigt sich auch nach Art der frommen Therese von Avila (16. Jh.), daß sie als Frau nicht so gut schreiben könne wie ein Mann, aber das ist wahre Bescheidenheit, die sie dreimal in ihren verschiedenen Werken wiederholt. Das läßt eigentlich nur den Zeitgeist durchspüren, nämlich daß man zur Zeit der Roswitha den Frauen weniger Öffentlichkeitsarbeit erlaubte als den Männern. Im 10. Jahrhundert halte ich das für undenkbar, nach der Pest und den Hexenverbrennungen wäre es eher schon möglich.
Übrigens ist nach Ansicht aller Kritiker ihr Latein makellos, das müßte also sehr spät geschrieben sein. Aber diese Verdachtsmomente sollen zunächst hintangestellt werden.
Wenn sie nämlich den Ruhm ihrer Gönner, der Kaiser Otto I und II, in panegyrischen Versen besingt, greift sie voll in die Saiten und schafft ein Heldenepos, das alle Gebildeten der Renaissance begeisterte und heute sogar als Geschichtsdokument gilt. Sie berichtet nämlich – und es wird angenommen, daß sie selbst zum Adel gehörte – viele intime Einzelheiten der ottonischen Familie, und zwar Informationen, die wir heute nirgendwo sonst finden können. Sie ist also unsere Geschichtsquelle ohnegleichen für gewisse Vorgänge im ottonischen Reich.
Leider wurden ihre Dramen damals nie aufgeführt, obgleich die Textform das verlangt. Erst in unserer Zeit hat sich ein rühriger Kreis um sie geschart und bringt ihre Dramen auf die Bühne. Das mittelalterliche Schauspiel mußte sich ohne ihre Anregungen entwickeln, obgleich sie nach eigener Aussage zu ihrer Zeit eine vielgelesene Schriftstellerin war.
Man hat sie wohl sehr schnell vergessen.
Und zwar bis 1493 (oder eigentlich bis 1502), als der hochgelehrte und weitgereiste Humanist Konrad Celtes (Pickel) die prachtvolle Handschrift ihrer Werke wiederentdeckte und seinen überraschten Zeitgenossen vorstellte. Die Dramen und Elogien fanden sofort begeisterte Aufnahme, war doch das Latein von bester Güte und die Thematik vom besten Zeitgeschmack. Schlüpfrige Geschichten von einer Nonne verfaßt! Und die Nähe der Dichterin zur Antike entsprach ja auch genau den Vorstellungen der Renaissance, man fühlte sich sofort geistesverwandt.
Ihre Texte wurden sogleich ins Deutsche übersetzt und es folgten begeisterte Lobeshymnen auf diesen Fund. Die Einzigartigkeit dieser frühen deutschen Dichterin war Anlaß für die seltsamsten Preisgedichte, von 14 Humanisten verfaßt, die zwecks Beglaubigung auch schon der ersten Veröffentlichung angefügt wurden. So als sollten sie das Werk absichern.
Daß die geniale Roswitha ganz allein stand, ohne Vorläuferinnen oder Schülerinnen, völlig isoliert »mitten in einem barbarischen Zeitalter«, war den Literaturkritikern als Besonderheit aufgefallen, und darum gerade feierten sie sie als die größte Dichterin der Deutschen. Daß das geschichtlich gesehen eine Unmöglichkeit ist, hat niemand beanstandet.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wird es einem deutschen Historiker (und nebenbei gesagt: hervorragenden Arabisten) zu bunt und er zerreißt den Schleier, der dieses Nonnenmysterium umgibt: Joseph Aschbach erklärt seinen erstaunten Kollegen, wie Roswitha und Conrad Celtes zusammenhängen; Celtes ist der Vater der Geschichte, Roswitha seine Kopfgeburt. Schon der Titel von Aschbachs Büchlein klingt wie ein Liebesroman: Roswitha und Conrad Celtes. Tatsächlich schrieb Celtes, wie er in der Vorrede anklingen läßt, das Buch mit der Absicht, der Nürnberger Nonne »Charitas«, (seiner Geliebten), und allen damaligen Frauen zur Befreiung aus dem engen Joch der christlichen Gesellschaftsform, die das Frauentum unterdrückte, durch eine »historische« Vorlage zu helfen. Die Fälschung hat also ehrenwerte Hintergründe, die sicher alle Kollegen, zu denen auch Pirkheimer, der Vater der »Charitas«, gehörte, guthießen und unterstützten.
Ob »Charitas«, die für Celtes eine innige Verehrung und schwesterliche Liebe in ihren Briefen bezeugt, selbst an dem Werk mitgeschrieben hat, bleibt unklar. Jedenfalls verbot ihr die Kirchenleitung nach ihren ersten genialen Texten in Latein jegliche Fortsetzung ihrer Schriftstellerei. Vielleicht stammt nur die Nachdichtung der Offenbarung des Johannes von ihr. Die übrigen Dichtungen der Roswitha, vor allem die Legenden mit »schlüpfrigen Situationen« (S. 27), stammen eher aus Männerhirnen, und zwar hauptsächlich von Celtes selbst, der auch unter eigenem Namen anstößige Poesie verzapft hat, dann von Pollichius und einigen anderen Sodalen (so nannten sich die »rheinischen Brüder«, die Celtes um sich geschart hatte).
Der Enttarner Aschbach hatte Roswithas Lebenswerk zunächst allein vom Inhalt her als Schöpfung der Humanisten erkannt und dies in einer Schrift von über 50 Seiten unmißverständlich klargestellt. Nachdem sich aufgrund der Entlarvung »eine Reihe von gelehrten Männern ... wie eine fest geschlossene Phalanx schützend und schirmend vor die Werke der Roswitha« gestellt hatten (S. 2), nahm Aschbach den originalen Kodex in Augenschein und stellte auch an diesem zahlreiche Mängel fest. Vor allem berührte es ihn peinlich, daß Celtes in dem kostbaren Kodex, der als Schatz in München aufbewahrt wird, eigenhändig Verbesserungen und Zusätze geschrieben hatte, was jegliche Ehrfurcht vor einem authentischen Werk des 10. Jahrhunderts vermissen läßt. Ansonsten aber brauche ich kaum zu wiederholen, was der Handschriftenkenner kritisierte, denn die Gründe, aus denen ein altes Manuskript als Fälschung erklärt wird, können nicht gut von der äußerlichen Beschaffenheit des Textes ausgehen, (wie Aschbach im Vorwort zur 2. Ausgabe sagt), da die Fälscher sich alle erdenkliche Mühe gaben, ihr Machwerk so echt wie möglich erscheinen zu lassen. Es fehlen ja auch Kriterien, wenn man eine einzelne Handschrift als Muster heranzieht, da die anderen, noch nicht untersuchten, Handschriften ebenso falsch sein können. Schriftart und Materialien (Pergament, Tinte usw.) des 10. Jahrhunderts kennen wir gar nicht, haben sie ja nur aus eventuell ebenso gefälschten Vorlagen erschlossen.
»Nur innere Gründe können den Betrug an den Tag bringen«, (sagt Aschbach im Vorwort,) dann nämlich, wenn der Inhalt offensichtliche Anachronismen enthält oder den Zeitgeist der Fälschungszeit widerspiegelt. Denn selbst wenn man bewiesen hätte, daß der Kodex der Roswitha eine offensichtliche Fälschung des 16. Jahrhunderts sei, hätte man noch nicht erkannt, ob auch der Inhalt unecht sei, solange man nicht darin die Widersprüche und Unmöglichkeiten gezeigt hat. Nicht die optische Gestalt des Textes sondern die sprachliche Form und die Aussagen müssen kritisch untersucht werden! (Der Rest ergibt sich übrigens nebenbei von selbst, wenn man das vermeintliche Original unter den neuen Gesichtspunkten betrachtet.)
Aschbach hatte sich auch mit den Humanisten speziell beschäftigt, ihre engen Verflechtungen untersucht und ihre Briefe durchforscht (die im Anhang der 2. Auflage als Beweisstücke abgedruckt sind). Daraus geht hervor, daß Celtes schon ab 1492 die Abfassung der Roswitha vorhatte, Materialien sammelte und Freunde zur Mithilfe anregte. 1501 war das Prachtwerk fertig und konnte der Öffentlichkeit übergeben werden.
Von den zahlreichen inneren Gründen, die Aschbach mit großer Denkschärfe zur Aufdeckung des Betruges anführt, will ich nur einige kurz erwähnen. Wenn die Dramen echt wären, »müßten die Anfänge der dramatischen Dichtkunst in Deutschland um ein halbes Jahrtausend früher gesetzt werden, als gegenwärtig angenommen wird.« (S. 15) Diese Erkenntnis wird durch ein zitiertes Fachurteil (Wackernagel 1848) untermauert, das schlicht besagt, daß die Dramen der Roswitha im Entwicklungsgang der deutschen oder lateinischen Literatur des Mittelalters nicht als Tatsache gewertet werden können.
Aschbach fand zum Beispiel (S. 17) die Vorlage für eine der Komödien, Abraham: Sie stammt aus dem Buch der Erzväterlegenden, das 1478 in Latein in Nürnberg gedruckt worden war und 1488 in Augsburg in deutscher Übersetzung erschien. Ihr Autor heißt Rosweid. (Daher der hübsche Mädchenname!)
Die Pelagius-Legende, die ein Christ in Córdoba persönlich miterlebt hatte und auf seiner Reise der Nonne Roswitha in Gandersheim brühheiß erzählte, wie sie selbst schreibt, strotzt dermaßen vor Unsinn, – da beten die islamischen Einwohner der kurz vorher von dem mauritanischen König eroberten Stadt zu goldenen Standbildern usw. – daß ein näherer Blick auf den homosexuellen Vorfall und seine zeitliche Einordnung überflüssig ist. Aschbach fand auch die Vorlage, die Pater Flórez später in seiner Heiligenlegendensammlung (España sagrada) verwendete.
Es folgt die 6. Legende : ihre Quelle ist die Faustsage, ein typisches Produkt der Renaissance.
Die sprachlichen Vorbilder für Roswitha waren Ovid, Terenz und Plautus, die im 10. Jahrhundert in Mitteleuropa völlig unbekannt waren (S. 26). Auch die Vers- und Reimtechnik ist unzeitgemäß, und die durchscheinenden Griechischkenntnisse sind undenkbar für eine Nonne jener Zeit.
Noch einmal betont Aschbach (S. 75) den Grundsatz, welchen die Urkundenforscher beachten müssen, wenn sie über die Echtheit einer Urkunde urteilen: Nur eine Untersuchung der inneren Merkmale kann eine Fälschung aufdecken, selbst wenn sie nach Schriftart, Schreibmaterial und Fundort echt sein könnte. Auch die Aussage von Fachleuten, die mit ihrer ganzen Autorität darauf bestehen, daß ein gewisses Dokument echt sei, machen dieses nicht echt (S.78).
Allerdings erübrigt sich jede weitere Diskussion, wie Aschbach vorausschauend sagt, spätestens sobald der Aufdecker einer Fälschung gestorben ist. Und das genau hat wohl stattgefunden. Nicht nur die Literaturlexika wissen nichts mehr davon, sondern auch die Fachleute haben Aschbachs Buch als erledigt zur Seite gelegt.
Anzumerken wäre noch, daß Aschbach kein Außenseiter war, sondern ein hochangesehener Professor in Wien, der 1870 – also zwei Jahre nach Erscheinen der 2. Auflage seiner Streitschrift – in den Ritterstand erhoben wurde. Seine Vorgehensweise ist im besten Sinne wissenschaftlich und meines Erachtens auch schlüssig. Dennoch konnte er einige wichtige Kollegen nicht überzeugen.
Ich möchte noch einen Punkt hervorheben: Zu den Versen, die Kaiser Otto I verherrlichen, und den übrigen »historischen Quellen« sagt Aschbach abschließend (S.113): »Sämtliche drei Gedichte verrathen dieselbe Zeit ihrer Entstehung, als der Humanismus in Deutschland zu florieren anfing: sie tragen denselben Charakter, viel Gerede, wenig Thatsachen. Sie vermeiden in geschickter Weise sich Blössen zu geben, indem sie eng an alte Quellen anlehnen. Der Panegyricus stützt sich auf Widukind, Gunther Ligurinus auf Otto von Freisingen, das Epos de bello Saxonico auf Lambert von Hersfeld. So gelang es, selbst Kenner und Männer der Wissenschaft zu täuschen.«
Leider hat Aschbach nur dieses eine Machwerk der Renaissance unter die Lupe genommen, sozusagen als Paradefall, an dem man sich orientieren kann. Eigentlich hätte er auch die von ihm der Einfachheit halber als »Vorlage« hingestellten Werke von Widukind von Corvey (mit seinem an Sallust geschulten Stil), Otto von Freisingen (mit 14 Jahren schon Probst, mit 18 Klosterabt, mit 23 Bischof) und Lambert von Hersfeld (den er in einer Anmerkung vorsichtig zu den Fälschungen stellt) als späte Erfindungen brandmarken müssen, die nur den einen Vorteil gegenüber der Roswitha hatten: Sie waren schon einige Zeit eher gefälscht und inzwischen allgemein anerkannt.
Und da Roswithas Werke diesen älteren Texten nicht widersprechen, sondern nur vorsichtig neue Informationen hinzufügen, gewinnen beide in der gegenseitigen Bestätigung an Glaubwürdigkeit.

An dieser Stelle könnte gleich von dem Fälscherkreis um den bekannten Abt Tritheim (Tritemius) und Conrad Celtes einiges erzählt werden. Ab 1491 schrieben sie zahlreiche »geschichtliche« Werke, von denen mehrere sofort als Fabrikate von den Zeitgenossen entlarvt wurden, so der »Hunibal« und der »Berosos«; auch die angeblichen Dichtungen von Kaiser Friedrich I wurden als Fälschung erkannt. In ihrem Kreis, meint Kammeier, ist auch Rudolfs Legende des Heiligen Alexander entstanden, die als einzige Stütze für die Tacitus-Rolle herhalten konnte.
Tritemius, eigentlich Johannes Heidenberg (1462 – 1516), war Abt in Würzburg und hat sich um die Förderung der Wissenschaften verdient gemacht, heißt es, aber er nahm in seine geschichtlichen Werke »Märchen und Fälschungen ohne alle Kritik« auf (Meyers Lexikon). Das ist sehr höflich gesagt. Eine berühmt gewordene Vision über das Weltende ist auch darunter.
Celtes ist der uns schon bekannte Humanist und lateinische Dichter Konrad Pickel (1459 – 1508), der sich in der Gunst der Kaiser sonnte und einen enormen Einfluß auf seine Zeitgenossen ausübte, indem er den Sodalenkreis schuf. Er reiste von jung an unermüdlich durch Europa von Würzburg bis Rom und von Krakau und Danzig bis Mainz. Sein Latein wurde vorbildlich für die Renaissance. Ob es diese Sprache in dieser Reinheit je gegeben hatte, ist höchst fragwürdig. Viele »klassische« Oden und Gedichte dürften von ihm geschrieben sein, ohne daß der Nachweis im einzelnen leicht wäre, da er aus Eitelkeit auch eine große Zahl von Versen als seine eigenen vortrug.
Seine zahlreichen Ausgaben klassischer Texte wurden später stark verändert, »verbessert«, denn trotz aller Gelehrsamkeit und Genialität war er eben ein Pionier, der die Richtung angab, aber das Ziel noch nicht erreichte. Seine Straßenkarte des Römischen Reiches, die er dem Geschichtsforscher Konrad Peutinger übergab, wurde aber – wohl da sie zu auffällig hergestellt war – erst zwei Jahrhunderte später (1714) anerkannt und gedruckt als Kopie einer Karte aus dem 3. Jahrhundert, die ein Mönch 1265 in Colmar im Elsaß geschaffen habe. Heute noch wird sie als Peutinger-Tafel (z.B. in der großen Frankenausstellung 1997, siehe Katalog) in diesem Sinn hingestellt.
Nach Hunger (et al, 1961, S.542) zitiere ich noch einen Satz: »Konrad Celtes begann bereits 1497 in Wien mit einer grotesken philogermanischen Geschichtsklitterung, die aus echten Nachrichten, kühner Phantasie und Mißverständnissen zusammengesetzt ist; sein Schüler Aventinus führte sie in der Bayrischen Chronik fort.« Diese hat unser heutiges Slawenbild bestimmt.
Nur dort, wo die Fälschung allzu plump war, hat man sie auch später fallengelassen, sonst aber oft diese »Dokumente« gerne ausgeschlachtet und als Grundlage für Geschichtsdarstellungen verwendet. Ullrich von Huttens Totenklage hat selbst Geschichte gemacht und ist, auf den fabrizierten Tacitus aufbauend, nun nicht mehr aus unserem Geschichtsbild wegzudenken.
Peutinger, dem ehrsamen Augsburger Stadtschreiber, wäre auch noch etwas nachzutragen. Als einer der ersten seiner Zeit sammelte er römische Altertümer in seiner Heimat und sogar auf einer Reise in Italien und brachte die Skulpturen, Münzen und Handschriften in sein Bürgerhaus in Augsburg. In vielbeachteten Aufsätzen teilte er seinen Zeitgenossen die Funde mit. Zu einer angeblich von Apuleius verfaßten medizinischen Abhandlung über die Heilkraft der Pflanzen machte er Anmerkungen, die sein umfangreiches Wissen dokumentieren.
In seinem Besitz fand sich u.a. die Chronik von Otto von Freisingen (mit zahlreichen Randbemerkungen von Peutinger selbst), die Gesta von Kaiser Friedrich I, von Celtes 1507 im Kloster Ebrach »entdeckt«, die er unter dem Namen Gunther Ligurinus veröffentlichte, und die Chronik von Eberhard von Regensburg, alles Texte, die frei erfunden sind und heute kaum noch als echt gelten können, aber soweit in unser Geschichtsbild integriert sind, daß sie echt sein müssen. Er besaß auch Abschriften der Gotengeschichten des Prokop und des Jornandes, der Langobardengeschichte des Warnefried und Paulus Diakonus, der Chroniken von Gregor von Tours und Regino von Prüm, weitere Texte über die Sachsen und Normannen, die alle verdächtig genug sind, um den Besitzer und Verwerter dieser Werke selbst in Verruf zu bringen. Ein Nachfahre Peutingers vermachte alle seine Schätze den Jesuiten, auch die berühmte Münzsammlung mit mehreren tausend Exemplaren, aber die meisten Beweisstücke fehlen seitdem. Angeblich habe Celtes die Handschriften nach Wien gebracht.
Von Interesse wäre auch die Deutschlandkarte des Nikolaus Cusanus, die Peutinger herausgab, sowie ein griechischer Kodex, »Hieroglyphica des Horapollo« (schon der Titel ist verlockend), den er einem Italiener zwecks Drucklegung 1515 in Augsburg übergab.
Einer von Peutingers engsten Vertrauten, der vermutlich viele dieser alten Handschriften herstellte, hieß Johannes Colerus. Mit einem anderen aus dem Kreis, dem schon erwähnten Tritemius, überwarf er sich, weil dessen »Plagiate« gar zu offensichtlich waren. Dabei handelte es sich um das Gegenteil: Man stahl nicht bei antiken Schriftstellern, sondern schob ihnen Texte unter. Im Gegenzug mußte sich Peutinger gefallen lassen, daß man seine und Celtes »Entdeckungen« nicht ernstnahm.
Beim Blick in die Werkstatt der Fälscher sind mir viele Kniffe und Kunstgriffe aufgefallen, ich möchte noch einige erwähnen:
Der oft zitierte Suidas, richtiger die Suda, ein griechisches Lexikon mit literarhistorischen Artikeln, ist heute anerkanntermaßen erst gegen 970 geschrieben worden. Dankbar ist man über »die Fülle der nur hier erhaltenen Nachrichten der Literaturgeschichte«, die jedoch »eilig, ohne Kenntnis und Kritik« zusammengeschrieben sind und »zahlreiche schwere Mängel und Irrtümer« enthalten. Die Suda diente wohl als erstes Inventar für die Erstellung der antiken und der mittelalterlichen Schriften. Wann sie wirklich verfaßt ist, muß offenbleiben. Da sie in späterer Zeit für »echt« im Sinne klassischer Griechenliteratur genommen wurde, ist sie heute ein geschichtliches Dokument der Klassik. Dabei muß sie nicht unbedingt schon unter Konstantin im 10. Jahrhundert verfaßt sein, sie könnte auch von den Flüchtlingen nach 1453 verkauft worden sein.
Dante hatte nur ganz wenige antike lateinische Schriftsteller gekannt, als Dichter kannte er wohl nur Vergil, Ovid, Lukian und Horaz; von Homer wußte er nicht mehr als den Namen. Ein Grieche namens Pilato aus Saloniki (gestorben 1366 in Kalabrien) hatte erstmals eine lateinische Übersetzung der Ilias und von Teilen der Odyssee in Italien verkauft. Boccaccio wertete sie aus, aber nach heutigen Gesichtspunkten waren diese Übersetzungen elendes Stümperwerk.
Jedenfalls kannte man in Europa bis Anfang des 15. Jahrhunderts die griechischen Texte nicht, nur deren Inhalt durch arabische Übersetzungen, die ins Hebräische und Lateinische übertragen wurden. Ein Buch wie das Apotheker-Standardwerk des griechischen Arztes Dioskorides konnte also durch drei Übersetzungsstufen gehen und wurde natürlich dabei reichlich verändert, gekürzt und bereichert. Auch mit Platons Werken ging es uns da nicht besser.
Gerade eine Generation vor dem endgültigen »Verlust« von Byzanz (1453 an die Osmanen) begann das Interesse an originalen griechischen Büchern. Viele hundert Kodizes wurden nach Italien gebracht oder als Abschriften hergestellt. Cosimo de'Medici steckte große Teile des immensen Familienvermögens in den Aufbau einer Bibliothek klassischer Werke, die er von griechischen Flüchtlingen aufkaufte. 1440 eröffnete er eine Schule für neuplatonische Philosophie in Florenz, an der so berühmte Leute wie Marcelo Ficino und Bessarion lehrten. So begann im Abendland die Kenntnis Platons und seiner Nachfolger. Bessarion, orthodoxer Erzbischof von Nicäa, der nach seiner Flucht nach Italien zum Katholizismus übertrat und dort hohe Ämter erhielt, besaß die reichste Handschriftensammlung griechischer Werke, von denen er viele selbst ins Lateinische übersetzte. Dabei ist schwer auszumachen, was von ihm stammt und was auf Vorgänger aus Byzanz oder eventuell auf die Antike zurückgeht. Das Bewußtsein für Autorschaft und copyright war noch nicht vorhanden. Es ging um die Idee, um Philosophie und Theologie. Man verlegte gerne eigene Gedanken in frühere Zeiten, um sie mit Autorität auszustatten. Auch an Ficino, der Platon, Plotin, Jamblichus usw. übersetzte, ist dieser Eifer, Christentum mit hellenischem Geist zu verbinden, auffällig. Der erstmals 1496 in Florenz herausgegebene Lukian von Sarmosata macht einen sehr christlichen Eindruck, es sind 80 Schriften von ihm überliefert, »nicht alle echt«. Am Ende ist eine Quellensichtung praktisch unmöglich.
So wie man sich der antiken Städte als Steinbruch bediente, so benützte man auch die umlaufenden Texte und Fragmente als willkommene Fundgrube, ohne danach zu fragen, wer sie erfunden oder gefunden habe. Zunächst waren bei der spätmittelalterlichen Herstellung einer karolingischen Geschichtsschreibung noch Zeit und Raum völlig unwichtig gewesen. Hrabanus hat in seiner Chronologie ein ganz eigenes Konzept (Lozovsky 1996). Aber mit der Kenntnis und dem entstehenden Grundstock antiker Texte vergrößerte sich der Überblick, wurde glaubwürdiger, »echter«, unkenntlicher.

Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius

Der heute berühmte, aber sonst völlig unbekannte Dichter Apuleius ist uns nur aus seiner eigenen Verteidigungsschrift De Magia (Über Zauberei), einem seltamen Werk, erkennbar. In seinem köstlichen Hauptwerk, Der Goldene Esel, soll auch ein Zug seiner Person durchscheinen, das ist aber eine willkürliche Annahme. Es handelt sich bei diesem Erotikon nämlich um eine orientalisierende Märchensammlung, literarisch gesehen um eine kühne Neuschöpfung. Das apulejische Latein ist laut Britischer Enzyklopädie »seltsam und hat starke altertümelnde Färbung«. Es ist der Versuch, die griechischen Sophisten im Latein heimisch zu machen. Als Vorlage diente vielleicht ein kurzer griechischer Text. Dieses sogenannte »Vorläuferstück« des Lukios von Paträ ist eher eine Parallele, ein parodierender Roman gegen die typischen mittelalterlichen Romane und kann gar nicht älter sein.
Die Textüberlieferung ist wieder typisch für jene Zeit: Das Werk ist in einer einzigen Handschrift (angeblich aus dem 11. Jh.) erhalten, doch diese gehe auf eine Vorlage zurück, die 395 in Rom geschrieben und 397 in Konstantinopel korrigiert worden sei, bevor sie nach Italien zurückkehrte (Brunnhölzl 1971, S. 116). Bis zu ihrer Wiederentdeckung 1480 war diese Perle der Weltliteratur völlig unbekannt. In derselben Handschrift, dem »einzigen Codex«, sind auch die Annalen und Historien des Tacitus enthalten, und zwar nur dort.

Der Goldene Esel könnte nach der Vertreibung aus Byzanz (1453) in Apulien (Süditalien) von einem griechischen Flüchtling geschrieben worden sein. Apuleius sagt, er sei Grieche und habe Latein erst spät und ohne Anleitung gelernt; man möge ihm seine eigenmächtigen Sprachschöpfungen verzeihen. Ein probates Mittel um kritisch denkende Leser abzulenken. – Bei Aelian mit seinen witzigen Pferden liegt das umgekehrte Verhältnis vor: Der Römer schreibt attisches Griechisch von »reinster Form«, die allerdings gar nicht rein ist sondern antiquierend und »schlicht«. Bei ihm ist der Tyrannenhaß genauso ausgeprägt wie bei Apuleius, ein typischer Humanistenzug (älteste Handschrift »13. Jh.«). – Apuleius schrieb also ein eigenwilliges Latein mit vielen Wortneuschöpfungen, eigenem Sprachstil und eigener Novellentechnik. Er hat volkstümliche Motive verarbeitet (das sind nicht völkerkundliche Reminiszenzen sondern folkloristische Elemente, ein völlig neues Ingredienz der Literatur). So hat er sogar ein (afrikanisches) Märchen an zentraler Stelle verwendet, ein in der Antike unbekannter Vorgang. Die Dämonen werden als gute Wesen eingemeindet; insgesamt ist es ein (damals noch) gutgemeinter Versuch, die heidnische Antike, vor allem Platon , zu retten. (Es gibt dann noch »Metamorphosen«, die zunächst anonym in Rom erschienen sein sollen, später aber Apuleius zugeschrieben wurden. Boccaccio kannte sie angeblich und übernahm einzelne Motive direkt in seinen Dekamerone, wenn der Vorgang nicht umgekehrt ablief.) Mehr kennen wir nicht von diesem genialen Mann.

Schon 1480 hat Nikolaus von Wyle den Goldenen Esel ins Deutsche übersetzt. August Rode schuf 1783 eine gelungene Eindeutschung, die 1923 wieder aufgelegt wurde.
Inhaltlich gesehen ist es völlig undenkbar, daß Der Goldene Esel vor dem 15. Jahrhundert schon existierte. Nicht einmal Boccaccio, der 1375 starb, also hundert Jahre vor Poggios »Wiederentdeckung« des Apuleius, hätte dermaßen witzig und mit beißendem Spott schreiben können. Dabei ist die Richtung absolut eindeutig: Es geht gegen Hexen und ihre Künste! Das ist erst etwa ab 1450 nötig, als die ersten Prozesse begannen.
Die Namensanspielungen in diesem Satyrikon sind zahlreich, oft plump, etwa wenn er von Sokrates spricht, oder scheinheilig: Frau Meroe (= Oberägypten). Und die kunterbunte Benützung der alten Mythologie ist typisch synkretistische Manier der Humanisten. Die fantastische Szenerie ist orientalisierend und mutet stellenweise surreal an, nie jedoch metaphysisch, wodurch ein moderner Eindruck entsteht. Möglicherweise hat Rodes Übersetzung Anteil daran, etwa wenn er (XI,8) »Turban« schreibt, was man heute mit »geflochtener Mütze« umständlich wiedergibt (Übersetzung von Haupt). Entsprechend wird die Abendmahlsszene, die mit »Amen« endet (XI,17), heute blumenreich entleert. Dabei ging es dem Byzantiner doch darum, den Italienern das Abendmahl als uralte Institution vorzugaukeln. Dieses ganze Schlußkapitel ist ein Hymnus auf die Kirche, panegyrisch byzantinisch, wie er schöner nicht geschrieben werden kann, dazu archaisierend und ägyptisierend, wie es dem Zeitgeist entsprach. Es spielt auf dem Marsfeld in Rom und ist eine frohe Zukunftsvision für die katholische Kirche, wie sie wohl nur ein Humanist schreiben konnte.

Der Heilige Augustin (angeblich um 400) hielt Apuleius jedoch für einen Zauberer, wodurch vielleicht die Verteidigungsschrift De Magia (Über Zauberei) ausgelöst wurde. Damit erweist sich Augustin als einer der Humanisten, denn außer Augustin erwähnte (vor 1480) niemand je den Goldenen Esel.

Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania

Mein auf dem Hamburger Treffen der Zeitrekonstrukteure im Mai 1996 gehaltener Vortrag »Wer hat eigentlich die Germanen erfunden?« hat überraschend viel Beachtung gefunden. Aber gerade diejenigen, die hellhörig hätten werden sollen, sprinten in die andere Richtung. Die Wochenzeitschrift Der Spiegel (Nr.44, 28. Okt. 1996) brachte Titelbild und zwölfseitige Story mit den neuesten Erkenntnissen über »Die Germanen – unsere barbarischen Vorfahren«, ohne den geringsten Hinweis darauf, daß man die lateinischen Texte eigentlich erst einmal auf ihre Entstehungszeit und -absicht prüfen müßte, bevor man sie als Beweis zitiert für die im Geist des Tacitus rekonstruierten archäologischen Funde.
In diesem Vortrag (gedruckt im Juni 1996) unternahm ich den Versuch nachzuweisen, daß die »kleineren Schriften« des Tacitus (= der Schweigsame), darunter die Germania, eine Fälschung im Auftrag von Papst Pius II zwischen 1430 und 1470 sind. Vor 1420 taucht nicht die geringste Bemerkung über derartige Texte auf. Nikolaus Cusanus war an der Transaktion der Tacitus-Handschrift von Hessen nach Rom beteiligt (Pralle, S. 70 ff). Sein Desinteresse an den Texten spricht übrigens für deren Wertlosigkeit, mehr noch: Es läßt vermuten, daß er über die Fälschung im Bilde war. Eine kurze Notiz über diesen wichtigen Humanisten sei hier eingeschoben:
Nikolaus Cusanus (aus dem Moseldorf Kues) ist einer der größten seiner Zeit gewesen, mit vielen Gedankenbildern in vorderster Reihe. Im gewissen Sinne verkörpert er den Prototyp des nordischen Humanisten, der neue Anstöße gibt, etwa mit seinem Kosmos-Modell, das für Kopernikus, Galilei und Bruno wegweisend war. Aber dieser Teil seiner Schriften ist wohl von Laien nicht viel gelesen (oder verstanden) worden, sonst hätte es nicht so lange gedauert, bis man seine mathematisch klaren Gedanken weiterführte.
Seine Siebung des Korans ist ein Meisterwerk europäischer Apologetik gegen den Orient. Der wohlwollende Ton seiner Kampfschrift – wohlwollend, weil man sich ja auf gemeinsamem Gelände befindet, nämlich der Schöpfung von nie geschehener Geschichte – erinnert mich an die theologischen Untersuchungen des Islam durch jüdische und protestantische Gelehrte des 19. Jahrhunderts.
Beachtenswert ist seine Kalenderverbesserung (Reparatio kalendarii, 1436), die 150 Jahre vor Papst Gregors Korrektur liegt. Leider ist sie im Druck noch nicht allgemein greifbar, sie müßte als 4. Text seiner Werke in Band X, II, 4 erscheinen. Er schrieb sie im Jahr vor dem Basler Konzil, wo er umschwenkte auf die Kurie. Interessanterweise wendet er sich dabei gegen die Heiden, denen die Ungewißheit der Kirche über die Chronologie als Angriffspunkt willkommen war. Damit ist der wichtigste Punkt angesprochen: Die »Anderen« wußten genau, wie schwach das kirchliche Zeitkonstrukt dastand, sie hätten es jederzeit stürzen können. Cusanus will dem zuvorkommen und drängt den Papst, Kalender und Zeitgerüst zu reformieren. Aber erst eine Generation später folgt Regiomontanus den Anregungen und entwickelt eine astronomische Grundlage für die Kalenderkorrektur.
Und nun über eine seiner Machenschaften, die bis heute Auswirkungen haben, die Germania. Dieses angebliche Werk des Römers Tacitus, »das eine gütige Fee unserem Volke als Patengeschenk in die Wiege seiner vaterländischen Geschichte gelegt hat – kein Volk darf sich eines gleichen Kleinods rühmen –, übt auf jede Generation seine Anziehungskraft mit unverminderter Stärke aus«, schreibt der herausragende Philologe Eduard Norden in seiner Germanischen Urgeschichte (1920, S.5) und wird auch neuerdings im selben Sinne fast wörtlich wiedergegeben (Fischer-Fabian 1975, S.204).
Wie in manchen anderen Wissenschaftsbereichen gibt es auch hier eine zweite Linie, die jahrhundertelang neben der offiziellen Richtung herläuft und nie ganz verstummt ist. Diese Gegenströmung will nicht glauben, daß die Germania von Tacitus stammt und auch nicht, daß sie unserem Volk als Geschenk in die Wiege gelegt wurde, sondern durch einen katholischen Mönch im Auftrag der Kurie als Propagandaschrift im 15. Jahrhundert geschaffen wurde. Sie diente als Waffe der Päpste im Kampf gegen die deutschen Kaiser.
Zwar wird heute gern behauptet (Fischer-Fabian S. 209), dieses Werk des Tacitus sei schon damals (ab 98 u.Ztr.) zu einem vielgelesenen Bestseller geworden, der die verfallende Moral der Römer auffrischen sollte mit dem Beispiel der tugendhaften Germanen, aber bei genauerer Nachforschung muß man feststellen, daß »Tacitus im Altertum wenig gewürdigt und wenig gelesen worden« ist; »wer von Cicero und Livius kommt, empfindet einen ungeheuren Abstand: die Sprache mutet seltsam an; sie bietet im Gegensatz zur klassischen Prosa Schwierigkeiten über Schwierigkeiten.« (Arno Mauersberger 1980, S.17).
Oder so: »Cornelius Tacitus ist der erste Prosaiker der trajanischen Zeit; in ihm findet Roms höhere Geschichtsschreibung ihren glänzenden Kulminationspunkt und ihren Abschluß zugleich« (Oberbreyer 1910, S.4). Also Auftakt und Höhepunkt und Abschluß in einem, mit ganz eigenem Sprachstil.
Es muß noch einmal wiederholt werden: Vor dem Beginn der »Wiederentdeckungs«-Aktion (die Pralle schon im Titel nennt) durch Poggio ab 1427 gibt es nur einen einzigen Hinweis auf den Germania-Text, und zwar bei einem Mönch desselben Klosters, in dem die »kleineren Schriften« des Tacitus später gefälscht wurden, bei Rudolf von Fulda (Jahrbücher, 2. Teil, zum Jahr 852), sowie in seiner Schilderung der Überführung der Gebeine des heiligen Alexander nach Wildeshausen (vollendet von Meginhart, siehe Pralle S. 46), wo einige Notizen aus der Germania den Sachsen zugeteilt werden. Ob dieser Schüler des berühmten Hrabanus eine eigene Quelle verwendete, die später im Tacitus verarbeitet wurde, oder ob auch Rudolfs Heiligenlegende erst im 15. Jh. geschrieben wurde, (wie Kammeier vorschlägt), ist meines Erachtens unwichtig. Und ob Fulda oder Hersfeld die Schreibstube der Fälscher war, hat nur für Lokalpatrioten Bedeutung. Die Hessen (»Chatten«) kommen jedenfalls sehr viel besser bei der Beurteilung weg als die übrigen germanischen Barbaren. Ihre Selbständigkeit wird durch Tacitus besonders hervorgehoben.

Auch das entsprechende Gegenstück des Tacitus für England, der Agricola, wirft so viele Fragen auf, daß nicht nur der berühmte Schwiegervater, sondern Tacitus selbst als historische Person in Frage gestellt werden muß. Seine Annalen haben keine bessere Überlieferungsgeschichte als die »kleineren Schriften«, denn Monte Cassino, wo Boccaccio 1370 die einzige Handschrift fand, war der andere der beiden berühmten Fälscherorte der Humanisten, mit seiner eigenen »benaventanischen« Minuskel (Brunhölzl, 111 ff), und stand in losem Austausch mit Fulda. Man hatte sich dummerweise nicht auf den Namen des Autors geeinigt, neben Gaius taucht Publius Cornelius auf, und Tacitus ist erst Zusatz eines Humanisten im 15. Jh. Die Zusammenfügung der Annalen mit den Historien erfolgte bei der Drucklegung 1515 (Brunhölzl, 140).
Die These des leider heute vergessenen Basler Professors Robert Baldauf (veröffentlicht 1902 in der dortigen Universitätsdruckerei) ist klar durchdacht und gründet sich auf einen enormen Leseumfang und Sprachkenntnisse, die uns heute leider fehlen. Ich fasse kurz zusammen: Der ungemein gebildete Papstsekretär Poggio Bracciolini (1380-1459) reiste viel in Europa umher und stöberte überall große Mengen alter Manuskripte auf, die vor allem in deutschen Klöstern im Keller lagen. Als er auf dem Konzil zu Konstanz (1414-18) die Bibliotheken von St. Gallen, Weingarten, Einsiedeln und der Reichenau heimsuchte, machte er reiche Beute. Die nächsten vier Jahre verbrachte er in England, wo er ebenfalls fündig wurde (deshalb ist der Agricola direkt neben der Germania angeordnet). Einem Mönch im hessischen Kloster Hersfeld gab er eine Wunschliste, man könnte auch Bestellschein sagen, auf dem sich unter anderen Namen der des Tacitus befand. Nach einigen Jahren war der Pergament-Kodex mit drei Büchern des Tacitus, »kleinere Schriften« genannt (gegenüber den Annalen und Historien), fertig und wurde durch Nikolaus Cusanus nach Rom verkauft. Es vergingen allerdings viele Jahre, denn erst etwa 1455 tauchten die Schriften in Rom auf. Damals gab es nämlich viele Bücherjäger, und einer schaute dem andern auf die Finger. Vorsicht und Geduld gehörten zum Geschäft. Über die langwierigen Verhandlungen zwischen dem deutschen Kloster und dem Vatikan gibt es einen ausreichenden Briefwechsel und andere Dokumente, die Pralle veröffentlicht hat.
Die unschätzbar kostbare Pergamentrolle ging schon 1460 in Italien spurlos verloren. Zum Glück hatte man noch schnell drei Abschriften angelegt, die aber ebenso schnell wieder verschwanden. Und von diesen gab es ebenfalls Abschriften, die nun gar nicht mehr miteinander übereinstimmten; nicht einmal ihre »Abhängigkeit« (ein beliebtes Puzzle-Spiel der Handschriftenforscher) war mehr zu klären. Man hatte also ganze Arbeit geleistet. Durch das (angebliche) mehrmalige Abschreiben mit den Varianten und Fehlern ist die Spur verwischt und das hohe Alter und die lange Tradition glaubhaft gemacht. Dieser 1470 in Venedig gedruckte Text der Germania war bis 1902 (also auch für Baldauf) die Grundlage aller Diskussionen zum Thema.
Auch die Rezeptionsgeschichte enthält Tücken. 1473 druckte man das Werk in Nürnberg ein zweites Mal, aber niemand beachtete es. Enea Silvio de'Piccolomini hatte angeblich dazu einen Kommentar verfaßt, als er als Pius II im Jahre 1458 den Papststuhl bestieg. Aber erst 32 Jahre nach seinem Tod wurde der Text in Leipzig 1496 gedruckt und brachte den beabsichtigten Erfolg. Der Elsässer Wimpfeling benützte diesen Druck ab 1501 oder 1505, um im Elsaß das Deutschtum zu predigen. Ein Badenser und ein weiterer Elsässer bedienten sich des Textes zu ähnlichen Zwecken 1518 und 1519. Der erste deutsche Kommentar stammt von Ullrich von Hutten (1502), dessen pathetisches Totengespräch nach griechischem Vorbild den vermeintlichen Helden Arminius unter dem neuen Schlagwort Freyheit gegen Rom ausspielte.
Aus allem diesem könnte man meinen, der Schuß des Papstes sei nach hinten losgegangen.
Er hat aber doch genau das bewirkt, was beabsichtigt war: Die »Germanen« erlagen dem Charme des Tacitus, sie identifizierten sich im Laufe der Zeit immer mehr mit dieser Erfindung, wie das obige Zitat vom »Wiegengeschenk der gütigen Fee« überdeutlich zeigt.
Über das Motiv für die Fälschung der Humanisten wäre noch mancher Gedanke auszusprechen. Das Gebiet der Tungerer, das die Keimzelle Germaniens gewesen sei, liegt westlich des Rheins. Die in der klerikalen Fälschung angestrebte Tendenz wird dadurch noch offensichtlicher: Früher gehörten die Tungri zu den Germanen, steht in Tacitus, Kap. 2, heute sind sie (keltische) Tungri (da diesseits des Rheins lebend). Niemand würde sagen wollen, es habe keine germanischen Stämme westlich des Rheins gegeben, sondern: Papst Pius II legte Wert darauf, daß der Rhein zu ihrer Westgrenze werden solle.
Im übrigen ist das Geplänkel um Maas oder Rhein in diesem Zusammenhang Haarspalterei. Es ging um die historiographische Schaffung eines »germanischen« Raumes und Volkes zwischen Rhein und Don, denn eine andersgeartete – damals durchaus befürchtete – Schöpfung hätte vom Atlantik bis Prag reichen können und das französische Zwischengebiet, die Wiege der katholischen Kirche und ihre stärkste Bastion, einfach erdrückt.
Der Widerstand der Magna Germania gegen Rom, der das Hauptthema der Germania ist, hatte auch ökologische Gründe. Der Limes verläuft fast so wie die Nordostgrenze des wirtschaftlich noch sinnvollen Weinanbaus, die undurchdringlichen Wälder sind gewiß keine Erfindung. Daraus zu schließen, daß die Menschen hinter diesem lateinischen Vorhang eine ethnische Einheit gebildet haben könnten, ist reines Wunschdenken. Die Betonung der Besonderheit eines deutschen Volkes, das als Vorlage für die Germania gedient haben müßte, bringt uns ins Hochmittelalter und könnte wiederum auf politische Propaganda der Kurie hinweisen. Zeitweise wurde der Limes zur Grenze zwischen Reformation und römischer Kirche. Man könnte an Gebietsabsprachen denken, die durch den Germania-Text vorgeprägt wurden.
Der schon zitierte Wissenschaftler Mauersberger, der leider nicht ahnt, wie klar er den Sachverhalt darstellt, schreibt über den Beweggrund zur Abfassung der Germania (S. 18), den Schlüssel zum Verständnis des Werkes bilde der Satz: »Möge doch – so kann man nur wünschen – den fremden Völkern, wenn sie uns schon nicht lieben können, wenigstens der Haß untereinander auf die Dauer erhalten bleiben, da uns in diesen für das Reich schicksalsschweren Zeiten kein größeres Glück beschieden sein kann als die Zwietracht unserer Feinde. (G. 33).«
Oder kürzer gesagt: Italien profitiert von Deutschlands Streitigkeiten.

Gegen den Fälschungsvorwurf hat man zahlreiche Gegenbeweise vorgebracht. Da ist die suebische Haartracht beschrieben, der seitlich getragene Knoten, den wir heute durch Moorfunde bestätigt bekommen. Aber: Auf römischen Steinreliefs sieht man öfters Sueben mit diesem Knoten, das könnte einem Römer auch 1420 noch bekannt gewesen sein.
Oder man führt den Angrivarier-Wall an, der erst Anfang unseres Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. Nun: einen 10 m breiten und mehrere Meter hohen Erdwall mit Palisadenzaun kann man kaum verstecken. Auch die Bootsform oder der Nerthus-Wagen, die Tacitus so treffend beschreibt, könnten einem Norddeutschen des 15. Jahrhunderts noch bekannt gewesen sein, und die eisernen Speerspitzen, über deren genaue Beschreibung sich heutige Archäologen wundern, kannte ein hessischer Mönch damals vermutlich noch aus eigener Anschauung.
So ist Fischer-Fabians Behauptung (S.217), das Buch sei von »völkerkundlichen Wandermotiven geradezu übersät« und aus »Abfällen antiker Geschichtsschreibung zusammengestoppelt« durchaus korrekt, nur weiß der Autor nicht, wie recht er hat.
Da wird zum Beispiel durch Tacitus ganz umständlich ein Gebräu beschrieben, das sich als simples Bier entpuppt. Ob der Mönch in Hessen dachte, es hätte keins gegeben im antiken Rom? Da irrte er gewaltig.
Aber angesichts der zahlreichen Widersprüche im Werk selbst – wilde Barbaren, die dennoch in Städten leben und Schrift haben, – oder der gegenteiligen archäologischen Funde, z.B. der hervorragenden Stahlschwerter der Hyrkanier, mutet die Germania auch inhaltlich wie eine plumpe Fälschung an.
Im selben Jahr 1902, als Baldauf seine schockierende Anschuldigung vorgelegt hatte, und pünktlich zur 400-Jahrfeier des ersten deutschen Kommentars, wurden auf Schloß Ancona, wo Papst Pius II gestorben war, acht pergamentene Blätter gefunden, die zu einer Tacitus-Abschrift aus dem 9. Jahrhundert gehören sollten. Sie konnten ebensowenig beweisen wie der gleichzeitig gefundene Tonziegel mit den Worten »CIS RHENUM« (diesseits des Rheins), der einen strittigen Ausdruck in der Germania stützen sollte und doch sofort als Fälschung ausschied (Koestermann 1970).

Die sprachlichen Ungereimtheiten sind ja vielen Forschern aufgefallen. Da gibt es gar zu viele Ausdrücke, die in klassischem Latein nicht möglich sind, auch daß die Sprachform italienisch anmutet, wurde gesagt. Über einige Wörter wird seit vier Jahrhunderten erfolglos unter den Gelehrten gestritten., wie z.B. über die »Decumates agri«, die schon Andreas Althamer 1536 für unmöglich hielt und denen Eduard Norden noch 1934 mehr als 50 Seiten widmete, ohne mehr herauszubekommen, als daß es nicht Latein ist, sondern ein gallo-römisches Wort sein könnte. Was immer das sein mag.
Kammeier widmet dem Thema ein kleines Kapitel unter der Überschrift »Die Verfälschung der Germania des Tacitus« (1935, IV, 3), denn er glaubte, daß nur Teile des Werkes gefälscht seien (er kannte Baldauf offensichtlich nicht). Kammeier fiel auf, daß in den wichtigen römischen Werken über die Germanen, nämlich in denen des Plinius und des Livius, gerade die Texte über die Germanen fehlen, und im Tacitus wohl völlig entstellt auftauchen. Hinter den widersprüchlichen Nachrichten bei Tacitus verberge sich die Absicht der Fälscher, sich nicht festzulegen (eine Technik, die auch in der Abfassung der Heiligen Schrift auffällt). So kommt der einzige germanische Göttername, der von Interesse ist, Tuiston, in den Abschriften in fünferlei Schreibweise vor. Und der lateinische Stil, schreibt Kammeier, gleiche ganz auffällig dem des Sallust, bis hin zur Wortwahl.
Wie dann im Laufe der nächsten Jahrhunderte aus dem geographischen Begriff Germania der übergeordnete Volksbegriff Germanen geworden ist, der das bis dahin übliche Wort »Kelten« ersetzte, kann bei mehreren modernen Wissenschaftlern nachgelesen werden (Radlof, See, Poliakov, Kuhn u.v.a.). Wir wenden uns nun einem anderen Typ von Fälschung zu.
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser

Fürstenspiegel wurden von Herrschern als Testament für ihre Nachfolger, also meist ihre Söhne, geschrieben. Das bekannteste Vorbild der Renaissance wurde der Fürstenspiegel von Petrarca. An byzantinischen und persischen Höfen gab es sie schon ab dem 10./11. Jahrhundert. Sie hatten nicht nur erzieherische Wirkung auf den jeweiligen Thronfolger, sondern auch einen allgemeinen Sittenmaßstab für die Adligen und Gebildeten zum Ziel. So sind sie einerseits idealisierend, andererseits Abbild ihrer Zeit. Wenn ein Fürstenspiegel absichtlich in frühere Epochen zurückprojiziert wurde, dann geschah dies ebenfalls aus leicht verständlichen erzieherischen Gründen: Das Vorbild der Ahnen, das der jetzigen Generation wie ein Spiegel vorgehalten wird, hat stärkere Wirkung als der erhobene Zeigefinger des Herrn Papa, auch wenn er ein regierender Fürst ist. An Lebenden sieht man die Schwächen allzu scharf, nur Tote glänzen im Strahlenkranz der Unberührbarkeit.
Der wohl berühmteste Fürstenspiegel aller Zeiten ist eine solche Rückprojektion: Reloj de príncipes (Sonnenuhr der Fürsten) von dem Geistlichen Antonio de Guevara, geschrieben 1518 bis 24 für den seinerzeit mächtigsten Mann der Menschheit, Kaiser Karl V, in dessen Reich die Sonne nicht unterging. Diese »größte literarische Fiktion der Geschichte« ist eine Art Schlüsselroman mit biographischen Einzelheiten aus dem Leben des Kaisers. Er wurde sogleich in sämtliche europäischen Sprachen übersetzt und überflügelte an Auflagenziffern alles bisher Dagewesene; man nennt das Buch den »Bestseller der Renaissance«.
Antonio de Guevara (1480-1545), der Autor, kam schon mit zwölf Jahren an den Hof der Katholischen Könige (Isabel und Ferdinand von Kastilien), als gerade die letzte islamische Bastion Spaniens fiel und Kolumbus in Amerika landete; weitere zwölf Jahre später wurde er Franziskanermönch. 1521 berief ihn Kaiser Karl V als Prediger an seinen Hof, wo er ab 1527 als offizieller Chronist tätig war. Karl, ein pedantisch ehrlicher und sehr frommer Mensch, unterhielt sich gerne mit dem geistsprühenden Mann und nahm ihn auf allen seinen Reisen quer durch Europa mit; sogar 1535 auf der Expedition nach Tunis war Guevara dabei. 18 Jahre lang war er Berater von Kaiser Karl V, wurde auch als Diplomat mit verschiedenen Missionen beauftragt, war Inquisitor und Friedensstifter, taufte eigenhändig 27000 Moslems in Andalusien, richtete eine Druckerei ein, versorgte Krankenhäuser und Schulen und war vor allem ein begnadeter Schriftsteller, der die moderne Gestalt des Romans ins Leben rief. 1538, also ein Jahrzehnt nach Erscheinen des »Fürstenspiegels«, legte er sein Amt am Hofe nieder.
Guevara war einer der wichtigsten Männer seiner Zeit, er bekleidete zwei Bistümer und galt den Humanisten als großes Vorbild. Kaiser Karl hatte als erster die Originalhandschrift des Romans zu lesen bekommen, und erst nachdem er sie abgesegnet hatte, gab Guevara sie heraus. Dies alles spricht deutlich dafür, daß die Fiktion im besten Sinne aufgenommen worden war und als Leitbild der Öffentlichkeit übergeben werden konnte.
Allerdings: das Buch ist reine Fiktion! Die zahlreichen »Zitate« griechischer und lateinischer Schriftsteller, stets volkstümlich und witzig, sind durchweg erfunden, meist voller Ironie. Viele Autoren, die zitiert werden, haben nie gelebt, und Bücher, die bekannten klassischen Autoren untergeschoben werden, gab es nie. Sitten und Bräuche werden der Antike angeheftet, es sind pure Fantasien. Das alles ist farbenprächtig und amüsant, auch frivol-erotisch und spaßig, und wurde mit großer Begeisterung vom Publikum, von regierenden Fürsten bis zu Klosterschülern, verschlungen.
Guevara hatte seinen Roman »Das Goldene Buch von Marcus Aurelius Severus« genannt. Es muß wohl in der Suida, jenem bruchstückhaften Lexikon aus dem Byzanz des späten 10. Jahrhunderts, eine Notiz über diesen römischen Kaiser und eine von ihm verfaßte Autobiographie gestanden haben, auch Briefe sollte es von diesem Mitregenten Antonins gegeben haben. Guevara machte sich diese Erwartungen zunutze und schrieb, was nicht mehr vorhanden war. Er tat es ganz im Stil seiner humanistischen Zeitgenossen, nur eben ehrlicher erfunden, durchsichtiger, humorvoller. So verfaßte er auch die Familienbriefe dieses Kaisers (in zwei Bänden, 1539 und 1542 erschienen), die ebenfalls ein Riesenerfolg wurden und in ganz Europa kursierten. Sie waren stilistisch an Cicero orientiert und an berühmte Personen gerichtet, die längst tot waren, voller unmöglicher Ereignisse und Zeitangaben. Da der Autor mit einer Notiz, er habe das Manuskript des Kaisers Marc Aurel nach jahrelangen Suchen in ganz Europa endlich in der Bibliothek des Cosme de Medici in Florenz gefunden, Echtheit vorspiegelte, beschimpfte man ihn aus gewissen Kreisen auch als Lügner und Fälscher, was er aalglatt an sich abgleiten ließ. Er hatte sogar Grabinschriften und andere Dokumente vorgetäuscht, weil es ihm so einfiel.
Desgleichen begann man seine anderen Bücher, zum Beispiel die Kunst des Navigierens, oder die Dekade der Cäsaren, die zunächst als historische Abhandlungen gegolten hatten, nun als pseudohistorisch und erlogen zu bezeichnen. Der Humanist Pedro de Rhua verlangte 1540 in drei Briefen kategorisch, daß bei derartigen Abhandlungen absolute Ehrlichkeit vorherrschen solle, aber Guevara antwortete ihm verächtlich ironisch. Er schrieb, er habe nicht entfernt daran gedacht, daß man seine Dichtung ernstnehmen würde, denn er glaube ohnehin nur an die Bibel, weshalb er es sich erlauben könne, Geschichte schöner und anders zu erfinden, als sie in den Büchern stände.
Da es ein großer Genuß war, diesen Roman zu lesen, hielt man den Dichter für einen außergewöhnlich klugen Kopf, und nur Sauertöpfe nahmen Anstoß daran. Die Wirkung dieser erfrischenden Science-fiction war dermaßen gut, daß sie zum festen Bestand der europäischen Dichtung wurde.
1539 schrieb Guevara ein an Horaz orientiertes Buch Verachtung des Hofes und Lob des einfachen Landlebens, in dem er Rache für 48 Jahre höfischen Lebenszwanges nahm, aber auch dieses Buch war nicht ernst gemeint, sondern ein mit brillianter Rhetorik als reine Literatur abgefaßter Spaß.
Im Urteil der Nachgeborenen bekommt Guevara höchste Ehren (ich zitiere aus einem spanischen Lexikon): »Er war ein genialer Schriftsteller, der die kolossalste und gelehrteste Parodie des Humanismus schuf, wobei er sich in fähigster Weise der Volkssprache bediente (die Humanisten schrieben ja alle Latein!) und diese ungemein bereicherte. Nie mehr nach ihm wurde ein ganzes Zeitalter dermaßen intelligent und gebildet durch den Kakao gezogen. Da er einen der verantwortungsreichsten Posten im Weltreich Karls V innehatte, konnte er sich das erlauben, und Karl selbst unterstützte ihn darin.«

Vor wenigen Jahren (Spanien 1994) hat der Franziskanermönch Emilio Blanco den Fürstenspiegel Guevaras mit umfangreichen Anmerkungen und einer kommentierenden Einführung neu herausgegeben, basierend auf der dritten Ausgabe dieses Werkes, der von Sevilla 1531, unter Berücksichtigung der beiden früheren Auflagen (Valladolid und Lissabon, beide 1529). An Hand dieser vorbildlichen Arbeit möchte ich noch einige Punkte hervorheben.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, ist zunächst der Werdegang dieses epochemachenden »Geschichtswerkes« zu skizzieren. Es gab eine erste Gestalt schon ab 1525. Sie kursierte unter dem Titel Goldenes Buch des Marcus Aurelius am Hofe Karl V., wurde aber erst 1528 gedruckt. Inzwischen entstand sein zweites Buch dieses Themas, das als Fürstenspiegel oder einfach »Marc Aurel« (Marco Aurelio con el Relox de Príncipes) bekannt wurde. Die beiden Fassungen haben nur wenige Kapitel gemeinsam, das zweite Buch ist weit mehr als nur eine erweiterte Neufassung. Es ist in seiner ganzen Anlage ein neues Buch. Nur von diesem zweiten Werk ist im folgenden die Rede.
Obgleich der Franziskanermönch Emilio Blanco als Kommentator von Guevaras Buch wohl zur Zeit (1994) den besten Einblick in dieses aussergewöhnliche Werk hat, fragt er sich doch immer wieder, ob die eine oder andere Mitteilung historischen Wert habe oder von Guevara erfunden sei. (Ich wähle willkürlich einige Beispiele aus): Die Gesetze des griechischen Tyrannen Periandros, die nirgendwo sonst erwähnt werden, »sind verdächtig, von Guevara für diesen Zweck erfunden zu sein, denn was Laertius schreibt, ist die grundlegende Quelle für diesen Tyrannen, der seine Frau tötete aufgrund einer Verleumdung durch seine Nebenfrauen, wie Marcus Aurelius in seinem Brief an Libia im Goldenen Buch erwähnt.« (S. 313, Anm. c) Das hört sich wissenschaftlich an, ist aber nur ein in sich geschlossener Kreis, denn die Erwähnung des Periandros und seines Gattenmordes im Goldenen Buch Marc Aurels stammt ebenfalls von Guevara, wie Blanco nur zu gut weiss, hier aber nicht in Betracht zieht. Er stützt also eine ausgedachte Aussage mit einer entsprechenden anderen. Und die vermeintliche Grundlage, Laertius, die Blanco als Leitschnur anlegt, ist ja vermutlich ebenso erfunden.
Hinsichtlich des Tyrannen Periandros hat Guevara ohnehin keine Chance, als Chronist durchzukommen, da er diesen angeblich griechischen Herrscher von Korinth irrtümlich nach Syrien verlegt, was Blanco natürlich sofort als Fehler ankreidet (S. 315, Anm. a). Da Guevara in diesem Zusammenhang (I, xi) eine Synchronizität verschiedener orientalischer Herrscher vorstellt, die absolut lächerlich ist, stellt Blanco fest: »Das gibt uns eine Vorstellung von dem Wert, den wir den Chronologien des Franziskaners (das ist Guevara) zumessen können, auch wenn sie noch so gut klingen und äusserst schwierig nur verifizierbar sind.«
Die häufigste Wendung, die der Kommentator Blanco in seinen Anmerkungen in Bezug auf die Echtheit der historischen Mitteilungen Guevaras bringt, ist von folgender Art: »Diesen Satz (oder Inhalt) konnte ich weder bei (folgt die entsprechende klassische Quelle) noch dessen Kommentatoren finden. Es ist wahrscheinlich, dass Guevara ihn erfunden hat.«
Zu einem erstaunlich grossen Teil findet Blanco jedoch »klassische« Vorlagen, und diese dürften auch uns interessieren. Zunächst einmal ist dem gelehrten Franziskaner Blanco klar, dass sein berühmter Vorgänger im Orden, Bruder Antonio de Guevara, sich die Techniken der spätmittelalterlichen Romanschriftsteller zu eigen gemacht und weiter entwickelt hat, vor allem die Form des Briefes und der Rede, die natürlich – darüber bestand für seine Zuhörer oder Leser kein Zweifel – vom Autor erfunden wurden. Sowohl die als klassisch ausgegebenen Briefe als auch die angeblichen Reden, die den Berühmtheiten (Kaisern, Philosophen usw.) in den Mund gelegt wurden, waren für den Augenblick geschrieben und bezogen sich auf zeitgenössische Fragen und Ereignisse der Renaissance. Hinzu kamen Inschriften auf Grabsteinen oder Triumphbögen und Medaillen, die unter Vortäuschung archäologischer Merkmale als echt vorgestellt wurden. Und schliesslich wurde der Text selbst in dieser Weise präsentiert: Er wurde zu allermeist als Wiederauffindung eines antiken Manuskriptes ausgegeben, das nur »übersetzt« oder bereinigt worden war. So auch dieses geniale Werk, das Guevara angeblich nach langem Suchen in einer Bibliothek gefunden habe.
Eigentlich war sich kein Zeitgenosse darüber im Unklaren, dass es sich hier um das bei Schriftstellern übliche Vorgehen handelt, das in keiner Weise wörtlich zu nehmen war. Die berühmten Anschuldigungen Pedro de Rhuas gegen Guevara sind deswegen auch eher inhaltlicher Art, vor allem in dogmatischer Hinsicht, da sich das Dogma gerade in jener Zeit mit rasender Geschwindigkeit wandelte und schon wenige Jahre nach Erscheinen von Guevaras Buch diese Berichtigungen nötig machte. Ausserdem begann man gerade zu diesem Zeitpunkt die »Wiederentdeckungen« antiker Abschriften für bare Münze zu nehmen und eine ernsthafte Geschichtsrekonstruktion zu entwickeln. Da mußte ein hartes Wort gegen Guevaras allzu beliebte und längst als Faktensammlung eingereihte Schrift gesprochen werden, eine undankbare Aufgabe, die dem gelehrten Pedro de Rhua zufiel. Mit drei Briefen (1549 in Burgos gedruckt) entledigte er sich dieser Aufgabe.

Nun aber zu den tatsächlichen Quellen, die Guevara benützt haben will.
Die wichtigsten Zitate, sagt Blanco (S. XLVI), stammen aus Platon, Aristoteles und Seneca. Platon kannte er entweder aus der lateinischen Ausgabe von Ficino oder aus einem »Flickentext« (centon), also einer Zitatsammlung von Platons Werken, somit also nur in Auszügen. Das letztere scheint mir wahrscheinlicher, da Guevara seine Zitate zuweilen in ganz anderer Weise anbringt, als wir sie heute bei Platon verstehen würden; das weist darauf hin, daß die Zitate aus dem Zusammenhang gerissen sind, was durch diese »Flickenteppiche« bedingt ist. Allerdings stammt nur ein Viertel der Texte, die Guevara dem Platon unterschiebt, nach heutigem Verständnis aus Platons Werken. Drei Viertel sind demnach erfunden.
Die zweite Quelle ist Aristoteles; der war zwar im Hochmittelalter recht verbreitet, dennoch gelingt es Guevara, ihm völlig fremde Sätze und Gedanken unterzuschieben, ja neue »Werke« dieses berühmten Philosophen zu »entdecken«. Da die Humanisten zu Guevaras Zeit ohnehin dem Aristoteles (als Vorbild der Scholastiker) abhold waren, ist dieser Vorgang durchsichtig und seinerzeit gebilligt worden, sagt Blanco (S. XLVII).
Und was Seneca anbetrifft, so sind »praktisch alle Zitate reine Erfindungen«, wie Blanco mit guten Literaturnachweisen sagt (ebenda). Nur vier Zitate stammen tatsächlich aus der Feder des berühmten Cordobensers. Die stoische Schule hat Guevara allerdings gut verarbeitet, was dem Zeitgeist bestens entsprach.
Das einzige klassische Buch, aus dem alle Zitate korrekt übernommen sind, ist die Naturgeschichte des Plinius; auch die Zitate aus Strabons Geographie sind – nach der lateinischen Version – wiedererkennbar. Daneben sind die berühmten Kaiserbiographen wie Suetonius, Sallust und Titus Livius mit grosser Sachkenntnis ausgeschlachtet, oft aber ergänzt durch neue Themen und Anekdoten. Auch die Auswertung der Kirchenschriftsteller, besonders des Augustin, Euseb, Paulus Diakonus, usw. sowie einiger früher Humanisten wie Flavio Biondo und Sabellico gibt diesem Fürstenspiegel den Anstrich von Geschichtlichkeit.
Den Griechen Plutarch kennt Guevara nur aus den politischen Schriften des Francesco Patrizi (1494 und 1519), und den Laertius benützt er nach der Zusammenfassung eines Franziskanermönchs, Walter Burley, den er jedoch nie mit Namen nennt. Ein beträchtlicher Anteil aller Informationen stammt aus Boccaccios Werken.
Aus dieser kurzen Skizze lässt sich schon das Wesentliche der Quellenverwendung von Guevara herauslesen: Ein bedeutender Anteil der Zitate ist eigene Erfindung und als solche sofort erkennbar; ein weiterer Teil stammt aus zweifelhaften Quellen, Zusammenfassungen, Zitatsammlungen und dergleichen und müsste nach strengen Maßstäben ebenfalls als unzuverlässig ausgeschieden werden. Und ein kleiner Rest bezieht sich auf Kirchenschriftsteller, besonders Augustin und Euseb, die meines Erachtens in eben jener Zeit erst geschrieben wurden und durch Guevara eine weitere Echtheitsweihe erhalten, ohne ihrer würdig zu sein.
Dies zeigt sich unter anderem an der Götterliste (I. Buch, Kap. xi und xii), die teilweise mit der von Augustin (in: De civitate Dei, IV) übereinstimmt und eine Vielzahl von Göttern bringt, die in der Antike unbekannt waren, aber dem Geschmack der Renaissance entsprechen, da sie verbildlichte Begriffe sind wie z. B. ein Deus mentalis, »Gott des Gehirns«. Es scheint, daß Flavio Biondo in seiner Schrift Roma triumphante den Grundstock dazu gelegt hatte.
Veränderung und Erfindung der zitierten Quellen, sagt Blanco (S. XLIX), sind grundlegende Stilmittel von Guevaras literarischem Schaffen und wurden zu seiner Zeit auch in dieser Weise aufgenommen. Ein geschichtlicher Anspruch war damit nicht verbunden.
Mit dem Fortschreiten der literarischen Schöpfung einer Antike, wie es sie nie gegeben hatte, entstand allerdings ein von den späteren Humanisten ernsthaft verteidigter Anspruch auf historische Echtheit, der zur Folge hatte, daß Werke, die in ihrer Entstehungszeit noch als elegante Zeitkunst aufgenommen worden waren, nun zum Standard einer Geschichtsvorstellung aufrückten, die bald wie ein festgefügtes Fundament behandelt wurde und ein vielräumiges Gebäude trug, das nur noch mit Mobiliar angefüllt werden mußte.
Der Vorgang ist bei Guevara schon selbst erkennbar: Sein erstes Werk, das Goldene Buch des Marc Aurel, ist nicht nur viel kürzer als das spätere, der Fürstenspiegel, sondern auch anspruchsloser, was den vorgeblich historischen Wert erhöht. Man zitiert Teile daraus, als handele es sich um eine tatsächliche Chronik.

An Nachahmern hat es nicht gefehlt. Das bekannteste Buch ist das englische Golden Boke des Marcus Aurelius von 1535. Darauf folgte in köstlich modernem Englisch 1557 The Diall of Princes, eine verkürzte englische Übersetzung von Guevaras Buch. Da die Angaben über den Kaiser Annius Verus (oder Severus) Antoninus, seine Abstammung und seine Familie, Hauslehrer und Freunde, durchaus als historisch galten, gingen sie als Fakten des weisesten aller römischen Kaiser, Marc Aurel, in die Geschichtsschreibung ein.
Den Vogel abgeschossen hat dann der Humanist und Abenteurer Michael Schütz, der sich griechisiert Toxita nannte. Er will aus der Bibliothek des Kurfürsten Ottheinrich von der Pflaz ein authentisches griechisches Manuskript erhalten haben, in dem Marc Aurels wirkliches Tagebuch kopiert sei. Leider enthielt dieses Manuskript auch ein Leben des Proklos von Marino, also eine humanistische Schrift, und damit fällt die Echtheit der Handschrift ins Loch.
Der berühmte Drucker Conrad Gesner in Zürich hatte schon 1545 ein Buch von Marc Aurel erhalten, es aber dann doch nicht veröffentlicht, weil er erkannte, daß es nicht von dem Kaiser stammen konnte (Theiler 1984). Jedenfalls trug er sich mit der Idee, den Erfolg Guevaras nachzumachen oder zu übertreffen, jedoch nicht im Sinne des Satyrikers, sondern als Humanist mit einer seriösen Arbeit, die nun endlich als Fürstenspiegel für alle Zeit Vorbild sein könnte. Als er die Vorlage von Toxita erhielt, war er unschlüssig und gab sie schließlich seinem Bruder Andreas Gesner weiter, der sie mit einer lateinischen Übersetzung von Wilhelm Holzmann (Xylander) aus Augsburg sowie einer anonymen Übersetzung der Proklos-Biographie von Marino 1559 herausgab. Das Buch nahm allmählich seinen Weg und wurde ein Dauerbrenner. 1568 legte man es in Basel zum zweiten Mal auf. Der originale Kodex war damals schon verschwunden. Versteht sich. Aber im Vatikan soll es Ausschnitte von parallelen Texten (»14. Jh.«) geben.

Diese weltberühmten Selbstbetrachtungen des Kaisers Marc Aurel waren – genau wie seine Briefe oder anderen Schriften – weder in der Antike noch im Mittelalter irgend jemandem bekannt gewesen (v. Gleichen-Rußwurm, 1913, Einleitung). Nur der Heilige Augustinus hat sie erwähnt, (der kannte ja alle humanistischen Fälschungen), und ein gewisser Bischof Arethas von Patras im 10. Jahrhundert. Als man in der Renaissance Seneca und andere Stoiker schätzen lernte, bestand großer Bedarf an klassischen Texten jener Geistesrichtung, aber erst mit Spinoza und Leibniz begann die Verarbeitung ihrer Inhalte. Die Zumutbarkeit wuchs schrittweise. Die beste moderne Übersetzung ins Deutsche (F.C. Schneider, 1864) bringt noch nicht alle Sentenzen Aurels, es fehlen über hundert. Manche werden noch heute weggelassen, da gar zu unwahrscheinlich für einen antiken Monarchen, wie etwa die Verdammung der Knabenliebe (I,16), die der Kaiser seinem Vater in die Schuhe schiebt und bejaht. Oder der Satz über die dem Kaiser suspekt erscheinende Märtyrersucht der Christen (da steht tatsächlich Christianoi, XI, 3, aber die Echtheit des Satzes wird von Autoritäten wie C. R. Haines, London 1924, bezweifelt). Und ganz besonders die Verdammung der Zauberei und des Aberglaubens, was in der Antike noch kein Thema war, aber den aufgeklärten Humanisten auf den Nägeln brannte.
Capelle (S. LI) bewundert die einzigartige Ehrlichkeit, »wie sie in der uns erhaltenen antiken Literatur nicht ihresgleichen hat.« Es gab kein Vorbild und keine Nachfolger dieser oft sehr intimen Tagebuchaufzeichnungen. Ihr Autor schrieb sie in einem unklassischen, mit Vulgärausdrücken vermischten und fehlerhaften Griechisch, das man ihm nachträglich gerne verzeiht, denn seine Muttersprache war ja Latein (Capelle, S. LIII). Die Formulierungen sind oft nach Poseidonios, dem Lehrer Ciceros, gebildet, von dem schon Seneca abgeschrieben hatte. Aber »direkte Fragmente des Poseidonios sind verhältnismäßig selten« (Theiler 1984).
Natürlich hatte der Kaiser diese Selbstenthüllungen nicht mehr veröffentlicht; das müssen seine Privatsekretäre nach seinem Tod getan haben. Sie stellten die Sentenzen zu zwölf Büchern zusammen, und dabei könnten sich fremde Sprüche eingeschlichen haben.
Schauen wir uns den Mann kurz an: Dieser römische Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (»26. April 121 bis 17. März 180«), aus vornehmer spanischer Familie entsprossen, erlebte nämlich in einer Schlacht im Jahre 175, die er fast verlor, den Segen des Himmels, wofür er seine christliche Legion (sic!) als Urheber ansah und Christenverfolgungen hinfort verhinderte. Was ihm leider doch nicht ganz gelang, denn schon vor Guevara hatte die Kirche in Marc Aurels Herrschaft die sogenannte 4. Verfolgung angesetzt, und die konnte man nicht mehr tilgen. Tertullian entlastet ihn, indem er die Verfolgung von Lyon im Jahr 177 als »zu weit weg von Rom« bezeichnete, und Justin, der als Märtyrer 165 in Rom starb, kann mit seinem Brief (als Abschrift im Euseb erhalten) auch nichts Böses mehr bezeugen, da dieser Brief von den Theologen als Fälschung ausgeschieden wurde. Weitere Briefe von Christen an den Kaiser, die man gerne anführt, etwa den des Athenagoras über das apokalyptische Zeitende, sind anachronistisch in höchstem Maße, weshalb Theiler (S. 14) annimmt, »Marc Aurel wird kaum die breiten Ausführungen gelesen haben.«
So gewann Aurelius als beinahe christlicher Kaiser großes Ansehen.
In Senecas und vor allem Marc Aurels Texten ist stets von Gott im Singular die Rede, so als wäre der Gott der Christen gemeint. Das machte diese Schriften der Nachwelt so angenehm. Die von Marc Aurel ausgedrückte christianisierte heidnische Philosophie kennt nur eine Welt, einen Gott, eine Natur aller lebenden Wesen, eine Materie, ein Gesetz und eine Vernunft.
Eigentlich erscheint Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen wie eine Idealgestalt, die nie gelebt haben kann, ein humanistisch neu formulierter Jesus, der außerhalb von Zeit und Raum den europäischen Gestaltungswillen verkörpert. Und dieser Gestaltungswille trägt die Züge des 16. Jahrhunderts.
Nachzutragen wäre noch der übliche dazugehörige Rahmen, wie etwa die grassierende Pest, an der er starb, die ägyptische Königskartusche mit seinem Namen und die vielen schönen Bildnisse, die große Renaissance-Künstler von ihm schufen, wie das Reiterstandbild aus Bronze im Vatikan. Und zum Schluß seine lateinischen Briefe an seinen Lehrer Fronto. Sie sind dermaßen schwülstig und kindisch für einen 25-jährigen Philosophen, daß sie nur als Kuriosum der Fälscherzunft gelten können. Sie werden aber oft direkt zur Erläuterung der Selbstbetrachtungen herangezogen, obgleich sie in völlig anderem Sprach- und Gedankenstil verfaßt sind und unmöglich von derselben Person stammen können.

Mit dem späteren Werk von Schütz, das uns heute als Selbsterkenntnisse des Marc Aurel bekannt ist, hat dann die Marc-Aurel-Legende jene Stufe erreicht, die viele Werke der Renaissance heute kennzeichnet: Sie ist allgemein anerkannt als zweifelsfrei echte Antike. Dabei ist die Änderung der Taktik typisch: Aus einem Roman wird eine Aphorismensammlung, denn diese hat weit größere Chancen, unerkannt ins Gefüge der Geschichtsschreibung eingereiht zu werden.
Man besitzt ja inzwischen auch einen breiten Fundus angeblich antiker Texte, die als Basis herangezogen werden können und sozusagen den Beweis für die Echtheit der neuen Funde liefern. Die »klassischen« Autoren haben natürlich selbst Vorschub geleistet für die Erfindungen und ihre Manier wortreich entschuldigt: Der wenig skrupelhafte Schriftsteller, sagt Quintillian, kann erfinden, was immer er will und irgendwelchen nie vorhandenen Autoren zuschreiben, ohne Furcht entdeckt zu werden, denn was nie vorhanden war, kann nicht als gefälscht erkannt werden (Lehrbuch der Redekunst, I, viii, 21, zit. in Blanco, S. L). Das wichtigste, was ein solcher Fälscher haben muss, wenn er nicht überführt werden will, ist ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
Blanco untersucht auch, warum wir im Gegensatz zu den häufigen literarischen Erfindungen der Renaissance gerade Guevaras Buch als offenkundige Fälschung herausgreifen und die anderen eher für glaubwürdig halten. Es liegt daran, daß Guevara die Erfindung von Geschichte zu seinem ganz eigenen System erhoben hat, als Mittel zum Zweck. In diesem Sinne ragt sein Fürstenspiegel aus anderen Werken heraus, die stets nur in Teilen erfunden sind, mit großer Vorsicht und mit Rücksicht auf frühere Gestaltungen. Guevara übergeht dies mit genialer Freiheit. Ihm kommt es nicht auf die zu schaffende oder zu ergänzende Antike an, sondern auf die Moral seiner Zeitgenossen, die er mit diesem Werk prägen will, allen voran den kaiserlichen Hof und die Intellektuellen Europas.
Und das ist ihm offensichtlich gelungen.
Abgesehen davon hat er noch ein weiteres Ziel erreicht, das ihm – wie er selbst gesagt hat – nicht vor Augen stand. Er hat Geschichte geschrieben, vor allem antike Geschichte, und damit das Bild unserer Vergangenheit geprägt. Diese ist nun praktisch unlösbar verbunden mit der »anerkannten« Geschichte. Sein Marc Aurel ist hineingewoben in die Zeitutopie der Antike und nicht mehr davon zu trennen. Erst wenn auch die anderen »Chroniken« der Antike, die vielen Kaiserbiographien und Philosophien als entsprechende Erfindungen – wenn auch von soliderer Machart – aufgedeckt werden, kann das Gesamtbild der antiken Geschichte als Roman der Renaissance einen neuen Stellenwert bekommen. In diesem großen Zeitroman nimmt Guevaras Werk als humorvollste und ehrlichste Schöpfung eine herausragende Stellung ein.

Abschnitt 6: Die großen Fälscher

Über die berühmteste Fälschung der katholischen Kirche, das Dokument der Konstantinischen Schenkung, brauchte man kein Wort zu verlieren, weil sie ja von den Humanisten Lorenzo Valla (Sekretär des Papstes), Piccolomini (dem späteren Papst Pius II) und Nikolaus Cusanus selbst aufgedeckt wurde. Ullrich von Hutten ließ die Schrift von Valla 1519 drucken. Der griechische Text der »Schenkung« war offenbar von »Lateinern« in Rom geschrieben worden. Es handelt sich um ein Diplom, in dem Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert dem Vatikan ein eigenes Territorium zugesteht und die Vormacht der Kirche Roms anerkennt. Dieser Text soll erst im 8. Jahrhundert, meinen die Humanisten, geschrieben worden sein. Das ist Vorwärtsstrategie der Kirche. Er wurde sehr viel später, nämlich kurz vor dem Schisma 1056, abgefaßt und hat die Spaltung der Kirchen – Rom von Byzanz – besiegelt, findet Illig (1996, S. 142 f).
Möglicherweise ist das Dokument noch viel später erst abgefaßt und schrittweise um tausend Jahre älter gemacht worden. Die Behauptung, es sei eine Fälschung aus dem 8. Jahrhundert, wie sie die Theologen Valla, Piccolomini und Cusanus »aufklärend« verbreiteten, hatte keinerlei Nachteile für die Kirche, denn den Kirchenstaat und die Vorherrschaft über die anderen Kirchen Westeuropas hatte sich der Vatikan in der Renaissance schon errungen, aber der Vorgang hatte einen Vorteil, der immer wieder in derselben Weise funktioniert: Er legt fest, daß es im 8. Jahrhundert eine katholische Kirche gegeben habe. Nur darum geht es, um die Stützung des Geschichtsbildes, selbst bei der Aufdeckung von Fälschungen.
Dies ist gerade ein Kennzeichen dieser Methode, wie noch gezeigt wird.

Das liefe auf eine »gigantische Verschwörungstheorie« hinaus, die man immer noch nicht so klar sieht, stellt Niemitz (1991) sachlich fest. Er führt dann ein weiteres Beispiel dieser Fälschungen vor: Beyer bringt (im Band 33 der Monumenta Germaniae Historica) eine Betrachtung zu den Empfehlungsbriefen, die eine Reise des Papstes aus Frankreich in die Lombardei im Jahre 1132 dokumentieren sollen. Von den 80 Briefen tragen nur drei ein Datum, und besonders der erste, der die ganze Briefsammlung datieren soll. Damit sind die übrigen 77 Briefe wertlos, denn ein Brief ohne Datum ist ein Unding. Aber die in diesen Briefen enthaltenen Angaben verraten noch mehr: »Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben die Daten Vergangenes ... Ab einem bestimmten Moment jedoch beziehen sich die Datierungen auf zu erwartende beziehungsweise projektierte Ereignisse.» (S. 52). Das führt zu der Annahme, daß die Fälschungen in einen größeren Rahmen gehören, der sehr viel später erst erstellt wurde und die Papstreise sowie andere erwähnte Ereignisse »historisch absichern« sollte.
In seiner abschließenden Betrachtung sagt Niemitz (1 – 1991, S.31):
»Die Anfang des 15. Jahrhunderts geeinte Kirche organisiert eine große Fälschungsaktion, indem sie alle Dokumente vernichten oder verfälschen läßt, so daß die uns überkommenen Dokumente eine falsche Geschichte erzählen. Diese Aktion kann keine völlig widerspruchsfreien Dokumente erstellen und über die Länder verteilen (beziehungsweise dezentral erstellen lassen).
Viele nachträgliche, aufeinanderfolgende Änderungen in den Urkunden werden nötig, um die Pseudogeschichte einigermaßen widerspruchsfrei zu halten. Die genannten Probleme der Diplomatik und Urkundenforschung resultieren aus den nicht bewältigten Widersprüchen dieser Fälschungsaktion. Viele Widersprüche erklären sich aus einer besonderen Fälschungstechnik: über ungenaue und bewußt widersprüchliche Angaben soll eine Wahrheitsfindung, das heißt eine 'Kontrolle' der Geschichte, unmöglich gemacht werden.»
Und etwas weiter schlußfolgert er: »Generell zeigt sich, daß bei Annahme einer Fälschungsaktion der chronologische Rahmen verloren ist.«
Im selben Artikel (S. 29) bringt Niemitz schon einen »Gegenentwurf der mittelalterlichen Geschichte«:
»Zu Beginn des Zeitabschnitts gibt es den Papst nicht, die römisch-katholische Universalkirche existiert nicht – ebenso gibt es das Rom der Päpste (noch) nicht. Die Christen sind in regionalen oder nationalen Kirchen organisiert – viele Menschen sind noch Heiden oder (christliche) Freidenker. Zugleich mit oder vielleicht auch ein wenig schneller als die wachsende staatliche beziehungsweise königliche Macht organisieren sich die verschiedenen nationalen Kirchen. In den verschiedenen Ländern bilden sich innerhalb der Kirchen priesterliche Hierarchien aus in Wechselwirkung mit dem Entstehen von Dogmen.« Entsprechend sieht er auch die Ketzerkriege, die Kreuzzüge und den Investiturstreit in ganz neuem Licht – ein genialer Entwurf, der Kammeier erweitert, Illig zu seinem Buch über Karl d.Gr. anregte (1996, S. 378) und viele der hier vorgetragenen Gedanken vorwegnimmt.
Das Kloster Monte Cassino war als Fälscherwerkstatt durchaus fruchtbar gewesen und hatte manche wichtige Schrift hergestellt. »Bruni und Poggio warfen 1407 ihre Augen erneut auf die Bestände von Monte Cassino, wo bereits Boccaccio reiche Ernte geborgen hatte: der Erfolg ihrer Aktion entzieht sich unserer Kenntnis – vielleicht wurde er auch absichtlich verheimlicht. ... Daneben war Poggio stets auch als Kopist tätig, wobei das Abschreiben gleichzeitig als Übung des eigenen Stiles galt.« (Hunger S. 544).
Die größere Zahl klassischer Texte wurde aber in Deutschland geschaffen. Nicht zufällig fand das »Reformkonzil« in Konstanz statt (1414-18), in dessen Umkreis die besten klösterlichen Schreibstuben lagen. »Im Gefolge des Papstes Johannes XXIII zogen zahlreiche Humanisten als Sekretäre oder Schreiber der Kurie nach dem Norden, unter ihnen Bruni und Poggio.« (Hunger S. 540). Auf langen Reisen durch Deutschland und Frankreich bis nach England, wo Poggio bis 1423 weilte, brachte er eine Menge Handschriften zusammen, die er teilweise vorher bestellt hatte. Er kopierte sogleich, was er erwarb, und ließ die Originale niemanden einsehen.
Das Basler Konzil (1432-40) war kaum weniger erfolgreich. Hier tat sich Giovanni Arispa hervor, der auch zahlreiche griechische Handschriften aus Byzanz »rettete«. Nikolaus Cusanus »entdeckte« 16 Kommödien des Plautus, von denen 12 noch völlig unbekannt waren. Auch in Ungarn war man fleißig, König Matthias Corvinus ließ eine große Bibliothek mit Kodizes füllen. Francesco Sassetti sammelte in Frankreich 67 Bände lateinischer Schriftsteller, meist »Bestätigungen« schon bekannter oder zumindest vorausgesagter Texte.

Dies sind nur einige ausgewählte Einzelheiten der Aktion, die fast ganz Europa ergriffen hatte. Sicco Polenton hatte 1437 eine erste Literaturgeschichte der Lateiner (in 18 Bänden) fertiggestellt. »Er sieht die lateinische Literatur von der Antike bis zu Petrarca als Einheit.« (S. 545). In Bobbio, einem anderen berühmten Fälscherort, stieß man auch auf unbekannte lateinische Grammatiker und Metriker, unter anderen Terenz, der 1497 in Mailand gedruckt wurde; »die Handschrift ist unterdessen verlorengegangen wie in zahlreichen anderen Fällen : ein Beweis dafür, daß die Humanisten mit ihren Erwerbungen keineswegs so sorgfältig umgingen, wie man nach den enthusiastischen Briefen erwarten sollte, mit denen sie den Freunden ihre Funde mitteilten.« (S. 546). Ganz abgesehen davon, daß diese »Reliquien« unglaublich hohe Preise kosteten, die meist von fürstlichen Mäzenen oder der Kurie selbst bezahlt wurden.

Den nun mehrfach erwähnten Piccolomini (ab 1458 Papst Pius »II«) sollte man sich kurz anschauen, denn er ist ein typischer Renaissance-Mensch, der sein Leben für die Nachwelt höchst ordentlich gestaltet hat (wie Paul C. Martin in einem Vortrag am 23.5.1998 in Leonberg darstellte). Vermutlich unternahm Piccolomini die Fälschung seiner persönlichen Daten schon für seine Zeitgenossen, damit sie ihn zum Papst wählten. Das Dokument ist im Codex Reginensis im Vatikan bis heute erhalten. Piccolominis Geburtsdatum fiel eigentlich auf einen sehr ungünstigen Tag, den 24. 8. 1405. Saturn stand in Opposition zu Sonne, Mond und Venus, außerdem Mars in Opposition zu Merkur, das sind alles negativ interpretierte Momente. Und der 24. August galt den klassischen Römern ganz besonders als »schlechter Tag«, weil an ihm die Geister der Unterwelt heraufzusteigen pflegen, wovor die gewöhnlichen Sterblichen eine schreckliche Furcht hatten, wie man bei Cicero lesen kann.
Also änderte Piccolomini seinen Geburtstag und wählte einen horoskopmäßig ungewöhnlich günstigen Tag, den 18. 10. 1405, bei Sonnenaufgang um 6.49 h, an dem zwei klassische Glückskonstellationen vorlagen: Venus-Jupiter-Trigon und Sonne-Saturn-Trigon, dazu Merkur und Venus in Konjunktion. Besser geht's kaum.
Als Geburtsort konnte er aber leider nicht die ewige Stadt angeben, denn er stammte aus dem kleinen Dorf Corsignano in der Toskana; es fand sich nur ein wenig bekannter Mann der Antike, ein Offizier Sullas mit Namen Corsinius, nach dem das Dorf benannt sein soll. Was blieb Pius übrig, als die winzige Ortschaft mit prachtvollen Gebäuden auszustatten, 1463 zur Stadt zu erklären und einen Bischofssitz dort einzurichten? Der Ort hieß fortan Pienza (wohl von pius = fromm) und glänzt auch heute noch als Touristenattraktion wegen seines Domes, Bischofspalastes, Stadthauses und vor allem des prachtvollen Palazzo Piccolomini, der den Namen seiner Familie trägt und von ihm selbst entworfen wurde.
»Eigentlich« hieß dieser Mann Äneas Silvius, und so fand er seinen Papstnamen schon bei Vergil (Äneide I, 378) vorbestimmt: »Sum pius Aeneas« (= Ich bin Äneas, der Fromme...) Entsprechend gestaltete er sein Wappen mit einer Devise, die einen weiteren Papst aus seiner Familie voraussagt (seinen Neffen, Pius III, der 26 Tage regierte). Seinen Vorgänger Pius I (142-157, Märtyrer und Heiliger) hat er allerdings frei erfunden; dessen Briefe gelten auch katholischen Theologen heute als Fälschung. Er soll der 9. Papst gewesen sein, denn Äneas Silvius hatte es mit der heiligen Zahl 9, sie kehrt in seiner Schrift und seinen Bauwerken häufig wieder. Diese Schrift, eine wunderschöne Autobiographie, die er an Silvester 1463 abschloß, erinnert in Stil und Aufmachung an Cäsars Gallischen Krieg. Sie beginnt gleich mit der edlen Herkunft der Piccolominis aus Rom, die (leider) nach Siena in der Toskana umgezogen wären, wozu Burckhardt anmerkte: »Vermutlich hätte er nicht übel Lust gehabt, ein Julier zu sein.«
Seine Lebensgeschichte ist aber auch ohne die Beschönigungen und Fälschungen schon aufregend genug. Mit 26 Jahren war er Teilnehmer am Konzil von Basel, wurde dann Geheimsekretär des Kaisers Friedrich III und empfing von ihm die Dichterkrone. Durch seine Vermittlung konnte er den Kaiser zum Verbündeten des Papstes Nikolaus V gegen das Basler Konzil machen und wurde dafür mit dem Bischofsstuhl von Triest belohnt. Das Konkordat von Wien 1448, das die Basler Beschlüsse nichtig machte und der deutschen Kirche die errungenen Freiheiten wieder entriß, ist hauptsächlich seine Leistung. Zehn Jahre später war er selbst Papst geworden.
Getauft wurde dieser Mann in einem noch vorhandenen Taufbecken einer ganz kleinen Kirche, einer sogenannten Pieve, die unterhalb der heutigen Mauern von Pienza liegt, wie Martin weiter ausführte. Über der Eingangstür sieht man ein schlangenfüßiges Monster, flankiert von anderem schrecklichen Gewürm. Darüber in einem Fenster steht eine recht heidnisch anmutende »Große Mutter«, und auf den Säulen in der Kirche erkennt man auch nur Schlangen und altheidnische Symbole. Wäre nicht eine etwas jünger anmutende Szene der Heiligen-Drei-Könige über einer Seitentür zu sehen, dann würde man kaum erkennen, daß es sich um einen christlichen Tempel handelte.
Tatsächlich sind auch die anderen Pieven der Toskana, – und es gibt Hunderte, oft gar nicht als Kirchen erkennbar – in dieser unchristlichen Art geschmückt. Eigentlich sehen sie mit ihrem einfachen Grundriß und den Schmuckmotiven wie heidnische Tempel aus, die allerhöchstens an Gnostiker oder Arianer denken lassen. Das macht natürlich stutzig, wenn dieser gewaltige Papst, der mit der Unterstützung des albanischen Helden Skanderbeg fast einen letzten Kreuzzug des Abendlandes gegen die Türken zuwege gebracht hätte, noch in einer derart heidnischen Umgebung zur Welt gekommen war. Es macht aber auch deutlich, wie wichtig seine Fälschungsaktion gewesen sein muß! Gewiß ging es ihm bei der Neugestaltung um die Weltgeschichte im Großen, die kleinen Pieven seiner Kindheit vergaß er.
Absolut unchristliche Gestalt haben sogar einige große Kirchen der Toskana, etwa in San Chirico, wo außer modernen Hinzufügungen nichts auf den katholischen Charakter des Gebäudes schließen läßt. Die Ungeheuer und Fabelwesen sprechen von einer uns völlig fremden Welt, die durch Gehirnwäsche ins Dunkel des Vergessens gestürzt worden ist. Moderne Deutungsversuche muten grotesk an, sie zeigen klar, daß wir keine Ahnung von jener Geisteswelt haben. Allenfalls können einige Gestalten mit der Offenbarung des Johannes in Verbindung gebracht werden, aber auch das ist nur an den Haaren herbeigezogen.
Dagegen sind Kunstwerke der Antike, etwa römische Gemmen, die Martin in seinem Vortrag daneben stellte, aus demselben Formempfinden entstanden, oft sogar völlig gleich, so als wären zwischen der römischen Antike und dem katholischen Christentum des 15. Jahrhunderts nur wenige Generationen vergangen.

Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam

Gegen den allgemeinen Wildwuchs der Fälscherwerkstätten gingen schon Ende des 15. Jahrhunderts scharfe Kritiker an, die um den Verlust sämtlicher Maßstäbe fürchten mußten. Als bekanntesten will ich nur Valla nennen, der mehrere Fälschungen aufdeckte und in große Bedrängnis deswegen geriet. Er versuchte allerdings, den Vulgata-Wortlaut des Neuen Testaments nach dem griechischen »Urtext« abzusichern, was ihm letzten Endes mächtige Beschützer verschaffte.
Poggio bemühte sich sogar, Hebräisch zu lernen, da er schon ahnte, wie wichtig die Benützung von Quellen »aus erster Hand« sein würde. Aber dieser Schritt gelang erst der folgenden Generation.
Der berühmteste Humanist, Erasmus von Rotterdam, wurde 1466 oder 1469 geboren und schrieb seine ersten Werke (ab 1495 in Paris) in sehr gutem Latein. Von 1499 an lebte er in England und versuchte sich auch im Griechischen, das er ab 1502 recht passabel beherrschte. Sein Buch Lob der Torheit (in Latein) hatte in elf Jahren eine Auflage von 20 000 Stück. Diese Zahlen stelle ich voran, um die Bedeutung des Mannes, seine Wirkung und das Ungewöhnliche zu betonen. (Ich folge weitgehend Camphausen et. al., nimm und lies! 1991)
Erasmus kämpfte gegen den Judaismus (in der Kirche, versteht sich) und förderte die Entwicklung jener Christologie, derzufolge Jesus auch schon vor seiner Fleischwerdung die Geschicke der Welt gelenkt habe. Diese beiden Punkte sind wichtig für die Beurteilung der eingeschleusten »Kirchenväter«. Im Jahre 1516 von Kaiser Karl V zum Ratsherrn ernannt, schuf er die neunbändige Hieronymus-Ausgabe der Bibel und gab weitere neun frühchristliche Autoren vorbildlich heraus. Er gestaltete dabei eine idealisierte frühe Kirche, man könnte von romantischem Gefühl sprechen.
Unter Benützung des schon erwähnten Textes von Laurentius Valla (von 1505) gab er 1516 ein griechisches Neues Testament mit lateinischer Übersetzung heraus, das er in größter Eile gegen die spanische Konkurrenz, die dasselbe ebenfalls gerade schuf (Complutense), in einem halben Jahr fertigstellte. In der Vorrede behauptet er, viele sehr alte Manuskripte verwendet zu haben, aber das ist offensichtlich gelogen. Er hatte nur einige junge Abschriften zur Hand, die noch dazu voller Fehler und Lücken waren. Ganze Versgruppen, wie etwa den Schluß der Offenbarung, mußte er aus der lateinischen Vulgata ins Griechische »rückübersetzen«.
Der Arbeitsgang, für den Erasmus wie gesagt in höchster Eile und mit Helfern immerhin noch ein halbes Jahr benötigte, ist nachträglich gesehen unerklärlich. Wenn eine griechische und lateinische Bibel von Theologen seit 1300 Jahren benützt, zitiert und kommentiert worden war, dann hätte man für die erste Drucklegung nur noch die eventuell angefallenen Änderungen einfügen müssen. Vermutlich hat Erasmus eine grundlegende neue Gestalt vorgelegt, und dazu die bisher unbekannte Einteilung in Kapitel und Verse geschaffen.
Erst dieses Werk wurde zum Standardtext für die moderne Bibel, denn nur dieser Wortlaut konnte jetzt noch zitiert werden. Drei Jahre später, mit etwas mehr Ruhe, kam dann eine mit 400 Verbesserungen versehene Bibel heraus, die Luther als Basis für seine deutsche Übersetzung diente. Ohne Erasmus hätte es keinen Luther und keine Reformation gegeben, sagte man schon damals (allerdings in Latein).
Erwähnenswert ist auch Theodor Beza (gestorben 1604), der Freund und Nachfolger von Calvin, der gleich zwei angeblich uralte (»5. Jh.«) griechisch-lateinische Kodizes vorlegte, die schon den nicht fortlaufenden Text mit Verseinteilung haben. Sie sollten der reformatorischen Bewegung in der Schweiz als Grundlage dienen, wurden aber später wieder fallengelassen.
Der neue Fundamentalismus, der »allein die Schrift« gelten ließ, löste einhellige Empörung bei vielen Theologen aus, setzte sich aber durch. Endlich hatte man es schwarz auf weiß, was Gott wirklich gesagt hatte. Die Tradition der Kirche trat demgegenüber zurück, womit die – vielfach beanstandeten – alten »Kirchenväter« an Bedeutung verloren, was der Kirche letzten Endes recht war.

Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera

Der sehr angesehene und hochgebildete Jesuit Hieronymus Romanus de la Higuera aus Toledo (1538-1611) ist ein später Fälscher, der leicht durchschaubar ist, da der Humanismus in Spanien erst spät – nach der endgültigen Eroberung Andalusiens 1492 – zur Blüte kam. An ihm möchte ich noch einige Eigenarten zeigen, die uns den Vorgang der Großen Aktion in weiterer Sicht erscheinen lassen.
Wegen seiner brillianten Kenntnisse der alten Geschichte wollte ihn der Orden Jesu schon 1563 aufnehmen, aber Higuera sträubte sich lange und trat erst 1590 ein. In seinem Todesjahr 1611 (nach anderen erst 1619) erschien in Saragossa sein großes Geschichtswerk, die Cronicones, im Druck; es war jedoch schon eine Weile in Handschriften umgelaufen. Fast alle berühmten Leute seiner Zeit, in Spanien wie auch in anderen katholischen Ländern, nahmen das Werk als echt an und lobten es ausgiebig. Nachdrucke erschienen 1627 in Cádiz und Lyon, 1640 in Madrid und sogar noch später. Da es dermaßen stark beachtet worden ist, finden sich viele Informationen in allen möglichen Verarbeitungen, die heute nicht mehr auszufiltern sind. Und doch wurde der Betrug »schon« 1652 aufgedeckt, allerdings erst 1742 in Valencia publiziert.
Worum geht es?
Higuera behauptete, daß er aus dem Kloster Fulda (ja, die Werkstätten waren nicht so zahlreich) eine Handschrift erhalten habe, die Texte von mehreren spanischen Kirchenschriftstellern der Westgotenzeit enthält, und nennt folgende Autoren: Flavius Lucius Dextrus, Sohn des Heiligen Pacian, den der Heilige Hieronymus zu den Kirchenvätern zählte; Marcus Maximus, Bischof von Saragossa, den Sankt Isidor von Sevilla als einen der »Berühmten« führte; Luitprand von Pavia, seinerzeit weitbekannt; den Heiligen Braulio, Bischof von Saragossa und engster Freund Sankt Isidors; Tajon, einen Zeitgenossen desselben; Valderedo und Heleca und andere Bischöfe von Saragossa. Die darin dargestellte Geschichte der spanischen Kirche nach der »Wiedereroberung« war so wohltuend für das allgemeine Bedürfnis, eine möglichst durchgehende christliche Geschichte Iberiens vorweisen zu können, daß sie gar nicht schöner geschrieben werden konnte. Da wurden Heilige geschaffen und allen wichtigen Orten Märtyrer mit entsprechenden Reliquien zugeteilt, Bischöfe eingesetzt und Synoden abgehalten.
Higuera schickte die »Fragmente« an den gelehrtesten Mann jener Zeit, den Bischof von Segorbe, Juan Bautista Pérez, der sie sofort als Fälschung abtat. Aber nach drei Jahren starb der Bischof, und Higuera schuf eine neue Fassung, die viele Fehler der ersten vermied. Aus den Fragmenten waren Cronicones geworden. Statt fortlaufender Texte präsentierte sich das Werk nun als Auflistung mit Jahreszahlen, und in dieser knappen Gestalt konnte man viel besser und leichter betrügen. Die Angaben waren geschickt mit anderen Lügen vermischt, die damals im Umlauf waren und bereitwillig geglaubt wurden. Nicht von allen: Gaspar Ibañez, Graf von Mondéjar, hatte das Crónicon mit zwei Abhandlungen angegriffen.
Das Druckwerk brachte natürlich nur die lateinische Umschrift, das Fuldaer Original sei in Gotisch geschrieben gewesen. Nur wenige Zeitgenossen machten sich lustig über den Unfug, die meisten nahmen es als Dokument von unschätzbarem Wert auf, »wie Reliquien«, teils aus Opportunismus, teils aus Dummheit, wie Mayans sich ausdrückt.
Dieser Gregorio Mayans i Siscar gab nämlich 1742 in Valencia das Spätwerk des berühmten und hochdekorierten Humanisten Nicolas Antonio (geboren 1617 in Sevilla) heraus, das dieser nicht mehr abschließen konnte, als er 1684 in Madrid starb. Antonio war der Begründer der heute noch grundlegenden »Spanischen Bibliothek« und besaß neben einem wahrlich umfassenden Wissen auch selbst 30 000 Bände. Ab 1652 hatte er begonnen, die Cronicones von Higuera zu kritisieren und seine Kollegen davon in Kenntnis gesetzt. Zunächst war er sich noch nicht im klaren darüber, daß es sich um völlig fabulierte Geschichten handelte, sondern glaubte, daß die Originale aus Fulda nur verändert worden seien. Einige nicht weniger berühmte Leute, so etwa Thomas de Vargas, versuchten dies zu widerlegen und Higueras Fälschung zu retten. Als Gründe gaben sie meist an, daß die Nachrichten dogmatisch korrekt seien und sich bestens ins Geschichtsbild einfügten. Außerdem seien Higuera und seine Mitarbeiter vorbildliche Gelehrte von bestem Ruf.
In seiner »Kritik der fabulierten Geschichte« wies Antonio dann mit größter Genauigkeit nach, daß Higueras Geschichtsbuch ein Märchenbuch ist. Einige Gelehrte, wie der Graf von Mondéjar in seinen »Kirchlichen Abhandlungen«, schlossen sich dieser Meinung an, vor allem weil kein Original des Fuldaer Kodex auffindbar war.
Aber diese »Kritik« (Censura) Antonios wurde eben erst 90 Jahre später gedruckt, und da war das Unheil nicht mehr gutzumachen, denn es waren – wie die Begründung der Inquisition für die Drucklegung lautet – in diesem »an Erfindungen so überreichen Jahrhundert« alle Arten von Lügen geglaubt worden und soweit in die gesamte Geschichtsschreibung eingegliedert, daß eine Trennung der Quellen als dringlichste Aufgabe erkannt wird.
Diese ist natürlich nicht mehr durchzuführen, im Gegenteil: durch die Art der Gegenbeweise werden ältere Lügenmärchen, wie etwa die Geschichten von Isidor oder Braulio, zu unumstößlichen Tatsachen zementiert.
Mayans gibt einen ausführlichen Lebenslauf von Nicolas Antonio und auch Hinweise auf den Fälscher Higuera, der keineswegs nur als Strolch in die Geschichte eingehen muß, denn seine übrigen Schriften, so etwa eine »Abhandlung über die Mozarabes«, bleiben weiterhin anerkannt.
Zur Deckung der gefälschten Fuldaer Texte hatte man schon 1595 in Granada Tafeln und Bücher in Blei gefunden, jedoch nie öffentlich gezeigt. Alle glaubten einfach an diesen günstigen Fund, der viele Namen und Aussagen der Fälschung bestätigte. Eine eigens von König Philipp II zur Prüfung dieser Bleitafeln eingesetzte Kommission bescheinigte 1596 und noch einmal 1597 deren Echtheit. Vermutlich bestanden weiterhin berechtigte Zweifel daran, denn 1604 und 1609 mußten neue Kommissionen im Auftrag von König Philipp III den Verdacht ausräumen. Unter Phillip IV wiederholte sich das Spiel. Dann aber wendete sich das Blatt, denn ab 1652 etwa tat die Kirche den Inhalt dieser Bleitafeln als ketzerisch ab, weil sich die Lehre inzwischen gewandelt hatte. Der Wortlaut der Tafeln von Granada – es gab auch welche in Kupfer – wurde von Papst Innozenz XI 1682 scharf verurteilt. Damit kann Mayans sie nun ebenfalls als Fälschungen einstufen.
Und weitere Machwerke hat er gebrandmarkt: Die Chronik des Auberto (oder Hausbertus) Hispalense (= von Sevilla), die Gregor Argaiz aus Logroño 1667 publizierte, ist gefälscht von Lupian Zapata, einem sehr angesehenen Priester und Schriftsteller, der seinen Lebensabend auf Ibiza verbrachte. Als er 1667 starb, wies man ihm zahlreiche Fälschungen nach. Aber die vielen Herausgaben antiker Manuskripte sind nicht alle einzeln ausgeschieden worden, es laufen wohl noch (oder wieder) einige als echt um.

Aus den von Mayans als Beweise angefügten 35 Briefen Antonios und seiner Kollegen gehen Dinge hervor, die abschreckend wirken. Die Aufdeckung der gefälschten Kirchenväter liest sich stellenweise wie ein Kriminalroman. Da werden in den »alten« Manuskripten Autoren zitiert, die 300 Jahre später lebten. Das dürfte ein Hinweis auf noch nicht koordinierte Chronologie sein.
Wie wir schon sahen, sind Märtyrer und als Anlaß dafür Christenverfolgungen unerläßlich für kirchliche Geschichtsschreibung. Um nun etwa dem Diokletian dergleichen Grausamkeiten glaubwürdig anzulasten, schuf ein Münzpräger 1637 herrliche römische Münzen mit der Aufschrift: CHRISTIANORUM SUPERSTITIONE DELETA (= Der Aberglauben der Christen wurde zerstört) und zeigte sie namhaften Wissenschaftlern, die nicht sofort den Schwindel merkten, sondern einmal mehr die diokletianische Christenverfolgung – ein absoluter Fixpunkt katholischer »Historienmalerei« – untermauerten.
Der Heilige Lorenz ist der Abgott Valencias in Spanien. Jede Stadt möchte ihn gerne vereinnahmen, selbst Neapel und Rom bewerben sich um die Ehre, daß er in ihren Mauern das Licht der Welt erblickt habe. Das war im Jahre des Heils 226. Seine Eltern kamen vielleicht aus Huesca (Spanien) und flohen vor Kaiser Diokletians Christenverfolgung (die 58 Jahre später in der Provinzstadt Tarsus in Kleinasien stattgefunden haben soll), nach Valencia, wie der Heilige Donatus schreibt, den ein gewisser Lorenzo Mattheu nach Vorgaben von seinem Freund Juan Bautista Ballester 1672 erfunden hat. Da diese Legende sofort begeisterte Aufnahme gefunden hatte, blieb den Bollandisten, die das bereinigen mußten, nur noch übrig, den Geburtsort des Heiligen Lorenz meistbietend zu vergeben. Johannes Pinius, der damit beauftragt war, entschied für Saragossa, obgleich nach dem Ausscheiden von Huesca und Valencia auch Córdoba und Capua in Italien eine Zeitlang in engster Wahl standen. Da wurden Münzen und Medaillen geprägt, Inschriften und alte Manuskripte gefälscht, die immer wieder als Fälschungen entlarvt werden mußten, was keineswegs insgesamt gelang. Viele der besseren Stücke schmücken wahrscheinlich heute noch die europäischen Museen. Das angeblich spätantike Donatus-Schriftstück läßt sogar den Streit um die Münzen indirekt erkennen, ist also erst 1673 fertig geworden.
Der begehrte Wanderpokal, um den es bei der kostspieligen Bewerbung um den Geburtsort des Heiligen Lorenz ging, war übrigens die damit verbundene Reliquie: ein goldener Becher, in dem Jesus beim Letzten Abendmahl den Wein gereicht hatte.

Ein weiterer Fälscher, den Agustin Sales in einem Brief an Mayans vom 19. Juli 1741 anprangert, ist Hubert Goltzius, der – »wie Hardouin« – zahlreiche Münzen und Medaillen für spanische Städte schuf. Dieser erste professionelle Archäologe der Neuzeit entstammte einer berühmten holländischen Künstlerfamilie, geboren 1526 in Würzburg und gestorben 1583 in Brüssel. Mit seinen historischen Schriften und Münzkatalogen erwarb er sich großen Ruhm, wurde 1566 Ehrenbürger von Rom und gilt bis heute als Autorität durch seine Bücher, vor allem das Geschichtswerk Von Cäsar bis Karl V und Monumente des römisch-griechischen Altertums (Antwerpen 1645).
Sales meint nun, daß man nur aufgrund dieses großen Ansehens den Berühmtheiten wie Don Lorenzo, der 1672-73 den Heiligen Donato erfand, ihre Fälschungen nicht durchgehen lassen solle, auch nicht Goltzius oder Higuera, obgleich sie doch alle würdevolle Ämter bekleidet und einen tadellosen Lebenswandel geführt hatten (Mayans, S. 703). Ich möchte einen Schritt weitergehen: Nur das untadelige Verhalten und die hohe Stellung ermöglichten es ihnen, den Betrug unterzuschieben. Niemand sonst hätte es gekonnt. Insofern ist hohes Ansehen kein Hindernisgrund zur Anschuldigung sondern ein zusätzliches Verdachtmoment.
Das trifft auch den berühmten Lucas Holstenius, geboren 1596 in Hamburg. Er reiste mit knapp 22 Jahren nach Italien und Sizilien und studierte dort einige Zeit. Zurückgekehrt hatte er einen schweren Stand und ging 1622 nach London und Oxford, 1624 nach Paris, wo er zum katholischen Glauben übertrat. Mit Kardinal Barberini zog er 1627 nach Rom, wo er selbst zum Kardinal ernannt wurde und als Vorsteher der Vatikanischen Bibliothek seine Lebensaufgabe fand. Er bekehrte manchen Fürsten zum Katholizismus und starb hochangesehen 1661 in Rom. In seinem Nachlaß fanden sich viele Handschriften und Bücher von großem Wert. Unter anderem schrieb er nach Vorlagen von Monte Cassino die Märtyrergeschichte der Perpetua und Felicitas, ferner die Leiden des Bonifatius u.v.a. Berühmt ist seine Lebensbeschreibung des Pythagoras (Rom 1630) und die Herausgabe vieler klassischer und kirchengeschichtlicher Autoren. Auch ein Korpus von 114 seiner Briefe liegt gedruckt vor.
Nicolas Antonio erwähnt Holstenius in einem Brief (5. Sept. 1663; in Mayans S. 646) an Juan Lucas Cortés: »Aber die Sammlung der Africanischen Konzilien, mit der er (Holstenius) uns bedrohte (sic!), befand sich nicht in einem Zustand, der einen Druck zugelassen hätte, obgleich Kardinal Barberini sich alle erdenkliche Mühe gibt, nichts verlorengehen zu lassen, was sich aus seinen Papieren herausdestillieren ließe.» Die ironische Ausdrucksweise Antonios, der gerade mit der Bekämpfung von Fälschungen beschäftigt ist, läßt schon erkennen, was er von den »africanischen Konzilien« hielt. Es ist nämlich eine auffällige Sache, daß gar viele Kirchenväter und Konzilien in Nordafrika angesiedelt wurden, um sie glaubhafter zu machen oder die Nachprüfbarkeit auf ein Minimum herabzusetzen; denn nach dem »Sarazenensturm« waren natürlich alle schriftlichen Zeugnisse dieser frühen Kirche als vernichtet anzusehen.
Dieser Briefempfänger, Juan Lucas Cortés, überbrachte einen Brief des Arabischkenners Juan Duran de Torres (datiert 26. Mai 1660; in Mayans S. 671) an Antonio, der aufschlußreich ist, da er direkt im Anschluß an die höflichen, ja herzlichen Anredesätze sagt: »So wundert es mich, daß Sie mir keinen Hinweis auf Monsignore Holstenius schreiben, den Ersten dieser Wissenschaftlerschule nach meinem Dafürhalten.« Antonio wußte wohl, wer die Fälscher sind, und wollte nicht lügen.
Auch Gelzer (1898) war von der Nichtexistenz eines Holstenius-Kodex überzeugt.
Mayans läßt auch gleich noch weitere Texte den Bach hinabgleiten: Das Cronicon des Pedro Cesaraugustano (ebenfalls aus Saragossa) ist genauso gefälscht wie die berühmte España primitiva, eine frühe Kirchengeschichte Spaniens, dazu zahlreiche Briefe von Bischöfen und Päpsten, und selbst arabische Texte wie etwa der des »Geschichtsschreibers Rasis«, den es im Gegensatz zu dem bekannten Arzt Rasis nie gab. Zwar hatte Antonio noch an ihn geglaubt und ihn zweimal in seiner Gegenbeweisführung zitiert, aber nun ist dieser von der Kirche zwei Jahrhunderte früher erfundene Araber nicht mehr opportun und wird herausgeschnitten aus dem großen Kuchen. Er brachte auch gar zu viele Anachronismen, zuweilen um ganze Jahrhunderte falsch!
Auch viele andere islamische und sogar jüdische Autoren hatte sich die Kirche als Beweise für die christliche Präsenz in Spanien aus den Fingern gesogen, beziehungsweise durch perfekte Arabisten und Hebräisten in den eigenen Reihen schreiben lassen, wie Mayans nun bekennt. Die Aufdeckung ist nötig, weil das Dogma sich gewandelt hat und diese Autoren nun schädlicher sind als die Zugabe der Lüge. Und ihre Hauptaufgabe, eine katholische Kirche während und vor der islamischen Zeit in Spanien vorzugaukeln, hatten sie ohnehin erfüllt; diese war nicht mehr wegzudenken, selbst wenn einzelne Autoren in Ungnade gefallen waren und als Fälschung verschwanden.
Aber einen »spätantiken« Text über die spanischen Küsten, den des Rufus Festus Avieno, (eine gelehrte Humanisten-Zusammenstellung) verteidigt er weiterhin, bereinigt ihn nur, indem er die vielfach geglaubten Nachrichten über Toledo hinauswirft, die nicht gut zu einem Küstenbericht passen.
Bei dieser kritischen Sichtung werden Heilige und Bischöfe hin- und hergeschoben, alte Kirchenväter »bereinigt« und was sonst noch möglich ist, aber insgesamt glaubt auch Mayans alles, was die Kirche zu jenem Zeitpunkt haben will und solange es in dogmatischer Hinsicht unanstößig ist, wie die Begründung stets lautet. Santiago bleibt weiterhin der erste Bischof Spaniens und Isidor von Sevilla war Sohn adliger Goten. Beides hat sich inzwischen gewandelt.
Angezweifelt wurde schon durch Antonio, daß der so wichtige »Berosos« durch einen Julian Lucas im Jahre 698 in Toledo gesammelt und ergänzt worden sei; das sechsbändige Märtyrerbuch seines Gegners Juan Tamayo hält er sogar für völlig ausgedacht. Und: »Löschen muß man die Erinnerung an die Heilige Märtyrerin Martha, die am 20. September gefeiert wird, denn sie war weder Heilige noch Märtyrerin, sondern sündig und Jüdin,« sagt Antonio im Index. Selbst der große Bolland hat falsche Heilige untergeschoben! Antonio muß es wissen, er stand mit ihm im Briefwechsel.
Die Werke des Heiligen Dionysius Areopagita gelten nun als von Apollinar gefälscht. Sie seien auf der »Conferenz von Konstantinopel 532« (die damit ein weiteres Mal an Historizität gewinnt), ihm zugeschrieben worden. Nach dieser Klarstellung, so meint Antonio, müssen nun einige Stellen in Kirchenväter-Texten, etwa bei Origenes und Damascenus, wieder getilgt werden. Das alles wundert mich jetzt nicht mehr, höchstens die Offenheit, mit der es vorgetragen wird, verblüfft.
Seltsam finde ich allerdings, daß die faustdick aufgetragenen Erfindungen Higueras nicht sofort unter den Tisch fielen. Mußte erst soviel Zeit vergehen, bis ein so gelehrter Mann wie Antonio, der auch zunächst nur an Veränderungen der Originale glaubte, endlich sein enormes Opus schreiben konnte, um diese Lügen zu widerlegen? Ein Opus von 750 zweispaltig beschriebenen Seiten im Oktav-Format, das erst rund ein Jahrhundert nach seiner Abfassung gedruckt werden konnte! Die Widmung an König Johann V von Portugal läßt ahnen, daß hier fremdes Geld im Spiele war, sonst wüßten wir vielleicht heute noch nicht, was da alles gefälscht wurde.
Portugal scheint zu jenem Zeitpunkt – wie heute – in Sachen Aufklärung gegenüber Spanien einen Schritt voraus gewesen zu sein. 17 Jahre nach dem Erscheinen des aufdeckenden Buches von Mayans, 1759, erschien in Coimbra eine große Kirchengeschichte von Tomás da Encarnaçao, in der eine Liste mit allen bis dahin bekannten Fälschungen vorkommt (Bd. I, 73). Allerdings haben sich spätere Wissenschaftler wenig an diese Liste erinnert.

Was hat nun dieser Einblick in die Aufdeckungsgeschichte für unsere Untersuchung gebracht? Er zeigt uns gewisse Eigenheiten der Fälschungsaktion.
Die Große Aktion (wie Kammeier den Vorgang genannt hat) war im ausgehenden Mittelalter angelaufen, ohne daß irgend jemand ein Konzept bereit gehalten hätte, ohne Plan oder Programm. Sie ergab sich allmählich über Generationen hinweg, wobei nur wenige wußten, daß eine Neuschöpfung im Gange war. Meist hatten schon die darauffolgenden Schriftsteller keinen Überblick mehr und akzeptierten die vorliegenden Schriften als das, was in ihnen stand. Dieser Vorgang ist keineswegs ungewöhnlich oder naiv zu nennen, er spielt sich in den heutigen Naturwissenschaften in sehr ähnlicher Weise ab (siehe Friedrich 1997).
Hilfswissenschaften wie zum Beispiel Handschriftenkunde, Archäologie, Münzkunde oder selbst Chronologie sind ja erst in der Renaissance entstanden. Bis dahin kam der Gedanke kaum jemals auf, ob die vorliegende Handschrift zehn oder tausend Jahre alt sei. Es ging um den Inhalt. War er theologisch oder weltanschaulich akzeptabel, dann war die Schrift als solche ebenfalls anerkannt. Dieses rein praktische Herangehen an die Literatur ermöglichte die Eingemeindung von sehr verschiedenen und fremdartigen Gedankengebäuden, gnostischen wie islamischen oder jüdischen, denn sobald ein solches fremdes Werk einmal übersetzt war und in eigener Schrift vorlag, (wobei es ja ohnehin schon umgestaltet wurde,) konnte es – solange die Bedingung der dogmatischen Korrektheit erfüllt war – als ureigenste Schöpfung eingegliedert werden.
Eine solche Offenheit gegenüber fremdem Kulturgut ist heute nicht mehr denkbar. Die Große Aktion war in jeder Hinsicht bereichernd.
Das blieb nicht so. Mit dem Untergang von Byzanz (spätestens) kam ein neuer Wind auf, der sicher auch durch die Flüchtlinge aus dieser ersten Bastion christlichen Denkens ausgelöst wurde. Mit dem dadurch hereindringenden Bewußtsein, daß draußen vor den Toren eine andere Welt lag mit eigener Jahreszählung und Geschichtsvorstellung, mit Literatur und Wissenschaft, die weiterhin einzugemeinden nicht mehr möglich war, begann die Abgrenzung. Nun legte die Kirche fest, welche Bücher zum Wort Gottes gehören sollten (Kanon), welche Vorarbeiten als theologische Grundlage bestehen sollten (»Kirchenväter«), wie die Geschichte der eigenen »Kindheit« aussehen sollte. Es wurde sortiert und gesiebt, geschrieben und gefälscht. Erst mit der nun erstarkenden Renaissance, die besser »Naissance« heißen könnte, wird die Große Aktion zu einer bewußten Aktion. Das schloß jedoch noch immer keine Regelung ein, im Gegenteil: die Disziplin, die vorher auf unabgesprochenem Gemeinsinn beruhte, ging völlig verloren. Die wildesten Blüten schossen ins Kraut. Erst jetzt kam die Erkenntnis auf, wieviele Texte gefälscht sind, und man versuchte, deren Vermehrung zu verhindern. Darum wurden nun erstmals Fälschungen aufgedeckt oder unterdrückt.
Aber das »Cinquecento« verging noch fast ganz in fruchtbaren Diskussionen, wilden Fehden und aufregenden Neuschöpfungen. Erst mit Papst Gregor und seiner Kalenderreform 1582, die seit mehr als einem Jahrhundert gefordert worden war, wurde ein Schlußstrich gesetzt, der Heiden und Ketzern die Stirn bieten sollte. Man begann planmäßig das gewonnene Terrain abzusichern und gegen Eingriffe zu verteidigen. Mit der Bereinigung der »Kirchenväter« und der Erstellung einer verbindlichen Chronologie durch »endgültige« Papstlisten, Konzilien und Investiturstreit, (der selbstverständlich genauso erfunden ist wie alles andere) entstand eine verläßliche Grundlage, die bis heute – von kleineren Kurskorrekturen abgesehen – Gültigkeit hat.
Auch diese Schlußarbeit war noch höchst umstritten. An härtesten Maßnahmen bis zum Mord wurde nicht gespart, sobald das Gebäude ins Wanken geriet. Und das muß zu Anfang recht häufig vorgekommen sein, wenn man bedenkt, daß die Pfeiler nur einzeln nachträglich ausgewechselt werden konnten, und daß die handwerklichen Fähigkeiten auch erst mit den begangenen Fehlern wuchsen. Vielleicht ist diese Absicherung der schwindelnden Mannschaft das spannendste Kapitel der ganzen Aktion gewesen.




INHALT DES GANZEN BUCHS

Vorwort


Programm


Kapitel 1: Die zerbrochene Jahreszählung


Abschnitt 1: Seit Erschaffung der Welt
Abschnitt 2: Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Abschnitt 3: Die spanische ERA
Abschnitt 4: Das magische Jahr Tausendeins
Abschnitt 5: So wird eine Epoche geschaffen
Abschnitt 6: Die Entlarvung der spanischen ERA
Abschnitt 7: Der geniale Regiomontanus

Kapitel 2: Ist eine absolute Chronologie möglich?

Abschnitt 1: Warven, Ablagerungsschichten in schwedischen Seen
Abschnitt 2: Die Radiokarbonmethode verändert unser Geschichtsbild
Abschnitt 3: Ist die Karbonbestimmung wissenschaftlich?
Abschnitt 4: Sind Eisschichten datierbar?

Kapitel 3: Die Präzession als Zeitmaßstab

Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?

Kapitel 4: Der Hebel von außen

Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie

Kapitel 5: Ausbreitung des Islam

Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer

Kapitel 6: Wann entstand unsere Bibel?

Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte

Kapitel 7: Die Werkstatt der Humanisten

Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera

Kapitel 8: Bereinigung

Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«

Kapitel 9: Chronologenprobleme

Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?

Neue Aufgaben

Literatur


Stichwortverzeichnis


Uwe Topper als Katastrophist