Kapitel 5: Ausbreitung des Islam

Inhalt des Kapitels

Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer


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Abschnitt 1: Im Kernland des Islam

Im Jahre 1840 entdeckte der englische Staatsmann und Forscher Austen Henry Layard im syrischen Wüstensand die Ruinen des Prunkschlosses von Mschatta.. Als Bauzeit nimmt man 743-744 an, was jedoch umstritten ist. Aus diesem 8. Jahrhundert, also rund 100 Jahre nach Einführung des Islam, wurden noch weitere solche Schlösser bekannt. Ihnen allen gemeinsam ist die eigenartige Freskenmalerei, die keineswegs islamisch sondern heidnisch-persisch wirkt. Im Palast von Chirbat al Mafjar (Israel, datiert 740-750) sieht man Jagdszenen und mythologische Wesen wie geflügelte Pferde, in Qusayr 'Amra in Syrien (712-715) neben arbeitenden Männergestalten auch nackte Frauen und sogar allegorische Personen wie Historia und Poesia, Sport und Ringkämpfe ... Im Vorsaal eines Bades gab es eine Szene, wo ein thronender Herrscher von sechs Königen umgeben ist, die durch arabische und griechische Schriftzüge teilweise identifizierbar waren: Schah Chosrau II von Iran, der 611 bis 619 Syrien und Ägypten eroberte, und Roderich, der letzte Gotenkönig, der 711 in der Schlacht am Guadalete gegen den Perser Musa ben Nusayr fiel; ferner sieht man einen Kaiser von Byzanz und einen christlichen König von Äthiopien.
Alle diese Darstellungen, besonders eindeutig die Tanz- und Badeszenen, und natürlich auch die Skulpturen, sind für die Lebenszeit der Kalifen Hischam und Walid II, für die sie gemalt sein sollen, undenkbar, wenn damals der Islam seit drei Generationen den Zeitgeschmack geprägt hätte. Unmöglich ist die Darstellung des »Kalifen in Gewandung eines sassanidischen Großkönigs mit Flügelkrone auf dem Haupt« (wie Enderlein 1990 schreibt, zit. nach Zeller 1993b). Auch in Samarra gab es derartige Bilder im Palast, in öffentlichen Gebäuden und Privathäusern (nach Ernst Herzfeld, zit. in Ettinghausen 1977).
Schaut man sich den Palast von Qusayr 'Amra an (abgebildet in Milicua 1993, Abb. 338), dann ergibt sich aus der Quaderbauweise und der Einfachheit des Tonnengewölbes, daß er aus spätantiker Zeit stammt, wohl aus dem 4. oder 5. Jh.. Der Palast von Cheir el Gharbi (727) ist wegen seines quadratischen Grundrisses als römische Villa anzusprechen. Die Malereien zeigen eine Göttin der Erde mit Becher in der Hand, Seeungeheuer, Jäger, Musiker, Negersklaven.
Wenn man die dekorativen und architektonischen Elemente aller dieser Bauten richtig einordnen will, muß man sie um 300 Jahre zurückdatieren. Bleiben sie dabei mit den omayadischen Kalifen verbunden, was auf Grund der Schriftquellen als sicher angenommen wird, dann rückt der Beginn dieser islamischen Dynastie ebenfalls 300 Jahre tiefer.
Die zum selben Zeitraum gehörenden Münzen tragen – genauso überraschend –heidnische Köpfe im Stile von Chosrau und Yäsdegird mit dem Emblem der Flügelsonne der Zoroastrier, nur am Rande in winzigen Buchstaben die islamische Basmalle (Glaube 1973).


Ein der Dichtkunst zugewandter König vom Stamm der Lachmiden, Imr'ul Kais, der ab 250 (»etwa«) als Vasall der Perserkönige Schapur bis Bahram I und II (siehe Altheim I, S.125) in Hira regierte, gehört sprachlich und kulturell eigentlich direkt in die letzten Generationen vor Mohammed. Dieser Imr'ul Kais war (nach Altheims scharfsinniger Argumentation) im Jahr 293 n.Chr. abtrünnig geworden und zu Byzanz übergelaufen, wie auch seine Grabinschrift besagt, die ins Jahr 223 der lateinisch überlieferten Arabischen Provinz-Ära datiert ist. Da diese Ära 106 n.Chr. begann, ergibt sich 328 n.Chr. als Todesdatum. (Es soll laut Enzyklopädie des Islam 1913, I, S.396 die älteste arabische Inschrift sein.) Damit hatte sich die Dynastie »christianisiert«, wie Tabari ausdrücklich vermerkt. Den arabischen Historikern zufolge (Hischam, Tabari, Hamza u.a.) habe Imr'ul Kais 113 oder 114 Jahre regiert. Auf ihn folgt eine mehrere Jahrzehnte dauernde Leerstelle (Enc. Isl. Bd. V, 1986), danach beginnt die Geschichte von Hira erneut mit persischen Vasallen (unter Bahram Gor, 420-38), die ebenfalls als Lachmiden (oder als Djudham, ein verwandter Stamm) bezeichnet werden und große Dichter hervorbrachten, deren Texte überliefert sind, diesmal ganz greifbar überliefert in den letzten Jahrzehnten vor Mohammed (und bis zum Sassaniden-Ende). In der Erinnerung des frühen Islam sind sie die Sänger, die um den Preis stritten, ihre Lieder in der Kaaba aufgehängt zu sehen (Mu'allaqat). Als vornehmster unter ihnen wird ein Prinz aus Hira genannt mit Namen Imr'ul Kais, der seine letzten Jahre im byzantinischen Exil verbrachte.
Wir haben also zweimal einen König oder dichtenden Prinz Imr'ul Kais aus dem Stamm der arabischen Lachmiden in der Stadt Hira an der Peripherie Persiens im Abstand von rund drei Jahrhunderten.
Gewiß, die Parallele ist nicht umwerfend, aber doch überraschend. Vielleicht entstand sie dadurch, daß die Nachrichten über Imr'ul Kais auf zwei völlig getrennten Wegen zu uns kamen, einmal im römischen und das andere Mal im arabischen Zeitmaßstab. Stutzig macht mich bei derartigen Zeitverschiebungen immer, daß niemand die Schwachstellen kritisiert: Ein König, der 114 Jahre regiert, füllt doch wohl eine enorme Leere aus, danach folgen noch weitere leere Jahrzehnte, obgleich der König Imr'ul Kais mehrere tüchtige Söhne hatte, wie seine Grabinschrift besagt. Und dann beginnt alles von vorne.
Altheim (I, S. 115) schreibt weiter: Vor der Mitte des 3. Jahrhunderts unterwarfen die Kinda – einer südarabischen Inschrift zufolge – den Stammesverband der Ma'add im Gebiet von Mekka. Der Dichter Imr'ul Kais (traditionell im 6. Jh.), der selbst ein Kinda war, nennt sie »eine Schar von Jemeniten«. Sie wurden schließlich Nachfolger der Lachmiden in Hira. Aber (S. 129) seiner Grabinschrift zufolge war es Imr'ul Kais von Hira (also 3. Jh.) selbst, der die Ma'add von Mekka besiegt hatte. Da springt die Geschichte ständig zwischen den beiden – 300 Jahre auseinanderliegenden – Zeitpunkten hin und her.
Und das geht so weiter: Die altarabische blühende Stadt Dedan mit Hunderten von Inschriften ist ab Beginn des 4. Jahrhunderts verlassen, heißt es bei Altheim (S. 138), aber »Juden bewohnten noch zur Zeit Mohammeds die Stätte«. Letzteres ist aus schriftlichen Quellen der Zeitgenossen Mohammeds bezeugt. Die Juden hätten aber sicher Grabsteine und Inschriften hinterlassen. Wenn diese um 300 enden, dann ist das Mohammeds Zeit gewesen. Dasselbe gilt auch für Taima', wo im 6. Jahrhundert noch ein jüdischer König herrschte, der mit (dem Dichter) Imr'ul Kais befreundet war. Die Stadt Taima' lag aber seit ungefähr 300 in Ruinen. Archäologisch gesehen und nach lateinischen Zeitmaßstäben bemessen ist also 300 und nicht 600 die Zeit, in der Imr'ul Kais und die jüdischen Könige, die Mohammed kannte, lebten.
Was nun die Sprache selbst betrifft: Die Inschrift auf dem Grabstein von Imr'ul Kais ist reinstes Arabisch, das sich sogar mit genau bezeichneten Eigenheiten bis ins 6. Jh. gehalten hat (S.151). »Man kann demnach sagen, daß das Nordarabische, als es erstmals aufgezeichnet wurde, im großen und ganzen den Zustand erreicht hatte, der fortan geblieben ist.« (S. 156 f). Also seit dem Jahre 328 spätestens.
Das Wüstenschloß von Mschatta mit seinen heidnischen Bildern hat Altheim wegen eines dortigen Grafitto dem Perser Bahram II zugeschrieben, und möchte gerne dessen Vasallen Imr'ul Kais als Bauherrn annehmen, während andere nicht weniger kompetente Wissenschaftler es mit ebenso guten Argumenten in die frühe Omayadenzeit verlegen; dazu paßt, daß Al-Mas'udi eine Nachahmung dieses Schlosses dem Abbassidenkalifen Mutawakkil (nach 850) zuschreibt. Da kann man als unparteiischer Beobachter eigentlich nur beiden Gruppen recht geben und König Imr'ul Kais als Zeitgenossen oder direkten Vorgänger der Omayaden ansehen. Damit wird das 4. Jahrhundert der Spätantike gleich dem 1./2. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung. Diese Gleichsetzung begegnet uns häufig, wenn wir Geschichtsdaten des christlichen Zeitstrahls mit denen der islamischen Skala vergleichen.




Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen

Wie wurde eigentlich dieser Neuanfang der Hedschra-Zählung, die besser zu »325« paßt, auf das Jahr 622 gesetzt? Wenn ein Einschnitt im byzantinischen Bereich auffällig ist, dann müßte es das Jahr 614 sein, in dem Jerusalem mit dem »Heiligen Kreuz« an die Perser verlorenging. Vermutlich hat diese Eroberung und Zerstörung von Jerusalem eine große Zahl von Flüchtlingen in Bewegung gesetzt, die sich über ganz Nordafrika und Europa ausbreiteten und mit ihren Ideen zur Entstehung des Christentums beitrugen. Außerdem wurde dadurch das Verlangen zur Rückgewinnung, also der Aufbruch zu den Kreuzzügen, geschürt. Die Christenfeinde des Orients werden von nun an bis zum näheren Kontakt mit dem Islam »Perser« genannt. In Illigs These ist 614 das letzte echte Jahr der AD-Zählung bis 911. Die dabei übersprungenen 297 Jahre sind natürlich nur ein Rechenmodus. Sie entstanden durch die Verschiebung der beiden Zeitskalen, nämlich der später erstellten christlichen gegenüber der älteren islamischen Zeitrechnung.
Der Abstand von 8 Jahren zwischen 614 und dem heute offiziellen Beginn der Hedschra (622) gibt wieder ein kleines Rätsel auf. Die Lösung stelle ich mir so vor:

1. Angeregt durch die islamische Hedschra-Jahreszählung wurde durch die Wandalen in Nordafrika und Süditalien, bald darauf auch im westeuropäischen Gotenreich, eine ähnliche Jahreszählung aufgestellt, deren Anfang rückerrechnet auf Cäsars Kalenderreform gelegt wurde: die Era. Man berechnete nun, daß das Hedschra-Jahr 1 dem Era-Jahr 369 entspreche, und legte fest, daß das Konzil von Nizäa gleichzeitig mit dem Ereignis der Hedschra stattgefunden habe. Dieses Konzil bekam zum Zweck der Abgrenzung gegen den Islam eigene Konturen (nizänisches Glaubensbekenntnis).

2. Die Bindung des Hedschra-Beginns an das Konzil von Nizäa war der Kirche später peinlich, darum legte man seinen Zeitpunkt neu fest. Man wählte nach der Offenbarung des Johannes die »apokalyptische« Schreckenszahl 666 für den Hedschra-Beginn und sagte: Hedschra 1 gleich Era 666, was nun – minus 44 (Era-Beginn v.Chr., erstes und letztes Jahr zählen mit) – AD 622 entspricht.
Damit werden gegenüber der Hedschra 297 Jahre übersprungen (622 – 325 = 297), eine zunächst unwichtige Zahl. (Allerdings fällt die Rückererrechnung von Cäsars Reform nun nicht mehr auf 45 sondern auf 38 v.Chr., wie ich vorhin schon zeigte.)

Wiederum wird die Zahlenmystik christlicher Mönche sichtbar, die bewußt das Era-Jahr 666 wählten, um das islamische Ereignis mit dem Antichrist in Verbindung zu bringen, was man ab dem 11. Jahrhundert auch in theologischer Hinsicht allgemein kundtat. Wenn nun Era 369 das wirkliche Jahr des ersten Weltkonzils der Kirche und damit das Anfangsjahr der Hedschra war, dann ergeben sich 297 Jahre als später eingeschobener Zwischenraum. Und im Bereich des Hedschra-Beginns verschieben sich die Ereignisse um 8 Jahre vorwärts auf dem Zeitstrahl, das Antichristjahr 614 also auf 622.
Dieser komputistische Zeitsprung ist signifikant und kann bei der Erstellung einer neuen Chronologie eines Tages brauchbare Hinweise auf die jeweilige Quelle beziehungsweise die Umrechner der Daten geben: Da man in der Renaissance nicht mehr 911 AD sondern (minus 297) das Jahr 614 AD für den Fall von Jerusalem ansetzte, ergab sich gegenüber 622 – dem Antichristjahr der spätmittelalterlichen Mönche und dem neuen Anfangsjahr der islamischen Hedschra – eine Lücke von acht Jahren. Wegen ihrer Nähe zu den 7 Jahren der Verschiebung von Jesu Geburt bedarf es größter Aufmerksamkeit, den Fehler jeweils richtig einzuordnen.



Zum neuen Ansatz der Epoche der Hedschra wurde Era 666, das Jahr des Falls von Jerusalem, gewählt. Zieht man 297 Jahre ab, erhält man Era 369, das nach ursprünglicher Umrechnung ( – 44) dem Jahr 325 AD entspricht, dem Jahr des 1. Weltkonzils der Kirche und eigentlichem Ansatz der rückerrechneten Hedschra. Durch die spätere Verschiebung der Geburt Christi um 7 Jahre entstand ein zweites Datum für Nizäa: 318 AD als Jahr der ersten »Großen Synode«.


Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer

Mit einer Zahlenverschiebung ist nichts erreicht, wir müssen echte Hinweise auf ein Zusammentreffen von Personen und Ideen vorweisen, wenn diese These sinnvoll sein soll.
Dieses Zusammentreffen ist recht gut bei Geiserich zu beobachten, der in den Jahren um 429 seinen berühmten Zug über Gibraltar in Richtung Karthago unternahm. Unser Volksheld Geiserich war vielleicht Moslem, anders kann man sich seine ungewöhnliche Leistung nicht erklären. Wie blauäugig dieser Wandalenzug in unserer Geschichtsschreibung dargestellt wird, möchte ich noch einmal verdeutlichen:
Wenn beim Übersetzen über die Meerenge von Gibraltar hundert Boote zur Verfügung stehen, ist das viel – man denke an den durch römischen und iberischen Raubbau fehlenden Wald für den Bootsbau! Und wenn auf jedem Boot fünfzig Menschen mit ihrer Habe, den Karren und dem Vieh Platz haben, ist das schon sehr viel. Dann dauert der Vorgang des Übersetzens von 80.000 Menschen, selbst wenn nur ganz wenige Tage mal Sturm auftritt (an dieser Meerenge allerdings ein häufiger Ärger), immer noch einen halben Monat. Damit fällt die Überfahrt der Wandalen ins Wasser. Aber selbst wenn es weniger Leute waren und man auf der anderen Seite von Glaubensbrüdern herzlich empfangen wurde – was bei den Rifberbern eher unwahrscheinlich war – dann hat man bis Karthago immer noch einen Landweg von einigen tausend Kilometern vor sich, entlang einer zerklüfteten gebirgigen Küste. Über diese Heldentat schweigen die Historiker meist schamhaft. Vielleicht spielen bei derartigen »Geschichten« die biblische Überlieferung von den 40 Wüstenjahren der Kinder Israel oder noch ältere Sagenmotive eine prägende Rolle.
Wenn aber diese Eroberung Nordafrikas – genau wie die Andalusiens – eine von Wandalen und Berbern und Perser-Arabern gemeinsam gegen Byzanz gerichtete Sache war (was die zweisprachigen islamischen Münzen um 100 Hedschra nahelegen, siehe Codera 1879 und I. Topper 1998), erhellen sich manche Unklarheiten. Dann würden auch die arianische Geisteshaltung dieser frühen islamischen Bewegung und die streng religiöse Triebfeder der Wandalenführung, besonders Geiserichs neue Gesetzgebung, plausibel werden.
Ich könnte sogar Isidors Sätze dazu anführen, denn so ungenau er auch mit Jahreszahlen hantiert und so einfältig einige seiner Anekdoten sind, verbergen sich in der gewundenen Ausdrucksweise doch gewisse historische Züge. In Kap. 74 steht: Geiserich »wurde aus einem katholischen Christen ein Abtrünniger und soll sich als erster zu der arianischen Irrlehre bekannt haben.« Das kann nach katholischer Geschichtsschreibung keineswegs stimmen, denn diese osteuropäischen Völkerschaften waren seit der Zeit, da sie eine Art Christentum bei sich duldeten, Arianer. Wenn Geiserich vom Christentum abtrünnig wurde und eine Irrlehre annahm, kann es nur der Islam gewesen sein, der dem Arianismus noch sehr nahestand und vielleicht als Charedschitisch einzuordnen wäre. Nach Isidor sei das im Jahr 428 n.Chr. geschehen, nach unserer neuen Rechnung entsprechend im Jahr 106 Hedschra (325 AD = 1 H, plus 103 Sonnenjahre = 106 Hedschra-Jahre ergibt 428), also kurz nach Einführung des Islams in Andalusien (etwa 97 H). Im nächsten Jahr setzte Geiserich mit seinem Volk nach Afrika über (und zwar direkt nach Karthago), bewegte sich also mit den Seinen in religionsbrüderlichem Umfeld. So erklärt sich der Grund für den von Isidor berichteten Religionswechsel, für Geiserichs neue Gesetze und auch die Möglichkeit für die Besetzung Nordafrikas.
Ein Schema soll dieses Erklärungsmodell verdeutlichen:


Durch die Vorwärtsprojektion des nizänischen Konzils und damit verbundene Verschiebung des Hedschra-Beginns um 297 Jahre nach oben (rechter Strahl) rutschten die spanischen Westgoten in eine frühere Epoche gegenüber den islamischen Andalusiern, obgleich sie deren Zeitgenossen waren (mittlerer Strahl). Auf dem christlichen Zeitstrahl entstanden zwei hintereinander geschaltete getrennte Epochen: eine westgotische und eine islamisch-andalusische (linker Strahl).


Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren

Betrachten wir den »Alten Weltkreis« insgesamt, so bleiben kaum Kulturgebiete übrig, in denen die neuen Erkenntnisse nicht anwendbar wären. Nachdem die arabische Kultur die Erfindungen und Verschiebungen geradezu offensichtlich machte, wären auch die Randgebiete des Islam zu untersuchen. Als Spezialist für die Imasiren (so lautet die heutige Selbstbezeichnung der Berber) in Nordafrika habe ich mich dort besonders intensiv umgesehen und erstaunliche Zusammenhänge aufdecken können (siehe schon 1984, bes. VFG 3 – 94). Die Islamisierung des Maghreb durch Okba ben Nafi 680 (also im Jahr des Blutbads von Kerbala) ist eine reine Legende, denn alle arabischen Historiker beschreiben die Religion der Imasiren – besonders der Bergwata – als Mischung aus Arianismus und Heidentum. Abu Gufail, der letzte große Imam der Bergwata, unterlag den Sunniten in der Schlacht am Wadi Baht im Jahre 911. Die »charedschitischen« Berberreiche von Sidschilmassa und von Tahast erlagen 911 den Fatimiden. Damit begann die Islamisierung des Maghreb. 150 Jahre später fand sie ihren Abschluß mit der Vernichtung der Bergwata durch die fanatischen Almoraviden in einer Schlacht, in der Abdallah ben Yasin fiel (1059). Durch die Almohaden wurden sie 90 Jahre danach völlig aufgerieben und verschwanden aus der offiziellen Geschichte. Bis heute sind sie als Regraga durchaus lebendig und für Völkerkundler von höchstem Interesse, weil sie alte »frühchristliche« (arianische) Sitten bewahrt haben. Der Zusammenhang ist also wieder derselbe: Erst im 10. Jahrhundert beginnt die arabische Bewegung und wird im 11. Jahrhundert erfolgreich. Da die Araber selbst ein ganz anderes Bild davon zeichnen, das bereits 300 Jahre eher ansetzt, muß in den Darstellungen eine Zeitverschiebung vorliegen.
Übrigens verpflanzten die sunnitischen Sieger einige der bekehrten Bergwata-Stämme aus Marokko nach Spanien, an die Nordgrenze des Kalifats von Córdoba (in die Grafschaft León), als Grenzbollwerk gegen die asturischen Christen. Doch diese »Mauregaten« hatten nichts Eiligeres zu tun, als von dort aus die Rückeroberung zu beginnen, indem sie sich als allerchristlichste Krieger unter der Fahne ihres Imams, eines Reiters mit wehendem weißen Burnus, zusammenschlossen und mit diesem »Santiago Mohrentöter«(von Compostela) in jahrhundertelangen Kämpfen den Islam aus Andalusien vertrieben. Insofern ist der Begriff »Wiedereroberung« (Reconquista) doch nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Über diese maurischen Herren Andalusiens finden wir in einem zeitgenössischen Dokument der Gegenseite, dem Rolandslied, einige Hinweise.
Offensichtlich ist das Rolandslied von dem Dichter Turold während des Aufrufs zum ersten Kreuzzug nach Palästina geschaffen worden. Vorgeschichte dazu war der Beginn der christlichen Eroberung Südspaniens. Die im Rolandslied enthaltenen »historischen« Behauptungen, etwa daß der 200-jährige Kaiser Karl Spanien bis nach Sevilla erobert oder das sarazenische Heer im Ebro ersäuft hätte, nimmt niemand mehr ernst. Aber sonst hält man dieses älteste Dokument fränkischer Heldendichtung für vertrauenswürdig. Ich will nur einen Punkt herauslösen:
Die Vorstellungen vom Islam im Rolandslied sind ganz anders, als wir heute lernen. Das könnte der Vorsorge entsprechen, über gegnerische Ideen nichts Wahres verlauten zu lassen, zugleich auch bedeuten, daß das christliche Volk über den Islam anderes wußte als wir heute. Nach damals angeblich 450 Jahren islamischer Nachbarschaft und Auseinandersetzung mit dem Abendland ist das bedeutsam. Es ist nur erklärbar, wenn sich die Entstehung des modernen Islam gerade damals abspielte. Da werden drei Götter oder Propheten des Islam genannt, Mohammed, Apollin und Tervagant. Mohammed ist bekanntlich der Gründer. Der zweite, Apollin ist ein teuflischer Geist, den wir nur aus der Offenbarung des Johannes kennen. Und Tervagant ist uns heute völlig unbekannt: es ist die berberische Waldgottheit, eine Art weiblicher Pan oder Silvanus, also eine heidnische Göttin der Nordafrikaner. Selbst wenn der Dichter bewußt den Islam als heidnisch hinstellen wollte, hätte er doch diesen Namen nur dann benützen können, wenn er seinerzeit auch verstanden wurde. Ich schließe aus diesen Hinweisen, daß die Offenbarung des Johannes noch eng mit dem Islam zusammenhing, und daß die Berber – die echten Kriegsgegner – eine synkretistische Religion hatten, die dem Heidentum noch sehr nahe stand.


Abschnitt 5: Gleichsetzung

Nur wenigen europäischen Kennern der islamischen Geschichtsforschung (Wellhausen. Spengler, Olagüe, Lüling) konnte der Ausbruch aus der »Schriftgläubigkeit« gelingen und damit der Durchbruch zu einem neuen Verständnis, das auch chronologische Korrekturen zuläßt.
Grundlegend war Oswald Spenglers Ansatz mit seinem Jahrhundertbuch: Der Untergang des Abendlandes (1918-22). Er nannte das konstantinische Recht arabisch und kalifal (1979, S. 636), was weder in Bezug auf Sprache noch Inhalt der Gesetzgebung Konstantins im 4. Jahrhundert zutreffen kann, aber eben doch den Sachverhalt der Gleichzeitigkeit genau beschreibt. Spengler beruft sich auf mehrere gelehrte Vorgänger bei seiner Erklärung, der Islam sei direkt aus der Spätantike im 4. Jh. entstanden und habe im 5. Jahrhundert seine volle Kraft entfaltet. Die damit implizierte Zeitverschiebung übergeht er, weil er weiß, daß er etwas Wesentliches erkannt hat. Seine Einstellung zu Zahlen ist ohnehin weitsichtig: »Eine Zahl an sich kann es nicht geben, ... sondern indischen, arabischen, antiken, abendländischen Zahlenbegriff, jeder von Grund auf eigen und einzig.« (S. 79)
Der ungemein weitblickende deutsche Islamwissenschaftler Günter Lüling hat seit zwei Jahrzehnten die Akademiker mit seinen neuen Entdeckungen überrascht und dabei seinen Lehrstuhl an der Universität Erlangen verloren. 1992 hat Illig sich in einer Rezension von Lülings Büchern (VFG 2–1992) diese Gedanken zu eigen gemacht und – gegen Lülings erklärte Absicht – erfolgreich auf seine These angewandt. Aus Lülings Erkenntnissen zeigt sich, daß die Kette der Überlieferung aus unterschiedlich gutem Material geschmiedet ist, jedenfalls nachträglich geschmiedet, mit tagespolitischen Absichten und trügerischem Glück.
Genaugenommen – sagt Lüling – gehört der Islam als judenchristliche Erscheinung zur Kirchengeschichte, aber obgleich er von zahlreichen Theologen jüdischer wie christlicher Ausbildung in den letzten beiden Jahrhunderten mit großem Fleiß studiert wurde, hat man doch versäumt, seinen ideengeschichtlichen Standpunkt richtig zu orten. Dieser liegt nämlich vor allem hinsichtlich seiner Engelchristologie nicht allzu fern der arianischen Ketzerei. Damit kommt er drei Jahrhunderte zu spät, fügen die Zeitrekonstrukteure Angelika Müller (1992) und Manfred Zeller (1993b) an. Was sich angeblich in »unserem« 7. Jahrhundert abspielte, müßte im 4. Jahrhundert passiert sein.
Hinzukommt: Die phänomenal schnelle Ausbreitung der islamischen Religion ist erklärungsbedürftig, denn sie widerspricht den Fakten, die wir gemeinhin von der arabischen Halbinsel und den Machtstrukturen ihrer Nachbarreiche kennen, wie auch Wellhausen betonte. Wenn die neue Idee nicht auf vorbereiteten Boden fiel, das heißt: wenn die Bekehrung nicht im Sinne einer inneren Mission oder Reformation ablief, sondern als Eroberungszug, der in Windeseile das seinerzeit größte Reich der Welt entstehen ließ, dann versagen sämtliche Erklärungsmechanismen. Eine Vorbereitungsphase von rund 150 Jahren hält Lüling für die Grundvoraussetzung.

Vom Arianismus wissen wir nur durch die Kirche, und das in verzerrter Weise. Soviel ist allerdings klar: Der Arianismus ist nicht vergessen.
Als fremder Beobachter eines orthodoxen Gottesdienstes fiel mir ein seltsames und völlig anachronistisch anmutendes Detail auf: Der Priester verflucht feierlich dreimal hintereinander den Ketzer Arian und die Gemeinde stimmt ihm gesenkten Hauptes zu. Mit diesem Anathema, wie es in der Kirche genannt wird, werden alle zur Hölle verurteilt, die wie Arian glauben, daß Jesus nicht völlig Gott gleich, sondern ihm in mancher Hinsicht untergeordnet sei, also eher ein göttlicher Mensch als ein menschgewordener Gott. Arian hatte diese Glaubenshaltung, die seit den Anfängen des Christentums existierte, ab dem Jahr 313 lautstark vertreten und die Mehrheit aller christlichen Völker auf seiner Seite gehabt. Goten und Wandalen, alle orientalischen Christen und zahlreiche Gruppen im Byzantinischen Reich bekannten sich dazu. Ein deswegen einberufenes Konzil, das berühmte »Erste Ökumenische Konzil« der gesamten Christenheit, in Nizäa im Jahre 325 unter Konstantin d.Gr., verdammte Arianus, heißt es, und legte die heutige christliche Glaubensform fest.
Da aber Konstantin sich nachträglich selbst auf die Seite der Arianer stellte, wurden diese wieder anerkannt, nur Arian wurde – angeblich am Abend vor seiner Wiederaufnahme in den Schoß der Kirche – ermordet. Das war im Jahre 336. Nach langen Streitigkeiten und echten Kämpfen konnte erst auf dem Konzil von Konstantinopel 381 eine weitgehende Einigung erzielt werden, durch die die Anhänger Arians als Ketzer verdammt wurden.
Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wandelte sich das Bild zugunsten der orthodoxen Kirche, und heute gibt es keine arianische Kirche mehr. Deswegen überrascht die tägliche Verdammung des Erzketzers in allen orthodoxen Gottesdiensten einen fremden Beobachter wie mich.
Natürlich kann man annehmen, daß diese tägliche Verdammung einer unerwünschten Lehre als Vorbeugungsmaßnahme gegen eventuelle Abweichler wirken soll. Könnte sie nicht eher das Gegenteil bewirken, nämlich die ständige Erinnerung an den großen unbesiegten Feind, der ganz nahe lauert? Konnte sich die orthodoxe Kirche von diesem »Blinddarm« nicht befreien, weil die Gefahr keineswegs gebannt ist?
Wer könnte dieser mächtige Feind sein, der nicht glauben will, daß Jesus selbst Gott ist? Die Juden kommen nicht in Frage, sie ignorieren den historischen Jesus schlichtweg. Im Islam jedoch hat Jesus eine hervorragende Bedeutung; er ist der letzte Prophet vor Mohammed und wird eines Tages mit ungeheurer Machtfülle wiederkehren und das Jüngste Gericht einleiten. In dogmatischer Hinsicht ist Jesus für den Islam wichtiger als Mohammed. Die Entstehungsgeschichte des jungen Islam aus dem orientalischen Christentum – hier ist wieder Lüling als modernster Vertreter dieser Erkenntnis zu nennen – erklärt diesen Zusammenhang. Was die islamische Einstellung zur »Göttlichkeit« Jesu betrifft – sie ist eindeutig arianisch: Jesus war ein begnadeter Mensch.
Wenn diese kirchengeschichtlichen Vorgänge tatsächlich so eng verstrickt sind, wenn zwischen Arian und der Entwicklung des Islam in Arabien ein echter Zusammenhang besteht, dann fällt eine der größten Ungereimtheiten der frühen Kirchengeschichte weg, nämlich die fehlende Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden Islam. Obgleich die islamischen Heere schon bald die Grenzen des Römischen Reiches überschritten und obgleich Mohammed selbst (angeblich) drei Jahre vor seinem Tod einen Brief an den Kaiser in Byzanz mit der Aufforderung zum Übertritt zum Islam schickte, finden wir jahrhundertelang keine Streitschriften, Verdammungen oder Versuche seitens der Kirche als Antwort auf diese übermächtige Sekte. Es sei denn, die beiden genannten Konzilien von Nizäa und Konstantinopel wären als eine solche direkte Antwort auf die Gefahr zu verstehen, und alle späteren Streitschriften gegen die Arianer ebenfalls.
Die Gleichsetzung der beiden geschichtlichen Ereignisse, also des Konzils von Nizäa und der Entstehung des Islam, ist natürlich eine spätere Fiktion, aber sie macht deutlich, wie der Zeitstrahl manipuliert wurde.
Schauen wir uns die Ereignisse an, wie sie offiziell dargestellt werden:
Das Konzil von Nizäa ist zwar nur durch einige sehr späte Briefe bezeugt, – Akten gibt es nicht – aber die Hauptthemen, die man dort verhandelte, sind bekannt:
1. die arianische Ketzerei, Jesus sei nicht völlig Gott gleich gewesen,
2. die Anerkennung des Bilderkultes, und
3. ein Kalenderproblem (die Festlegung des Osterdatums, beziehungsweise des Frühlingsbeginns) .
Zwei dieser drei Probleme spielen die Hauptrolle in Mohammeds Lebenswerk:
1. Er verdammte jede Behauptung, daß Gott irgendeinem Wesen gleichen könne, also auch weder einen Sohn habe noch Sohn von jemandem sein könne, womit er als Arianer einzustufen ist. Dies – formelhaft in der »Sure der Einheit« (112) schon sehr früh ausgedrückt, – ist wichtigster Glaubensinhalt des Islam.
2. Mohammed wandte sich mit besonderem Eifer gegen den Bilderkult, was sich ebenfalls bis heute strengstens erhalten hat und typisch arianisch ist.
3. Auch der Zusammenhang mit dem Kalenderproblem taucht auf: Mohammed mußte zehn Jahre vor seinem Tod seine Heimatstadt Mekka verlassen und bei den toleranteren Juden von Yathrib (=Medina) Zuflucht suchen. Dieses Jahr wurde als Beginn einer neuen Zeitrechnung, der Hedschra (latinisiert Hegira), eingesetzt. (Dieser Beginn wurde sehr viel später durch Rückrechnung ins christliche Jahr 622 gelegt.)
Die Übereinstimmung der drei Hauptpunkte ist auffällig, nun die nüchternen Zahlen:
Das Jahr 1 der Hedschra entspricht heute dem Jahr 622 AD. Wann die Gleichsetzung erfolgte, ist noch zu klären. 622 minus 297 (»Phantomjahre«) ergibt 325, das Jahr des Konzils von Nizäa. Diese beiden Ereignisse, die durchaus kausal verknüpft sein könnten, fallen auf zwei verschiedenen Zeitskalen, nämlich erstens der nachträglich errechneten Zählung seit der Geburt Jesu und zweitens der vielleicht schon bald nach Mohammeds Tod – der Legende nach im Jahre 17 H – eingeführten Hedschra-Zählung auf ein und dasselbe Jahr, wenn man die Illigsche These von den 297 zuviel gezählten Jahren in Anwendung bringt.
Ein Einwand, der hier besondere Berechtigung hat, lautet: Die frappierende Übereinstimmung von Grundmustern im religiösen oder politischen Bereich muß nicht unbedingt mit Zeitgleichheit erklärt werden, sie kann auch andere Gründe haben. Die Wiederholung gewisser Geisteshaltungen oder Kunststile ist ja ein typisches Geschichtsmerkmal, das wir zum Beispiel unter dem Begriff Renaissance einreihen. Auffällig wird es erst dort, wo einmalige oder individuelle Züge auftreten, die gerade durch ihr Nichthineinpassen aus dem Zeitrahmen fallen. Ich fand bald einige auffällige Punkte in diesem Sinne heraus.
Arian begann seine Bewegung im Jahr 313, und Mohammeds Auftreten als Prophet wird meist um 610 angesetzt, das sind wieder 297 Jahre Abstand. Derselbe Abstand liegt, wie gesagt, zwischen Arians Verurteilung und Mohammeds Flucht. Beim Todesdatum der beiden Gestalten, nämlich 336 für Arian und 632 für Mohammed, ist die Lücke allerdings ein Jahr kleiner. Dies würde bedeuten, daß man Arian erst beseitigen konnte, nachdem einer seiner mächtigsten, aber durchaus eigenwilligen Anhänger im »fernen« Medina gestorben war.
Auch die darauf folgenden Ereignisse, die häufigen Spaltungen der Arianer sowie das abschließende Urteil des Konzils von Konstantinopel 381, spiegeln sich in den streitenden Bewegungen des jungen Islams. Die Spaltung der Arianer wird nach den Versammlungen von 343 besonders deutlich, das entspräche Hedschra 18, der beginnenden Entfremdung von Alis Gruppe. Die Schlacht von Kerbela (59 Hedschra), die die erste Spaltung des Islams besiegelte, wäre etwa zeitgleich mit dem Konzil von Konstantinopel (381). Die Hedschra-Jahreszählung erhält damit besonderes Gewicht als Maßstab, wenn man ihn an der »richtigen« Stelle ansetzt.
Die sogenannte »Flucht« (Hedschra) des Propheten aus Mekka (622) erschien abendländischen Orientalisten wie auch islamischen Theologen wie ein Stolperstein. Sowohl aus unserer Kenntnis der damaligen Blutracheverhältnisse der arabischen Stämme, die einen geplanten Mord an Mohammed ausschließen, als auch in Hinblick auf die religiöse Toleranz der mekkanischen Christen und der persischen Oberhoheit – denn die Perser waren die Herren Arabiens im 7. Jahrhundert – erscheint die »Flucht« in seltsamem Licht. Das Wort Hedschra wird heute besser mit Umzug oder Trennung wiedergegeben, um dieses Problem zu umgehen. Verständlich wird die »Flucht« dennoch erst, wenn wir das sich nun anbahnende neue Bild betrachten: Im 4. Jahrhundert gehörte Mekka zum Römischen Reich, und das keineswegs tolerante Byzanz hatte gerade alle Anhänger Arians verdammt. Unter diesem Gesichtspunkt wäre eine Flucht für Mohammed lebenswichtig gewesen.
Deswegen ist weder der Beginn der Offenbarungen Mohammeds noch ein entscheidender Sieg über die feindlichen Mekkaner und auch nicht die letzte triumphale Wallfahrt des Propheten als Beginn der neuen islamischen Zeitrechnung gewählt worden, sondern ein kirchengeschichtliches Ereignis, wie es sich für eine Religionsgründung ziemt: der Konzilsbeschluß, der die Flucht des Propheten aus dem christlichen Mekka und seine Aufnahme bei den Juden von Yathrib (Medina) auslöste, womit der endgültige Bruch mit der Mutterkirche besiegelt wurde. Der erste Teil dieser Aussage ist allbekannte Geschichtskenntnis, neu ist, daß der Zeitpunkt auf unserem Zeitstrahl anders liegen muß.
Da in Nizäa außerdem Kalenderfragen erörtert wurden und die gregorianische Kalenderreform des 16. Jahrhunderts sich auf Nizäa als Zeitbasis für den Frühlingspunkt berief, erscheint mir der Zusammenhang mit der Einführung der Hedschra-Jahreszählung naheliegend.
Können wir nun die Hedschra einfach als gesicherte Basis für eine Neuordnung der Jahreszahlen nehmen? Leider nicht, denn wir müssen bei jedem Datum neu fragen: Wer hat es überliefert? Mit welchem Zeitstrahl wurde es verknüpft? In welchen geschichtlichen Rahmen gehört es?
Erkennbar wird aber, daß zu einem gewissen Zeitpunkt kirchlicher Geschichtsschreibung das nizänische Konzil und die Hedschra des Propheten als ursächlich verbunden und zeitgleich angesehen worden waren. Erst ein später erfolgter Sprung über 297 Jahre hat die beiden Rückprojektionen auseinandergerissen und damit den Zusammenhang und die gegenseitige Abhängigkeit der beiden monotheistischen Religionen verschleiert.

Von dem geradezu märchenhaft klingenden Siegeszug des Islam (angeblich in der ersten Hälfte des 7. Jh.) haben die byzantinischen Schriftsteller seltsamerweise keine Kenntnis gehabt, obgleich er sich ja vor ihrer eigenen Haustür abspielte und ihren Herrschaftsbereich ernsthaft einengte. Lüling hat dies (1981) bestens nachgewiesen: außer zwei oder höchstens drei sehr vagen Andeutungen bei Theologen wie Johannes von Damaskus und Isidor von Sevilla gibt es keine Hinweise auf den Islam jener Zeit.
Auch den damaligen Westeuropäern, die ja ebenfalls vom Islam bedroht und unterjocht worden waren, wenn man unseren heutigen Büchern glauben will, war der Islam unbekannt, wie der Spengler-Schüler Ignaz Olagüe mit seinen Büchern minutiös bezeugt. Wie die Begeisterung der ersten Kreuzfahrer unterstreicht, hat man gerade erst Ende des 11. Jh. so recht erfahren, was sich im »Heiligen Land« vor angeblich mehr als 450 Jahren abgespielt hat. Einer der ersten abendländischen Gelehrten, der über den Islam berichtete, war der (getaufte) jüdische Arzt Pedro Alfonso (1106) in Spanien. Damals soll Andalusien bis jenseits Toledo und Zaragoza schon 400 Jahre in islamischer Hand gewesen sein.
Auch die islamischen Theologen der ersten Jahrhunderte der Hedschra setzen sich keineswegs mit dem Christentum auseinander, sondern mit Manichäern, Mazdäern und Zoroastriern. Dieses gegenseitige Nicht-zur-Kenntnisnehmen vor dem 11. Jh. beruht wohl darauf, daß es vorher diese beiden Religionen noch nicht gab.

Wenn wir die Folgerungen aus der Gleichsetzung ernstnehmen und dem Islam die Stellung einräumen, die ihm gebührt als Gegenentwicklung zur Entstehung des Christentums, folgt, daß die Anerkennung des »orthodoxen« Christentums als Staatsreligion hauptsächlich dadurch ausgelöst wurde, daß sich andernorts die arianische Ketzerei kraftvoll durchsetzte. Die Sassaniden begünstigten offensichtlich diese Ketzerei, die sich später zum Islam hin entwickelte, da sie der sich gerade bildenden christlichen Kirche des Hauptfeindes Byzanz widersprach. Daher kommt es, daß die sassanidischen Schahinschahs den späteren Islam förderten und umgekehrt von islamischen Schriftstellern akzeptiert wurden.
Schon Rudi Paret hatte 1954 die Bruchstelle in der Überlieferung der ursprünglichen Korantexte erkannt. Lüling (1981) konnte diese präzisieren: Für anderthalb Jahrhunderte besteht eine vollkommene Lücke, und ein weiteres Jahrhundert ist nur schwach belegt. Außerdem hatte er (1974) herausgearbeitet, daß zahlreiche Suren oder Verse auf frühchristliche Lieder syrischer oder äthiopischer Herkunft zurückgehen.
Erst im 10. oder gar 11. Jahrhundert liegt die Schlußredaktion des gesamten Koran vor, d.h. im 4. Jahrhundert der Hedschra. Wenn wir aus diesen Hinweisen und den schon vorher angestellten Vermutungen ein zusammenhängendes Bild entwerfen wollen, ohne die islamische Tradition der willentlichen Fälschung zu bezichtigen, bleibt nur die Schlußfolgerung, die Lüling (1981, 309 f, alle Hervorhebungen G.L.) so ausdrückt:
»Die politisch und religionspolitisch verantwortlichen unmittelbaren Nachfolger des Propheten haben sich angesichts der innen- und außenpolitisch gefährlich labilen Situation des Frühislam in realistischer Einschätzung der sophistischen schriftkulturellen Überlegenheit der hellenistisch-christlichen Imperiumstheologie verständlicher Weise anders entschieden, haben mit der Verdrängung und Verleugnung der christlichen Vorgeschichte des Koran und des Islam die Anknüpfungspunkte ... beseitigt und höchstwahrscheinlich tatsächlich allein durch diese Selbstverstellung des Islam den Islam davor bewahrt, seine mit Mühe errungene religiöse und machtpolitische Unabhängigkeit vom Christentum ... wieder an das hellenistisch-christliche Imperium zu verlieren.«
In diesem Zusammenhang spricht Lüling von der »Leerstelle im Geschichtsbild«, die »mit falschen Geschichtsdaten« gefüllt wurde. Und noch ein abschließendes Zitat aus Lülings überragendem Buch (1981, S. 411, Anm.1):
»Die gesamte altarabische Historiographie ist in der Zeit bis ca. 400 d.H./1000 n.Chr. unter geschichtsdogmatischen Grundprinzipien völlig umfrisiert worden. Die europäische Islamwissenschaft hat sich mit diesem Problem nie grundsätzlich in der Weise auseinandergesetzt, daß sie generell die Frage gestellt oder beantwortet hätte, welches zentrale Motiv hinter dieser in der altarabischen Literatur überall deutlich erkennbaren Umarbeitung der Quellen gestanden hat.«


Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz

Die Vorarbeiten haben gezeigt, daß die zeitlichen Zuordnungen, die wir in der Schule gelernt haben, nicht stimmen können. Viele Wissenschaftler haben die Verwirrungen festgestellt und doch nicht die einfache Lösung gefunden, die eine neue Chronologie der Ereignisse bieten würde. Wenn zum Beispiel klar erkannt wird, daß der Islam nicht 600 Jahre nach der christlichen Religion als andersgeartetes Originalprodukt entstand, sondern gleichzeitig mit dem Christentum, wodurch sich beide Religionen in generationenlanger Reibung aneinander erst entwickelten und somit Geschwister sind, ergibt sich eine neue Einsicht. Dadurch werden Vorurteile und Haßmechanismen abgebaut. Ohne diese Hoffnung würde sich diese unsagbar schwierige Arbeit der Rekonstruktion nicht lohnen.
Geschichtsschreibung ist zeitweise Erfindung. Von einer Rekonstruktion der tatsächlichen Geschehensabläufe konnte nur selten die Rede sein. Das Zerreißen des großen Flickenmantels abendländischer Geschichtsschreibung beschert uns kein haltbares Netz, in dem wir nun nur noch die »echten« Geschehnisse korrekt unterzubringen hätten. Was mit der neuen Erkenntnis aber möglich ist – nämlich aufzuzeigen, welche Zusammenhänge, Parallelen und Strömungen bestanden haben – kommt mir schon sinnreich vor.
Die Kürzung des Mittelalters um 297 Jahre, die Illig vorschlägt, kann die Chronologie nur an einer Stelle, nämlich in unserer eigenen Historie, ins Lot bringen. Sowohl der Zeitabstand als auch die Plazierung der Lücke kann durchaus anders liegen, wenn wir es mit einer anderen Überlieferungskette zu tun haben, also zum Beispiel 38 oder 45 Jahre weniger in Byzanz betragen oder um 300 Jahre versetzt in Arabien liegen.
Entscheidend im neuen Geschichtsbild ist also nicht, daß es richtigere Daten der Vergangenheit liefert, sondern daß es die offensichtlichen und nie geklärten Probleme der Historiographie lösen hilft, daß es aus dem Wirrwarr eine überblickbare Situation herausschält. Für unsere Generation wird damit vielleicht ein Schritt in Richtung Objektivität getan, aber schon in der nächsten Generation wird sich zeigen, daß auch diese Rekonstruktion romanhaft ist, durch die Brille unserer eigenen Zeitvorstellungen gesehen.

Es ergibt sich nun, daß aus dem germanischen Völkerwanderungsbegriff, der uns allen bewußt ist, ohne zeitlichen Zwischenraum das deutsche Reich der Sachsen, Franken und Baiern entsteht, das von den »Ungarn« den Steigbügel übernahm und eben diese Reiter dadurch besiegen konnte. Sie gehörten vermutlich zu der als Türkenwelle im gesamten Asien spürbaren Steppenvölkerbewegung (Ungar von türk. On-Uigur = Zehn Stämme). Zur gleichen Zeit stieg in Arabien eine eigenwillige christliche Ketzermacht auf, die fast die ganze Alte Welt überschwemmt hätte mit ihren neuen und äußerst praktischen Ritualen, der Islam.
Als Abwehrmaßnahme schufen die heidnisch-christlichen Völker Europas ihre Ideologie des Tausendjahr-Begriffs. Durch die Endzeiterwartung wurden die Völker Mittel- und Nordeuropas zu einem einheitlichen Kulturkreis zusammengeschweißt, der damit auch den anderen Kulturen seine Vorstellung von Geschichte aufzwingen konnte. Mit dieser schlagfertigen Begründung der Zeit konnten die christlichen Theologen später auch fremde Völker, vor allem Moslems und Chinesen, zu ihrer neuen Sicht der Geschichte bekehren.
Mit der neuen Sicht entstand im Laufe der Jahrhunderte eine völlige Umgestaltung der Weltgeschichte, die ganz andere Konstellationen und Konfrontierungen zur Folge hatte. Wir können das heute nicht mehr ermessen, denn unser Geschichtsbild ist ein für allemal geformt von dieser Neuschöpfung. Eine Rekonstruktion kann eigentlich nur punktweise einsetzen und sie hat nur dann Erfolg, wenn klargestellt ist, daß es sich bei dem Datengerüst um eine Erfindung handelt, die mit Raffinesse ausgebaut wurde.
Es geht um eine organische Neuverteilung der Zusammenhänge. Diese ist nur über einen korrigierten Zeitstrahl möglich, der uns bisher für jeden Kulturkreis in verschiedener Weise vorliegt. Eine Zuordnung der unterschiedlichen Zeitbegriffe könnte eine sinnvolle Übersicht über die gesamte Menschheitsgeschichte bringen.
Eine Kritik muß noch ausgesprochen werden: Die technologische Entwicklung muß genausowenig wie die philosophische, künstlerische oder religiöse Entwicklung stetig voranschreiten, sondern kann Sprünge, auch rückwärts, machen. Der Begriff der Renaissance ist ja gerade sichtbarer Ausdruck für ein solches Ereignis, bei dem man vorgab, rückwärtsschauend einen älterer Zustand wiederhergestellt und damit einen Sprung nach vorn getan zu haben. Daß gerade die humanistische Renaissance des Cinquecento organisiert und manipuliert war, ändert nichts an dem Erscheinungsbild, das sich uns im Rückblick darbietet.
Schreiten wir voran zur Hochburg, aus der die Renaissance ihr Material bezog.

Ab »330« schuf Kaiser Konstantin eine neue Hauptstadt des Römischen Reiches, Konstantinopel am Goldenen Horn, die auch als Hafen für Wandalenflotten (die es damals noch gar nicht gab) schwer einnehmbar war.
Durch die Anlage dieser uneinnehmbaren Hauptstadt konnte ein weiterer Schritt vollzogen werden: die Christianisierung des Reiches. Erst gegen sechzig Jahre später (»390«) war sie vorläufig abgeschlossen, das rechtgläubige (»orthodoxe«) Christentum wurde Staatsreligion. Italien löste sich 395 von Byzanz ab, brach 476 unter Odoaker zusammen und wurde dann von Ostgoten beherrscht. Fortan gab es nur einen Kaiser im Abendland, den rechtgläubigen Herrscher aller Christen am Bosporus. Unter Justinian d.Gr. im 6. Jahrhundert erlangte Byzanz seine Glanzzeit mit prächtigen Bauten und großer Machtfülle. Von den Küsten Andalusiens und Nordafrikas über Süditalien und viele Inseln bis zu den Grenzen des Persischen Reiches herrschte ein Wille, galt eine Währung und eine Religion. Der allmähliche Niedergang wird persischen und arabischen Angriffen zugeschrieben, inneren Wirren (»Bilderstürmer«) und allgemeiner Dekadenz. Ab Mitte des 9. Jahrhunderts beginnt ein neuer Aufschwung mit der makedonischen Dynastie.
Was uns hier zunächst interessiert, ist der Zeitraum vom Tode Justinians (565) bis zum Regierungsantritt des ersten Makedoniers, Basileios (867), 302 Jahre. In dieser Zeit wurden keine Kirchen gebaut, keine selbständigen Bücher mehr geschrieben, keine Schlachten geschlagen, zumindest nicht, soweit es byzantinische Quellen selbst betrifft. Allerdings läßt sich dies nicht so ohne weiteres nachweisen, denn durch das Spiel der Historiographen sind einige Bruchstücke auch in diese Dunkelzeit hineingerutscht. Soweit es sich um Bulgaren- oder Araberangriffe handelt, wissen wir schon, daß diese vermutlich an anderer Stelle auf dem Zeitstrahl liegen müssen. Aber wenn man in Griechenland und Anatolien zu jener Zeit auch keine Kirchen oder Klöster baute, müßten die Menschen weitergelebt haben, nimmt man an. Der Beweis fällt schwer.
Datierte Inschriften gibt es im byzantinischen Mittelalter in großer Zahl, doch leider ist fast nie klar, um welche Zeitrechnung es sich bei der jeweiligen Jahreszahl handelt. Verschiebungen um einen Betrag von 260 Jahren sind durchaus möglich, etwa wenn die Seleukiden-Ära und die Märtyrer-Ära zur Auswahl stehen, wie Carl Kaufmann (1917, S.70) an einem Beispiel erläutert. Von Kontinuität kann wirklich nicht die Rede sein in diesem turbulenten Raum.
Geschichtsschreibung gab es in diesem Zeitabschnitt, aber sie beschränkte sich auf Auszüge und Zusammenstellung älterer Texte. Das kann zu irgendeiner Zeit geschehen sein. Die Autoren sind immer Geistliche; von Dichtung und Philosophie, die im griechischen Sprachgebiet ansonsten nie versiegt war, finden wir in diesem Zeitraum keine Spur. Mit den Makedonen setzt dann wieder normales geistiges Leben ein, der zweite Kaiser, Leo VI, »der Weise«, war selbst Schriftsteller, ebenso Konstantin Porphyrogennetos, der ab 914 regierte und noch einige Überraschungen bringen wird.
Der Durchgang dieser letzten Bastion antiker Bildung durch drei dunkle Jahrhunderte ist den modernen Historikern unklar, woraus sich ein beachtenswerter Wissenschaftlerstreit entspann, der unter der Überschrift Kontinuitätsdebatte bisher ohne Abschluß geführt wird. Die Frage lautet: Gab es einen Bruch oder ging das Byzantinische Reich kontinuierlich von der Antike ins feudalistische Mittelalter über.
In einer ganzen Reihe von Spezialgebieten tritt dieses Problem in etwa gleicher Weise auf. Niemitz (VFG 1-1994) hat sein Augenmerk auf die Themenreform gerichtet, eine Wandlung der militärischen Verwaltung zwischen 450 und 950, – also über ein halbes Jahrtausend – deren Struktur nirgends so recht faßbar ist. Die Reform wird einfach aus äußeren Umständen, die wir als geschichtlich annehmen, rückerschlossen. Dokumente jener Zeit liegen nicht vor, nur Texte nach dem Abschluß der Umwandlung. Wie diese zu beurteilen sind, werden wir noch sehen.
Der Bildersturm (726 bis 842) war eine heikle Angelegenheit im orthodoxen Christentum, die mehr an islamische Mission als an innerchristliche Diskussion denken läßt. Warum, fragt sich Niemitz (S. 72, Anm. 5), sind die symbolischen Kreuze als sichtbares Ergebnis des Bildersturms bis heute übriggeblieben, während von den Bilderstürmern selbst keine einzige Schrift zeugt? Die »katastrophale Quellenlage« für diese Dunkelzeit ist nicht nur verwunderlich, sondern öffnet auch weit die Tür für jede Art von Interpretation und Klitterung. Ich halte es – im Sinne Spenglers (1918-22) – für denkbar, daß diese Reformbewegung gegen die Ikonen mit einer anderen Zeitströmung zusammenhängt, nämlich mit dem Eindringen der orientalischen (»islamischen«) Ideen im 5. und 6. Jahrhundert. In syrisch-christlichen Texten ist dieser Streit vermerkt. Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts übergehen diesen Streit jedoch, erst in der neuen Geschichtsschreibung des 10. Jahrhunderts beginnt er historisch zu werden. Der Sieg der Bilderverehrer wird seitdem alljährlich in den orthodoxen Kirchen als »Fest des rechten Glaubens« gefeiert. Wenn der Streit im 6. Jahrhundert entschieden wurde, das 7. bis 9. aber wegfallen, ist es folgerichtig, wenn ab dem 10. Jahrhundert das Ergebnis gefeiert wird.
Die neue Darstellung der »langen« Entwicklung von Byzanz seit dem Untergang der Antike ist eigenartigerweise ganz plötzlich entstanden. Illig hat (in VFG 4-5, 1992) einen Artikel über den »Erzfälscher Konstantin VII« veröffentlicht, der deutlich macht, wie unser heutiges Byzanzbild geschaffen wurde. Illig zitiert Schreiner (1991, S. 13), der die Umstellung der Schrift von Majuskeln (Großbuchstaben) zu Minuskeln (Kleinbuchstaben) im 9. Jahrhundert beschreibt. Es war eine Tätigkeit, die wie immer still vor sich ging. Man geht davon aus, sagt Schreiner, daß jeweils nur eine einzige Vorlage eines Textes abgeschrieben und dann meist vernichtet wurde. Dies erforderte Planung, Leitung und Zentralisierung. Mit Sicherheit war eine große Zahl von Kopisten tätig, die gute Kenntnisse in der klassischen Sprache hatten. Bei genauerem Hinsehen ist dies »eine Ungeheuerlichkeit«, meint Illig, und fährt fort: »Das Schriftgut der damals führenden Kulturnation ist binnen ein, zwei Generationen komplett neu geschrieben worden. Seit diesem krassen Traditionsbruch sehen wir alles Frühere durch einen Filter, der im 9. Jh. über die Vergangenheit gelegt worden ist.« (Illig 1992, S. 133).
Als Erklärung für die Umschreibe-Aktion der Mönche von Konstantinopel wird in einer »Lebensbeschreibung der Patriarchen« angegeben, daß man um 870 die Majuskel des 6. Jahrhunderts nicht mehr lesen konnte, weshalb Spezialisten sich die Mühe machten, alle alten Texte in die neugeschaffene Minuskelschrift zu überführen. Illig dreht den Spieß um und behauptet, »daß alles Alte deswegen neugeschrieben wurde, damit die Originale nicht mehr eingesehen werden konnten. Offenbar enthielten sie Sachverhalte, die nicht mehr tradiert werden, sondern untergehen sollten; dies läßt sich jedoch nur indirekt schließen, da die Originale ja vernichtet worden sind.« (ebenda)
Die »Erklärung« läßt noch einen weiteren Sachverhalt durchblicken: Nicht nur uns fehlen Texte der drei Jahrhunderte, sondern: schon damals gab es keine! Der Bruch von der Majuskel des 6. Jahrhunderts zur Minuskel des 9. Jahrhunderts ist künstlich erzeugt, denn wenn sich die Wandlung der Schrifttypen allmählich über drei Jahrhunderte vollzogen hätte, wäre für die brutale Neuschreibung keine Rechtfertigung zur Hand gewesen.
Hinsichtlich der Chroniken jener Zeit wird die »Ungeheuerlichkeit« noch offensichtlicher. Der hochintelligente Konstantin VII Porphyrogennetos (= der »Purpurgeborene«), Mitregent ab 911 und alleiniger Kaiser ab 913, ließ 50 Bände einer Enzyklopädie herausgeben, die alles damalige Wissen zusammenfaßt. Drei dieser Bücher hat er selbst geschrieben, natürlich mit besonderem Fleiß das Kapitel über seinen Großvater Basileios I (ab 867), den Gründer der neuen Dynastie.
Diese umfangreiche Enzyklopädie bringt Auszüge aus antiken und byzantinischen Schriftstellern, die wir oft nur in dieser knappen Form kennen, was »freilich auch den Nachteil hatte, das Werk mancher einzelner Autoren für immer verschwinden zu lassen,« wie Schreiner (1991, S. 14) sagt. Noch Jahrzehnte nach Konstantins Tod (959) waren Schreiber damit beschäftigt, die von dem Epoche machenden Kaiser befohlene Aktion zum Abschluß zu bringen. »Das uns verfügbare Wissen von Byzanz über seine eigene Vergangenheit ist vollkommen geprägt durch die Aktion des 9. Jahrhunderts und durch Konstantins Wirken,« faßt Illig (1992, S. 134) den Tatbestand zusammen. Unsere Kenntnis der Vorgänge zwischen Heraklios (610 – 641) und Konstantin VII, also für rund drei Jahrhunderte, ist nur in den Schriften niedergelegt, die durch die Redaktion des »purpurgeborenen« Kaisers gegangen sind. Und dies ist nicht etwa Illigs umstürzende neue Idee, sondern Allgemeinwissen der Historiker.
Diese nehmen an, daß der Grund für die Neugestaltung der Vergangenheit darin lag, daß Konstantin die Anfänge seiner Dynastie beschönigen wollte. Er schrieb seinem Großvater, der sich vom Pferdeknecht durch Kaisermord zum Herrn von Byzanz aufgeschwungen habe, eine enorme Anzahl von herrlichen Bauten zu, die allerdings nicht mehr gefunden wurden, im Gegensatz zu denen Justinians d.Gr. im 6. Jahrhundert, die bis heute stehen. Mit Recht fragt nun Illig, wieso die Herkunft als Pferdeknecht und der mehrfache Mord an den damaligen Autoritäten eine glanzvolle Vergangenheit herbeischaffe.
Die Betonung der kaiserlichen Abkunft des Konstantin in seinem Zunamen Porphyrogennetos (»Purpurgeborener«) verdeckt vielleicht, daß er selbst noch nicht Sohn eines Kaisers war, sondern sich diese Abstammung über Basileios und Leon den Weisen erst durch seine Neuschreibungsaktion geschaffen habe. Dann wären auch diese beiden großen Gestalten Erfindungen Konstantins! Vielleicht war er selbst der Kaisermörder niederer Herkunft und verdrängte diese Tatsache aus den Annalen, indem er sie seinem Großvater in die Schuhe schob?
Illig findet auch einen Anlaß für diese Usurpation des Thrones: den Verlust von Jerusalem an die Perser 614 unter Heraklios. Damit hatte jener Kaiser seine Autorität vollkommen verloren. Konstantin, der sich an die Stelle setzt, ist nicht nur so klug, den Thronwechsel zu kaschieren, sondern bemäntelt auch die Tatsache der christlichen Niederlage durch eine bald darauf folgende – natürlich fingierte – Rückeroberung des heiligen Kreuzes Jesu, die man dadurch bewies, daß man unzählige Holzsplitter an alle Kirchen des Abendlandes verteilte. (Auch das ist selbstredend eine Erfindung späterer Zeit).
Folgen wir Illig noch einen Schritt weiter: Phokas (602-610), der ungeschlachte und grausame Soldat auf dem Kaiserthron, war durch den karthagischen Admiral Heraklios gestürzt worden, der ab 613 den zwei Jahre alten Konstantin III zum Mitregenten erhebt, der sich aber nach dem Tod von Heraklios 641 nur drei Monate auf dem Thron hält und irgendwie geschichtslos bleibt. Der purpurgeborene Konstantin VII wird als Sechsjähriger 911 Mitregent und zwei Jahre später Kaiser, allerdings von einem Flottenadjutanten namens Romanos sieben Jahre später in den Hintergrund gedrängt und kann sich erst als gestandener Mann 944 wieder als Alleinherrscher behaupten. Illig setzt nun – nach einer Idee von Manfred Zeller – die beiden Flottenführer Heraklios und Romanos einerseits und die beiden Konstantine andererseits gleich. Die Abstände zwischen diesen parallel anmutenden Vorgängen spielen – um 3 bis 4 Jahre ungenau – jeweils um die 300-Jahrgrenze. Die fast identischen Ereignisse und Personen werden als Überschneidung aufgefaßt. Der künstlich eingeschobene Zeitraum wurde durch die Umschreibeaktion Konstantins und seiner Kleriker mit erfundenem Material gefüllt und dadurch überbrückt. Das müßte dann durch »Kaiserin« Theophanu auch nach Mitteleuropa gebracht worden sein und ihren Sohn Otto III inspiriert haben.
Da dieser Rekonstruktionsversuch auch noch in die verkürzte persische Geschichte und die davon abhängige arabische Entwicklung erklären hilft, kommt er mir als Arbeitshypothese brauchbar vor. Ein aus dem späten 11. Jahrhundert stammender in Paris erhaltener Kodex von Konstantins wichtigster Schrift (heute als De administrando imperio bekannt) wird von Illig (ZS 2 – 1997, S. 235) »geradezu als Programmschrift für den Aufbau der fiktiven Geschichtsepoche« bezeichnet.
Es gibt aber hier wieder jenen Einwand, der zunächst unumstößlich klingt: Man schaue sich die Münzen an! Auch wenn Berge von Pergamenten neugeschrieben und Inschriften nachträglich angebracht werden, und wenn Irrtümer bei der Datierung von Kunstgegenständen vorkommen, weil sie in ein gefälschtes Zeitraster eingeordnet wurden – Münzen sind Gebrauchsgut, sie können nicht in so großer Zahl gefälscht und dann auch noch als Hortfunde versteckt werden. »Niemand, der im Mittelalter Unruhe stiften will, kommt an den feinsortierten Schubläden der Münzspezialisten vorbei« (sagt Paul C. Martin, VFG 2–1994, S.5). Ich fühle mich an die Siebenschläfer von Ephesus erinnert, deren Zeitsprung ja durch die Münze des Jünglings aufgefallen war (Topper 1994).
Mit detaillierter Sachkenntnis hat Paul C. Martin sich des Münzproblems angenommen und einen ersten Durchbruch erreicht (Vortrag am 14. 5. 1994 in Bremen): Entgegen aller numismatischen Erfahrung fehlt eine Entwicklung des Münzbildes für diese drei Jahrhunderte in Byzanz. Das Aussehen der byzantinischen Münzen von Justinian bis Konstantin VII hat sich dermaßen wenig gewandelt, daß es meist ganz unmöglich ist, die Münzen den aus der Geschichtsschreibung bekannten Kaisern zuzuordnen. Wenn es doch erfolgt, geschieht es ohne Begründung, rein gefühlsmäßig (Literatur dazu siehe Grierson 1982). Das erinnert mich an das ganz ähnliche Vorgehen der Historiker bei den Kuschankönigen Indiens, wo Münzen intuitiv den gerade erfundenen Scheinkönigen und Doppelgängern zugeteilt wurden.

Ein Rundgang bei den Nachbarn von Byzanz zeigt die schon deutlich gewordene Lücke in der byzantinischen Zeitrechnung: Sie müßte eher beginnen und schon gegen 870 enden, also rund 40 Jahre vor der im Abendland festgestellten Lücke.
Kaiser Basileios bestieg als Begründer der makedonischen Dynastie den Thron von Byzanz im Jahr 867 (entsprechend der Neuordnung der Chroniken durch seinen Enkel Konstantin Porphyrogennetos). Dies ist wahrscheinlich der erste Anhaltspunkt für die neue Zeitschreibung. Für Chan Boris, den ersten König Bulgariens, dessen Taufe 864 den Eintritt dieses Landes in die Geschichte markiert, gilt dasselbe. In Böhmen ließ sich Herzog Boriwoj mit seiner Gemahlin Ludmilla 874 taufen und machte dadurch erstmals Geschichte in diesem Raum.
Die Mission der Slawenapostel begann offiziell 862 oder 869 (der Siebenjahressprung wegen der uneinheitlichen Festlegung der Geburt Jesu verfolgt uns immer wieder). Entsprechend hängen alle Daten in diesem Raum davon ab: Das »6.« Ökumenische Konzil von Konstantinopel (869/70) sowie das älteste Dokument für ein altkirchenslawisches Vaterunser (870) und die päpstliche Bulle zur Absegnung der slawischen Mission, »Gloria in excelsis Deo«, die auf 870 gelegt wurde, sind 38 bis 44 Jahre eher datiert, als zu erwarten wäre.
Diese Verschiebung weist auf eine frühe Koordinierung mit der julianischen Era hin. Gerade das wichtigste Datum, die Thronbesteigung des Dynastiegründers Basileios 867, geht auf den Anfang bei Cäsar zurück. Zählt man die obligatorischen 44 Jahre hinzu, erhält man 911, das typische Anfangsdatum in Mittel- und Westeuropa. Auch Isidor macht in seiner Zeittafel zweimal diesen »Fehler«: Er hatte in der Etymologia den Ansatz der julianischen Era um 38 Jahre zu spät auf das (echte) Geburtsjahr Jesu gelegt, und für die Mission des Wulfilas (in der Gotengeschichte) ebenfalls ein rund 40 Jahre zu spätes Datum genannt. Wenn Geiserichs Einführung der Era mit dem Jahr 500 auf byzantinische Tradition zurückgriff, dann wäre dies ein weiterer Hinweis auf die Verschiebung, die nach der Neuordnung der Jahreszahlen am oberen Rand (bei 911) bemerkbar werden mußte, wenn den damaligen Chronisten der wahre Sachverhalt unklar war. Dann bestand der Unterschied an jener Stelle nicht 297 sondern 259 Jahre, wie ich auch an der Tausendjahrreich-Hysterie der Joachimschen Bewegung zeigen konnte: 1001 Era = 1260 AD. In Byzanz begann Geschichte vielleicht schon 911 Era wieder, das heißt in AD umgerechnet 873 (oder sogar 867, wenn man den 7-Jahresfehler einbezieht). Es kommt eben immer darauf an, wer die Jahreszahlen umrechnete: ein byzantinischer oder ein abendländischer Historiker. Isidor war offensichtlich Abendländer, darum fallen seine beiden »östlichen« Daten 38 Jahre zu spät aus.

Bei vielen Untersuchungen der mittelalterlichen Ketzerbewegungen, auch in der esoterischen Literatur, gibt es Zeitprobleme im byzantinischen Umkreis. Wer über die Entstehung der Katharer (= Albigenser), einer seltsamen und doch höchst wichtigen Bewegung des christlichen Hochmittelalters, und ihre gewaltsame Zerschlagung durch die katholische Kirche schreibt, wundert sich über die Kette, aus der die Katharer sich herleiteten. Von byzantinischen Paulinikern über die Bogomilen Bulgariens und Bosniens führt der Weg ins südliche Frankreich und ins Herz Deutschlands. Aber zwischen den Paulinikern und der anatolischen Gnosis, aus der sie entstanden waren, liegt ein Sprung über einen enormen Zeitraum, der rätselhaft bleibt. Wir kennen die gnostischen Schriften bis ins 4. und 5. Jahrhundert, kennen die Skulpturen und Grabsteine dieser heidnisch-christlichen Synthese, von denen ich mir Prachtstücke in Afyon-Karahissar ansehen konnte (Topper 1988, S. 175), deren Schlangen und Frauengestalten orientalisch fremdartig anmuten, aber doch eindeutig zur antiken Welt gehören. Sie enden ebenfalls etwa in Justinians Zeit. Wir kennen die Manichäer und den iranischen Hintergrund der Gnosis. Die Ausbreitung der Pauliniker beginnt jedoch frühestens im 9. Jahrhundert, die Mission Bogomils (= »Gottesfreund«) nicht vor 870 (nach anderen erst 940, Topper S. 176), und verläuft damit etwa zeitgleich mit der Slawenmission von Method und Kyrill. Zwischen der spätantiken Gnosis und der mittelalterlichen »Reinheitsbewegung« (Katharer) klafft eine Lücke von einem halben Jahrtausend, die geisteswissenschaftlich höchst seltsam berührt. Mühlestein (1957) hat ausdrücklich darauf hingewiesen.

Armenien, dieses rauhe Gebirgsland an der Nahtstelle zwischen Byzanz und Persien, ständiger Zankapfel der beiden Großmächte im Mittelalter, hat einige Ereignisse, zum Beispiel den Arabersturm, hautnah miterlebt und in seinen Chroniken der Nachwelt überliefert. Zwar decken sich die arabischen und die armenischen Berichte nicht völlig, aber doch so weitgehend, daß man eine gemeinsame Quelle annehmen möchte. Leider liegen auch hier die Texte nicht mehr im Original vor, sondern in Verarbeitungen späterer Generationen. Das hochgebildete armenische Volk, das sich im 5. Jahrhundert durch Bibelübersetzungen eine eigene Schriftsprache schuf, Theologie pflegte und klassische Literatur der Griechen bewahrte, erlebt Anfang des 7. Jahrhunderts einen geistigen Niedergang, der bis zum 10. Jahrhundert andauert. Von dann an fließen die Texte wieder in gewohnter Weise. Die große Lücke überbrückt ein einziger Autor, der Presbyter Leontius, der 662 bis 770, also 108 Jahre gelebt haben soll und als Kronzeuge natürlich besonders kritisch untersucht werden müßte.
Sebeos jedenfalls, der sich als Augenzeuge ausgibt und unsere Hauptquelle für die arabischen Angriffe und zeitweiligen Besetzungen des großen Gebirges ist, scheint erst nach der stummen Zeit geschrieben zu haben. Demnach soll der Kalif Othman schon 646 Ersurum erobert haben, während ein byzantinisches Heer mit alanischen und chasarischen Hilfstruppen am Euphrat geschlagen wurde. Die frappierende Ähnlichkeit mit der andalusischen Geschichtsschreibung läßt vermuten, daß es sich auch hier um Legenden handelt. Zweieinhalb Jahrhunderte später werden armenische Könige eingesetzt und gekrönt, sowohl von den Kalifen (äußerst ungewöhnlich für islamische Verwaltung) als auch von den Griechen und den Persern, alle zum etwa gleichen Zeitpunkt (886), jeder in einem entsprechend besetzten Gebiet.
Trotz allem sind die Armenier stolz auf ihre relative Unabhängigkeit und ihre Könige, die je nach den Berichten bis 914 (Enzyklopädie des Islam) oder bis 1080 (Seldschuken-Sturm), sowohl in Kars als auch am Van-See, (Enc. Brit.) regiert haben sollen. Laut Jewish Encyclopedia gab es im 4. Jahrhundert in Armenien mehr Juden als Christen, die aber durch die Perser verschleppt wurden und erst im 9. oder 10. Jahrhundert wieder reiche literarische Tätigkeit entfalten.
In allen Zusammenfassungen der armenischen Kirchen- oder Literaturgeschichte wird der Zeitraum vom 7. bis 9. Jahrhundert als dunkle, fast kulturlose Phase bezeichnet und einfach übergangen. (siehe hierzu auch Heinsohn 1993b) Die zweite Blüte im 10. Jahrhundert hat ihre entsprechenden Parallelen in Andalusien und im Iran, so daß sich für Armenien ganz ähnliche Zeitmuster ergeben.

Für das alte Pannonien (Ungarn) gibt es eine ganz entsprechende Entdeckung: Im 6. Jahrhundert zogen die Langobarden aus Ostnorikum-Westpannonien (östliches Österreich und westliches Ungarn) ab nach Italien, aber »zumindest bis ins 9. Jahrhundert gab Konstantinopel seinen Anspruch auf Pannonien nicht auf«. Dann allerdings rückten die Ungarn dort ein. Lag dieses fruchtbare Land drei Jahrhunderte lang brach?
Zeller findet (ZS 2–1996) denselben seltsamen Forschungsstand für Ungarn: »Die Hinterlassenschaften der Völker aus dem 6. Jahrhundert... sowie die Fortsetzung frühawarischer Funde im 7. Jahrhundert und dann wieder die ungarischen Funde ab dem 11. Jahrhundert sind reichlich vorhanden. Dazwischen aber ist vieles unklar. Manche Fundgruppen werden vom 8. bis zum 10. Jahrhundert hin- und hergeschoben; vor allem kann man immer noch nicht definitiv entscheiden, ob Pannonien im 9. Jahrhundert überhaupt besiedelt war ...«(S. 189). Zeller erkennt, daß zwei Landnahmeberichte, der awarische von 598 und der onugurische von 895, wahrscheinlich ein und denselben Vorgang beschreiben, da die wichtigsten Stammesnamen dieselben sind. Zu allem Überfluß haben Archäologen, um die lange Zwischenzeit von (859 – 598 =) 297 Jahren zu füllen, auch noch ein nicht in den Chroniken verzeichnetes Volk nach ihren ausgegrabenen Ornamenten »Ranken- und Greifenvolk« genannt und in Ungarn Land einnehmen lassen. Dieser Vorgang wird »gegen 700« angesetzt. Alle drei Geschehnisse, sagt Zeller, verdichten sich zu einem einzigen.


Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens

Die sogenannten Chroniken der Mönche haben uns ein Feindbild beschert, das selbst unsere nächsten Nachbarn nicht verschont hat. Die unsagbare Angst, die das christliche Abendland – den Mönchschroniken zufolge – vor den seefahrenden Nordmännern jahrhundertelang ausstand, gehört wohl auch ins Fabelreich, zumindest soweit es die ersten Exzesse dieser Eroberungen betrifft. Schon »um 800« suchen die Wikinger legendärerweise die sächsischen, friesischen und fränkischen Nordseeküsten heim, beginnen ihre Zerstörungen an der Seinemündung (»810«) und rauben das in den Klöstern angehäufte Gold. Bald segeln sie den Rhein aufwärts bis Straßburg, das sie brandschatzen. Ich stelle mir vor allem die Rückfahrt rheinab recht bildlich vor: Beutebeladen liegen die langen hochbordigen Drachenboote gut in der Strömung, von den Recken mit kräftigen Rudern vorangetrieben; mittschiffs wiehern die Heldenrosse. Während die viele hundert Boote starke Flotte das heilige Köln passiert, werfen adlige Damen am Ufer Blumen in die Fluten des Rheins und geben damit Anlaß, daß man sich das nächste Mal (»882«) Köln als Ziel vornimmt, und vor allem moselaufwärts Trier, eine der bestbefestigten Städte des Frankenreiches.
Auch die Erstürmungen von Paris »845« und »866« (und noch öfters), das als schwelender Schutthaufen zurückbleibt, war eine ungemein taktische Leistung, denn mit mehreren hundert Booten den engen Seinefluß aufwärts zu fahren, ohne sich gegenseitig zu rammen, erfordert nicht nur die gewohnte skandinavische Seemannskunst, sondern auch Tollkühnheit und Berserkerwut gegen die am Ufer fliehenden Frankenritter. Zum Glück gehörten zu solch einer flinken Flotte den Chroniken zufolge Zehntausende von nordischen Helden, die übrigens weniger scharf auf Gold als vor allem auf Sklaven aus waren, die man in die Heimat verschleppte, weil dort der Ackerbau durch die alljährlichen Raubzüge der Mannschaft kaum noch gepflegt wurde.
Von geschichtswissenschaftlicher Seite hat man natürlich einleuchtende Erklärungen für diese lemmingartige Flut von heidnischen Seefahrern gefunden, die von Norwegen und Dänemark aus England, Irland, Aquitanien, Andalusien, die französische Provence, Sizilien und Nordafrika heimsuchten. Wie man aus den weiten Fahrten nach Grönland (»grünes Land«), Labrador (Vinland, wo Wein wuchs) und Island schließen kann, war das Klima damals besonders warm, weshalb auf den skandinavischen Feldern Rekordernten eingebracht wurden, die wiederum eine Überbevölkerung auslösten, woraus die Notwendigkeit für die junge Mannschaft entstand, sich anderswo ihr Brot zu suchen.
Da aber archäologischerseits keine Anzeichen für Brandschatzung und nur ausnahmsweise einmal Waffen oder Gräber der Nordmänner gefunden wurden, begann man einen anderen Ton anzuschlagen und spricht nun von Handelsbeziehungen, die ja durch die nordischen Emporien (= Handelsstützpunkte) wie Haithabu, die Vorläufer der Hanse, in vorbildlicher Weise belegbar sind, wenn auch zu anderem Zeitpunkt, wie ein Vergleich des dort gefundenen Danziger Stadtsiegels (von »880«) mit einem entsprechenden von Lübeck (1256) deutlich macht. Man fand in Haithabu auch arabische und persische Münzen, aber keine fränkische Währung, wodurch die Schmach von den christlichen Europäern genommen wird, sich derart feige ausrauben zu lassen. Sollte man nicht besser aus dem regen Handel und den zahlreichen Münzen schließen, daß Araber und Perser damals durchaus Münzen prägten, die Franken aber nicht?
Das stille Abtreten der nordischen Seemacht hat Folgen, die einfach unterschlagen werden: Chroniken der Mönche aus dem 9. oder 10. Jahrhundert, und seien sie auch später geschrieben, erweisen sich somit als Hirngespinste. Wer nur einfach die dort mitgeteilten unglaublichen Zahlen für Menschen und Boote auf ein vernünftiges Maß zusammenstreicht, ansonsten aber die Raubzüge und dazu erfundenen Klöster etc. als Fakten weiterführt, begeht denselben Unsinn, den Olagüe für die Ausbesserung der Chroniken von Andalusien aufzeigte.
Zufälligerweise (?) im Jahr 911 werden diese Normannen dann doch ganz rechtmäßig in die Geschichte eingereiht, nämlich als Lehnsträger des Frankenkönigs Karl (»des Einfachen«), durch den sie im Vertrag von St.Clair-sur-Epte unter ihrem Führer Rollon die von da an nach ihnen benannte Normandie erhalten, die Basis für die zukünftige Eroberung von England. Sicher hat der diplomatische Frankenkönig die Eroberer juristisch sanktioniert, um sein Land vor weiteren Folgen zu schützen.
Eroberungszüge von Dänen in südwestlicher Richtung sind durchaus nicht nur erfunden, sie fanden allerdings in anderer Form und zu anderer Zeit statt, als es uns bisher erzählt wurde. Auf der Iberischen Halbinsel sah man schon »750« die schrecklichen Engel (gemeint sind Angeln aus Jütland) vor den Toren von Córdoba; im nächsten Jahrhundert zerstörten sie Sevilla, von arabischen Chronisten als Magos (Perser) bezeichnet. Absurd wird diese »Geschichtsschreibung« bei den weiteren Abenteuern dieser Truppe: Nachdem sie in einem Scharmützel am Guadalquivir rund 20.000 Gefallene zurücklassen mußten, durchzogen sie 14 Jahre lang das Mittelmeer und kehrten ruhmbeladen auf der Heimfahrt ein zweites Mal an der andalusischen Küste zum brandschatzen und raubmorden ein.
Ganz anders, viel realistischer, lesen sich dann die Erwähnungen von Seefahrerüberfällen auf Galicien in den Jahren 960, 966 und 1016, aus denen vielleicht bei der Geschichtsschreibungsaktion – ganz entsprechend der im fränkischen Reich – die unglaubwürdigen Wikingerzüge in Andalusien gestaltet wurden. Am Rande sei vermerkt, daß auch für die Waräger in Rußland durch ähnliche Korrekturen ein verläßlicheres Bild entstehen könnte. Wiederum bietet der von den Byzantinern (ursprünglich in Griechisch) abgefaßte Vertrag von (907 ? oder) 911 mit den Rus einen ersten Anhaltspunkt für die Legalisierung dieser Händlertruppe und für uns den ersten Hinweis auf Geschichtlichkeit.


Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers

Da gibt sich ein berühmter Historiker, Jacques LeGoff, größte Mühe und schreibt (teils aufbauend auf Bar 1946) ein grundlegendes Werk über Die Geburt des Fegefeuers (1981), wobei er die Entwicklung dieser Vorstellung aus kirchlicher Sicht darstellt. Doch leider fehlt ihm der Durchblick.
Zunächst einmal stellt er formell fest (S. 12), daß es das Hauptwort Fegefeuer (Purgatorium) vor dem 12. Jahrhundert nicht gab, es gab nur das Eigenschaftswort reinigendes (purgatorius, -a, -m) Feuer. Diese Spitzfindigkeit, die schon bekannt war und keineswegs mit dieser Strenge gültig ist, veranlaßt ihn zu der großen Erkenntnis, daß das Fegefeuer erst gegen 1170 im Abendland verbreitet wurde und somit einen neuen theologischen Schritt darstellt. Wo ältere Texte das Wort Purgatorium doch schon haben, muß LeGoff dies als Kopistenfehler, »Emendatio« (moderne Ausbesserung) oder Fehldatierung des Manuskriptes beseitigen.
Purgatorium war aber ein ganz gebräuchliches Wort jener Zeit, ohne theologischen Hintergrund. Es bezeichnete ein juristisch gültiges öffentliches Gottesurteil, meist in Zusammenhang mit Feuer (griech. pyr = Feuer), auch eine medizinische Aktion, nämlich das Austreiben und Reinigen (purgare), und auch sinngleich verwendet mit Purgamentum (= Abfall, Kehrricht, aber auch Entschuldigung, Entsühnung).
Die Texte der sogenannten Kirchenväter, die angeblich schon in der ausgehenden Antike davon sprechen, verwenden meist ignis purgatorius, also reinigendes Feuer. Es soll aber auch flumen purgatorius, reinigender Fluß, und ähnliches vorkommen, so daß man den Eindruck gewinnt, daß jenen »antiken« Autoren der Wortsinn »schon nicht mehr bewußt« war, das Feurige also nur im übertragenen Sinne benützt wurde. Dies stelle ich mir als eine späte Entwicklungsstufe, nicht den Anfang der Begriffsbildung vor.
Die Reihenfolge dürfte also eher so aussehen: zuerst sprach man von Purgatorium als körperlicher oder seelischer Reinigung, dann von Ignis purgatorius im Sinne eines theologischen Konzepts. Oder anders gesagt: Zuerst haben wir die Schriften des 12. oder 13. Jahrhunderts über das Fegefeuer, dann die rechtfertigenden Kirchenväter des angeblich 2. bis 4. Jahrhunderts, die aus dem etwas primitiven Fegefeuer als (heidnischer) Örtlichkeit in der Renaissance einen vergeistigten Sinn schufen, der eine in der Jenseitswelt liegende Strafaktion bezeichnet. Wenn wir uns aber in dieser fast noch heidnischen Welt des 12. Jahrhunderts dem örtlich vorgestellten Fegefeuer von Sankt Patrick in Irland nähern, ergeben sich ganz ungewohnte Einblicke.
Wir wissen ja – ob Laie oder Fachmann, Christ oder Anarchist – was es mit diesem für das Abendland so ungemein wichtigen Fegefeuer auf sich hat: daß es gewissermaßen das Unterscheidungsmerkmal zwischen Ostkirche (Byzanz) und Westkirche (Rom) war; daß es zum Ablaßstreit führte, der die Westkirche noch einmal spaltete in eine Reformierte (oder Evangelische) und eine Katholische; daß es ein Begriff ist, der auch unsere allermodernste Relativitätstheorie noch übersteigt: Ein Ort, der jenseits aller geographischen Bestimmung und jenseits aller bekannten Zeitdimensionen liegt. Das Fegefeuer ist die Bestrafung, die gute Seelen erleiden müssen, weil sie der Erbsünde unterliegen. Es befindet sich in einer Parallelzeit, die nach dem Tod der Einzelperson und vor dem Jüngsten Gericht liegt, also völlig ausgeschlossen aus unserem normalen Zeit- und Raumbewußtsein. Im Fegefeuer leiden Adam und Moses und Papst Petrus I und der Heilige Augustin und Papst Johannes XXIII (ich meine den des 20., nicht des 14. Jahrhunderts). Dennoch ist dieser Ort nicht außerhalb unserer Welt, sondern durch Fürbitte und Opfer zugänglich.
Übrigens will LeGoff die katholische Vorstellung auf diese Dreiteilung festlegen: Himmel – Fegefeuer – Hölle. Dreigeteilt ist die katholische Gottheit. Aber in den Texten des Mittelalters gibt es vielseitigere Ansichten. Oft kommt die symmetrische Vorstellung vor: Himmel als ewiger Ort der Geretteten, Hölle als ewiger Ort der Verdammten, dann Refrigerium (Erfrischung) als vorübergehender Ort der guten Seelen und Purgatorium (Straflager) als vorübergehender Ort der bösen Seelen.
Diese Symmetrie war im 11./12. Jahrhundert vorherrschend. Darum hat auch das Neue Testament, das damals geschrieben wurde, klare Vorstellungen davon. Lukas (16, 22-31) bringt in seinem Lazarus-Beispiel den Gedanken an Abrahams Schoß als Refrigerium. Vorher war das Refrigerium kein Zwischenreich, sondern das Gemeinschaftsmahl der Angehörigen am Grab eines Verstorbenen (Erinnerungsfest). Daraus haben Kirchenschriftsteller einen eigenen Ort im Jenseits gemacht. Paulus (1. Kor. 3, 13-15) weist auf das Fegefeuer hin, noch in etwas unklarer Sprache. Vielleicht wurde dieser Wortlaut auch erst später verdunkelt, um nicht allzu entschieden auszusprechen, was sich ohnehin mit dem gesunden Volksempfinden wieder ändern könnte.
Die dem Refrigerium und Purgatorium zugrunde liegenden Vorstellungen sind völlig heidnisch. Wir können sie heute nur im indischen Sinne mit dem Karma-Denken erklären. Alle begangenen Taten, selbst so nebensächliche wie Lachen oder Schwatzen, werden in einem Buch im Himmel aufgeschrieben, für jede Seele einzeln, und diese Seele muß alle diese Taten im Jenseits, nach dem Tode, abbüßen in einem höllischen Bereich, in Feuer und Wüste, durstend und schmachtend, bis sie entweder die Schuld durch ihr Leiden bezahlt hat oder bis fromme Verwandte mit Heller und Pfennig die Sünden abgeglichen haben.
Das Karma-Denken ist eine Neuerung im Abendland, unchristlich in jeder Hinsicht, aber zeitlich genau bestimmbar: nach den ersten Kreuzzügen. Insofern hat LeGoff völlig Recht mit seiner Zeitbestimmung: Die Geburt des Fegefeuers liegt erst im 12. Jahrhundert, vermutlich etwas später. Die Herleitung aus dem Neuen Testament und den Schriften der Kirchenväter ist unsinnig. Da besteht Gleichzeitigkeit.
Es liegt auch ein wohlgemeinter Versuch seitens der christlichen Kirche darin, die unerbittliche Mauer, die Islam und Judentum zwischen der grausamen und ausweglosen Gehennem/Scheol/Hölle und den herrlichen Gefilden der Seligen (Paradies) aufgerichtet haben, durch einen abgemilderten Zwischenbereich zu überbrücken. Wie begrüßenswert! Nur wer das in historischer Sicht an einer um tausend Jahre verschobenen Stelle ansiedelt, der entzieht dem Versuch den Boden. Nicht die Evangelien oder Paulusbriefe, sondern die Konkurrenzreligionen erforderten – in Angleichung an zeitbedingte Strömungen und an unausrottbaren Volksaberglauben – eine distanzierende Stellungnahme seitens der christlichen Kirche.
LeGoff untersucht alle möglichen Vorgänger, zum Beispiel jenen Text der Perpetua (verfaßt im Jahre 203), der eigentlich besser zu Thomas von Aquin (13. Jh.) passen würde, wie Marie-Luise von Franz, eine Schülerin von C.G. Jung, deutlich ausführte. Diese Passio Perpetuae et Felicitatis (schon der Titel ist hinweisend: »Leiden der Immerwährenden und der Glückseligkeit«) ist eigentlich ein sufisches Traktat simpelster Art, etwas fremd noch im Abendland, aber doch schon annehmbar. Annehmbar gegen 1200 natürlich, der Hochblüte der Sufis. Die Rahmengeschichte von der Einkerkerung der beiden Jungfrauen Perpetua und Felicitas mit ihren drei männlichen Kameraden und ihrer Vertilgung durch Löwen in der Arena ist so wirklichkeitsfremd, daß man als Abendländer eigentlich nie Verständnisschwierigkeiten hatte. Man wußte ja, daß es sich um eine vergeistigte Darstellung handelte, die Einsicht und Besserung des Lebenswandels erwirken sollte. Ein eventueller geschichtlicher Hintergrund war gewiß nicht beabsichtigt. LeGoff allerdings, und mit ihm die anerkannte Geschichtswissenschaft heute insgesamt, halten es für über jeden Zweifel erhaben, daß Perpetua mit ihren Genossen im Jahr 203 unter Kaiser Septimus Severus in Karthago in der Arena getötet wurde. »Selbst die allerstrengsten Kritiker zweifeln nicht an der Echtheit des Kerntextes« (S. 74). Und Tertullian, der Kirchenvater, hat diesen Text (ausnahmsweise) wirklich nicht geschrieben, wird uns versichert, aber er war Zeuge der Geschehnisse in Karthago. Für mich dagegen ist Perpetua, die »Immerwährende«, eine Imago (wie bei Spitteler), erfunden aus literarischen Gründen, liebevoll und liebenswert, doch hat sie mit Geschichte nichts zu tun. Sie ist ein Jahrtausend später geschrieben.
Da wir nun diesen Begriff immer wieder hören müssen: »ein Jahrtausend später«, möchte ich den Gedanken ausdrücken: Wie im Cinquecento Italiens schreibt man in offiziellen Dokumenten in Portugal die 1 am Anfang (also 1000) auch heute nicht, in Dokumenten also 995 für unser Jahr 1995. Auch in Kirchweih-Inschriften auf Steinen habe ich das gesehen (ab dem 14. Jh.). Das Jahr, das wir als 1001 unserer Zählung ansehen, ist das Jahr 1. Auf jenen Zeitpunkt wurde die Einführung der Zeitrechnung »nach Christi Geburt« zunächst gelegt. Wenn einem Text wie dem der Perpetua das Jahr 203 zugeteilt wird, könnte 1203 unserer Zeitrechnung gemeint gewesen sein, und dann stimmt es eher.
Man nimmt heute an, daß die Umstellung von Era auf AD in Portugal unter König João I im Jahr 1422 AD oder 1415 AD erfolgte (siehe hierzu Heiss, S.23). Die Festlegung auf (1)422 ist allerdings rein fiktiv und später errechnet. Zeugnisse dafür gibt es meines Wissens nicht. Die Unsicherheit um 7 Jahre (1422 oder 1415) hängt mit der Renaissance-Festlegung der Geburt Jesu zusammen, die um 7 Jahre schwankt, wie an zahlreichen Stellen gezeigt werden kann.

Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer

In einigen volkstümlichen Überlieferungen sind Zeitsprünge über mehrere Jahrhunderte dargestellt, die außer dem mystischen Sinn auch auf historische Vorkommnisse bezugnehmen könnten, wie ich hier in groben Strichen skizzieren möchte.
Vage kennen wir sie alle – die Legende von den Siebenschläfern. Es handelt sich um sieben Jünglinge, die einen ungewöhnlich großen Zeitraum im Tiefschlaf überdauerten, wodurch sie der staatlichen Christenverfolgung entgingen. Der Vorfall spielte sich in Ephesus im Osten des Römischen Reiches ab. Die sieben Jünglinge aus besten christlichen Familien waren unter Kaiser Decius (oder Dekios, 249-251) verfolgt worden und in eine Höhle geflohen, wo sie einschliefen. Beim Erwachen wählten sie einen aus, der mit einer Münze in die Stadt gehen sollte, um Brot zu kaufen. Der staunte nicht schlecht, daß seine Münze seit Jahrhunderten außer Gebrauch war, und die Leute auf dem Markt staunten noch mehr. Sie folgten dem Jüngling zu seiner Höhle, konnten aber nur gerade noch feststellen, daß die Jünglinge zu Staub zerfielen, und errichteten dort eine christliche Kapelle. Inzwischen waren nämlich alle Einwohner von Ephesus, wo sich der Vorgang abspielte, Christen geworden, und angeblich zog sogar der Erzbischof mit den Marktleuten zur Höhle und bestätigte das Wunder. Später bemühte man auch noch den Kaiser von Byzanz zur Höhle, aber leider ist unklar, welchen Kaiser, und darum kann auch der Zeitraum, den die sieben Jünglinge verschliefen, nicht angegeben werden. Häufig wird Kaiser Theodosius II genannt, der die Höhle zumauern und eine Bleitafel mit den Jahreszahlen des Zeitsprungs dort anbringen ließ. Da in späteren Legenden für den Schlaf der Jünglinge meist 372 Jahre angegeben werden, Theodosius II aber zwischen 408 und 450 regierte, also höchstens 200 Jahre nach Decius, können die in einigen Legenden angegebenen 296 Jahre ebensowenig stimmen. Geschichtsbewußte Texte wie die »Legenda aurea« des Genuesers Jakobus a Voragine nehmen daher 196 Jahre an, denn es ist leichter, ein Jahrhundert zu unterschlagen – in lateinischen Texten einfach ein C – als eine Handvoll Jahre.
Die Überlieferung der Legende hatte den Zweck, die Lehre von der Auferstehung des Leibes zu beweisen (ich folge besonders Koch 1883 und Huber 1910). Man berichtet auch von kirchlichen Streitgesprächen über dieses Thema im 5. Jahrhundert, doch die eifrigen Bollandisten (zuerst Baronius 1589) erkannten dies als fromme Erfindung. Erst etwa zur Zeit Kaiser Justinians, um 544, werden Diskussionen zum Thema Wiedergeburt gemeldet, und in diese Zeit datiert man die ersten kirchlich belegbaren Texte der Legende. Das ergäbe maximal 295 Jahre als Zeitabstand zwischen Justinian und Decius.
Die Verquickung von Auferstehungs- und Wiedergeburtsglauben, wie sie in der dogmatischen Verwendung der Siebenschläferlegende zum Ausdruck kommt, ist jedoch ein typisches Zeichen für eine »Verunreinigung« des Textes gegen Ende des 12. oder im 13. Jahrhundert, als tatsächlich die Diskussion um den Endzeitbegriff voll entflammt war. Aus dieser Zeit stammen die ersten Handschriften der Legende, etwa die von Michael Syrus (gestorben 1199), der als Doppelgänger eines älteren syrischen Überlieferers gilt (nämlich des Zacharius Rhetor, der ab 536 Bischof von Mitylene war), oder des Johannes von Ephesus (angeblich 571), den Zotenberg ins 12. bis 13. Jahrhundert datierte. Auch dem Gregor von Tours (540-594) wurde der Text zugeschrieben; das wäre dann der erste Text über die christlichen Siebenschläfer gewesen, was schon deswegen unglaublich klingt, weil ihm zufolge die Jünglinge in Marseille gestorben seien und seitdem dort verehrt werden. Das beweist nur die Beliebtheit und Wichtigkeit dieser Legende, die – wie ich im Laufe meiner Nachforschung merkte – im gesamten europäischen und vorderasiatischen Bereich sowie in Nordafrika verbreitet war und stellenweise, zum Beispiel im mittelalterlichen Christentum, jahrhundertelang zu den Grunddogmen gehörte, wie die Auferstehung Jesu oder die Jungfräulichkeit der Maria.
Der Durchbruch durch den Zeitstrahl, den die sieben Jünglinge verkörperten, scheint von ungeheurer Wichtigkeit gewesen zu sein. Ihre Grabstätte in Ephesus sei neben Rom und Jerusalem der am meisten besuchte Wallfahrtsort der Christenheit gewesen. Sicher wollte man mit dieser uns heute so unsinnig anmutenden Legende etwas erklären oder verdecken, das alle Gemüter bewegte und doch nicht in klaren Worten auszudrücken war. Da die allgemeine europäische Diskussion zu diesem Thema (auch durch die Bollandisten zugegebenermaßen) frühestens im 12. Jahrhundert stattfand und nur theologischerseits rückwirkend in die Spätantike gelegt worden war, kann man schon ahnen, worauf diese volkstümliche Legende anspielte: Auf den durch Komputisten verursachten Sprung über große Zeiträume.
Im Koran (Sure 18, Verse 10-28) ist die Siebenschläfer-Legende das einzige Ereignis von religiöser Bedeutung zwischen Jesus und Mohammed und erhält besonderes Gewicht (Einzelheiten siehe Topper 1994a). Hier wird der verschlafene Zeitabstand klar mit 300 Sonnenjahren (309 islamischen Jahren) angegeben. Dabei wird auch die Tafel an der Höhle genannt, auf der die Rechnung zu lesen sei. Durch den Koranischen Bezug (Sure 2, Vers 260) auf Hesekiel Kap. 37, bei dem allerdings nur 100 Jahre verschlafen wurden, ist der Zusammenhang mit dem Alten Testament hergestellt und damit wieder einmal die gemeinsame Entstehungszeit dieser heiligen Schriften erkennbar.
Aus einer auffälligen kleinen Episode, die seltsam anmutet, läßt sich erkennen, wann die Koranische Fassung der Siebenschläferlegende in die christliche Literatur übernommen wurde (falls es nicht umgekehrt der Fall war). Sure 18, Vers 19 erzählt: »Du könntest sie für wach halten, indes sie schlafen; und WIR (Allah) werden sie sich auf die rechte und auf die linke Seite umdrehen lassen, während ihr Hund seine Vorderpfoten auf der Schwelle ausstreckt.« Nicht nur der Hund, ein für Moslems normalerweise unreines Tier, das aber durch diesen Koranvers in den Genuß des Paradieses kommt, ist auffällig fremdartig, sondern dieses Umwenden im Schlaf. Es kommt nämlich bei Wilhelm von Malmesbury vor (in seinen Historiae novellae 1143) als Anekdote, derzufolge König Edward der Heilige von England im Jahre 1065 bei Tisch einmal fürchterlich lachen mußte – obgleich er sonst für seinen stoischen Ernst bekannt war – und auf die erstaunten Fragen seiner Tischgenossen antwortete, er habe gerade gesehen, wie sich die Siebenschläfer im Berge Celion von der rechten Seite, auf der sie längere Zeit gelegen, auf die linke Seite gewendet hätten. Man habe es nachgeprüft, berichtet Ralph Hygden (im 14. Jahrhundert, den Text des Malmesbury zitierend) und seine Richtigkeit bestätigt. »Dies wurde als Hinweis auf große Veränderungen in der Zeit angesehen.« Oder vielleicht in der Zeitrechnung?
Das homerische Gelächter von König Edward können wir heute nachvollziehen, den eigentlichen Sinn der Anekdote und der ganzen Siebenschläferlegende müssen wir allerdings mühsam wieder hervorarbeiten. Nur soviel scheint mir sicher: Sie berichtet von einem übersprungenen Zeitraum, der um 300 Jahre betragen haben kann und im 12.-14. Jahrhundert bewußt geworden ist.
Ob man auch hier wieder das Datum um M = 1000 versetzen darf: statt etwa 250 wären die Jünglinge gegen 1250 in die Höhle gegangen? Etwa wie bei jener berühmten Wallfahrtskirche in Santiallana del Mar in Asturien, die auf einem Stein als Gründungsdatum 325 angibt, was selbst kirchliche Autoritäten lieber nicht für wahrscheinlich halten, wobei der Baustil zu 1325 recht gut passen würde.



INHALT DES GANZEN BUCHS

Vorwort


Programm


Kapitel 1: Die zerbrochene Jahreszählung


Abschnitt 1: Seit Erschaffung der Welt
Abschnitt 2: Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Abschnitt 3: Die spanische ERA
Abschnitt 4: Das magische Jahr Tausendeins
Abschnitt 5: So wird eine Epoche geschaffen
Abschnitt 6: Die Entlarvung der spanischen ERA
Abschnitt 7: Der geniale Regiomontanus

Kapitel 2: Ist eine absolute Chronologie möglich?

Abschnitt 1: Warven, Ablagerungsschichten in schwedischen Seen
Abschnitt 2: Die Radiokarbonmethode verändert unser Geschichtsbild
Abschnitt 3: Ist die Karbonbestimmung wissenschaftlich?
Abschnitt 4: Sind Eisschichten datierbar?

Kapitel 3: Die Präzession als Zeitmaßstab

Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?

Kapitel 4: Der Hebel von außen

Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie

Kapitel 5: Ausbreitung des Islam

Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer

Kapitel 6: Wann entstand unsere Bibel?

Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte

Kapitel 7: Die Werkstatt der Humanisten

Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera

Kapitel 8: Bereinigung

Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«

Kapitel 9: Chronologenprobleme

Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?

Neue Aufgaben

Literatur


Stichwortverzeichnis


Uwe Topper als Katastrophist