Kapitel 8: Bereinigung
Inhalt des Kapitels
Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«
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Eine Aufdeckung von Fälschungen ist in zweierlei Weise möglich: als Früherkennung, praktisch direkt bei Bekanntwerden, wie die Berosos-Chronik des Celtes oder der Nestorianerstein der Jesuiten, weil die Absicht allzu offensichtlich ist und durch die Fehler bloßliegt; man erkennt also sofort, warum die Fälschung ausgeführt wurde, welches Ziel angesteuert wurde. Oder eine spätere Aufdeckung, wie es bei Kunstwerken oft der Fall ist, die nicht aus ideologischen sondern rein materiellen Gründen gefälscht wurden. In diesem Fall erkennt man die Fälschung erst, wenn sich der Zeitgeschmack dermaßen gewandelt hat, daß durch die Fälschung das gesunde Stilgefühl verletzt wird. Die entsprechende Statue verschwindet dann im Keller des Museums. Sie wird selten als echt wieder hervorgeholt, denn eine völlig identische Wiederholung eines Zeitgeschmacks gibt es nicht.
Anders verhält es sich bei den sofort erkannten Fälschungen aus ideologischen Gründen, etwa Manuskripten oder Urkunden. Sie hatten ja den Zweck, eine Denkrichtung einzuleiten. Wenn diese zur Wirklichkeit geworden ist natürlich nicht durch die erkannte Fälschung sondern durch andere, nicht erkannte Betrügereien kann auch die zuerst als Fälschung angesehene Urkunde zu einer echten deklariert werden. Sie wurde ohnehin, nachdem sie einmal als Betrug entlarvt worden war, schlafen gelassen und war aus dem Blickfeld entschwunden. Aber einige Generationen später je mehr Zeit verstrichen ist, desto leichter kann sie ihre Aufgabe als Dokument doch noch erfüllen. Die Zeit ist reif dafür geworden. Roswitha und der Ligurinus gelten heute wieder als Dokumente des Mittelalters.
So ist es ja auch ein seltsamer »Zufall«, daß die antiken Schriften immer gerade dann entdeckt werden, wenn die Zeit dafür reif geworden ist. Oft beginnt die geistige Zeitströmung gerade erst und wird durch den »Fund« mitbewirkt. So wurden 1916 Fragmente des klassisch-antiken Sophisten Antiphon entdeckt, in denen die Gleichheit aller Menschen und ihre politische Freiheit verkündet wird. Das wäre in der Renaissance undenkbar und auch 1848 noch verfrüht gewesen. Beim sich abzeichnenden Zusammenbruch der Monarchien im 1. Weltkrieg ist das Schriftstück bestens geeignet und wird willkommen geheißen. Die Frage nach seiner Echtheit ist damit entschieden. Diese Eigenart hatten wir bei den barocken Fälschungen schon erkannt: Solange die Kirche keine dogmatischen Bedenken hatte, galt alles als echt, was ins Bild paßte und dem Ziel diente.
Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Mit diesem leicht ironischen Titel, der soviel wie »Bilderstürmer« bedeutet, versahen die Franzosen des 17. Jahrhunderts einen ihrer großen Theologen, dem es mit seinen Angriffen auf die erfundenen Heiligen tatsächlich gelang, daß die Kirche einige ihrer gar zu unhistorischen Heiligen aus ihren Nischen räumte und im liturgischen Kalender strich. Jean de Launoy (1603-1678) stammte aus der Normandie und wirkte in Paris, wo er wöchentliche Zusammenkünfte mit gleichgesinnten Reformatoren abhielt, die man aber bald verbot. Auch eins seiner Bücher wurde beim Drucker beschlagnahmt und andere ebenfalls eingezogen. Heute lesen sie sich wie harmlose Korrekturen einer wild ins Kraut geschossenen Heiligenverehrung. Da wird der Dionysius Areopagita, der als Zeitgenosse der Apostel das römische Gallien christianisiert haben sollte, als Anachronismus bezeichnet. Oder die Geschichte von der Landung des Lazarus mit der Maria Magdalena in der Provence als Unsinn ausgeschieden.
Launoy hatte bei Holstenius in Rom der Name dieses Fälschers fiel schon mehrfach manches gelernt, was ihn kritisch stimmen mußte. Mit einer enormen schriftstellerischen Tätigkeit schuf er sich einen guten Ruf und wurde von allen aufgeschlossenen Theologen seiner Zeit anerkannt. Die Reinigungsbestrebungen entsprachen dem Zeitgeist. Sein vielleicht bestes Werk, das aber letzten Endes wiederum eine Festigung der falschen Chroniken bewirkt hat, beurteilt die erfundenen Klosterschulen in der Zeit Karls d.Gr. und der Nachfolger (erschienen in Latein 1672). Ein halbes Jahrhundert später faßte man alle seine Schriften in 5 Bänden zusammen und gab sie in Genf heraus. Die Zeit ging darüber hin.
Abschnitt 2: Harduinus
Der erste Reformer, der alle historischen Quellen in Frage stellte und ein völlig anderes Weltbild entwarf, war Jean Hardouin, ein gelehrter Jesuit, der 1646 in der Bretagne geboren ist und als Bibliothekar und Lehrer in Paris lebte. Mit zwanzig Jahren trat er in den Orden Jesu ein, ab 1683 leitete er die königliche französische Bibliothek. Mit einem von allen Zeitgenossen ehrlich bewunderten Scharfsinn und außergewöhnlichem Fleiß er arbeitete alle Tage von morgens 4 Uhr bis spät in die Nacht durchforschte er das gesamte zugängliche Geschichtswissen. Außer seinen Kenntnissen in Theologie spezialisierte er sich auf alte Sprachen, Archäologie, Münzkunde, Chronologie und Geschichtsphilosophie. Seine Schriften bezeugen einen umfangreichen Wissensstand und schufen ihm allgemeine Anerkennung. 1684 gab er die Reden des Temistius heraus, schrieb über Horaz und Münzkunde, und veröffentlichte 1695 eine genaue Untersuchung des Todestages Jesu, in der er feststellte, daß das letzte Abendmahl nach galiläischer Sitte tatsächlich an einem Donnerstag und nicht am Freitag stattgefunden haben muß.
Die französische Kirchenversammlung von 1687 übertrug ihm die ungeheuer wichtige und schwere Aufgabe, sämtliche Konzilsakten vom 1. Jahrhundert bis zu Hardouins Lebenszeit nach den gewandelten dogmatischen Gesichtspunkten neu zu ordnen und ihre Drucklegung vorzubereiten. König Ludwig XIV übernahm die Kosten des Druckes. 1715 war die Monsterarbeit beendet. Jansenisten und andere Gruppen feindeten Hardouin allerdings an sie mißtrauten seiner Ehrlichkeit und verzögerten die Freigabe der Konzilsakten um zehn Jahre, bis sie 1725 endlich freigegeben wurden. Diese Konzilsakten sind bis heute als mustergültig anerkannt. Mit seinen völlig neuen historischen Maßstäben schuf er eine Grundlage für alle wissenschaftlich arbeitenden Zeitgenossen.
In der Zwischenzeit hatte er mehrere andere Schriften herausgegeben, vor allem eine kritische Ausgabe der Naturgeschichte des Plinius (1723), die ihm großen Ruhm eintrugen. Sein makelloser Lebenswandel ließ viele seiner Zeitgenossen und die Jüngergeborenen in Verehrung vor seinem Werk erstarren, weshalb ihm manche harte Absage, die er dem überlieferten Schriftgut der Antike erteilte, verziehen wurde.
Er hatte nämlich schon 1690 in seiner Verteidigung des Briefes des Heiligen Chrysostomus an den Mönch Cäsar (Paris, 81 S.) auf den letzten drei Seiten behauptet, daß viele Werke vermeintlicher antiker Autoren wie Cassiodor, Isidor von Sevilla, St. Justin Märtyrer u.a. viele Jahrhunderte später erst geschrieben, also erfunden und gefälscht worden sind. Das löste bei seinen Kollegen einen großen Schrecken aus, nicht nur, weil ein derartiges Urteil von einem der gelehrtesten Männer seiner Zeit schwer abzulehnen war, sondern weil viele dieser Kollegen auch im Bilde waren über den gesamten Fälschungsvorgang und nur den Skandal scheuten. Dies zeigte sich an den zaghaften positiven Stimmen, die Hardouin erhielt.
Er verstärkte darum seine Behauptungen und hielt bald fast alle Bücher des klassischen Altertums mit Ausnahme einiger weniger den Schriften des Cicero und Satyren des Horaz, der Naturgeschichte des Plinius und der Georgica des Vergil für Fälschungen, die von Mönchen im 13. Jahrhundert verfaßt und schrittweise ins europäische Kulturgut eingeschleust worden sind. Dasselbe gelte ebenfalls für Kunstwerke, Steininschriften und Münzen und besonders auch für alle Konzilsakten vor dem Tridentinum (16. Jahrhundert), selbst für die griechische Übersetzung des Alten Testaments und die angebliche griechische Urfassung des Neuen Testaments. Sie sollen ebenfalls sehr spät abgefaßt sein. Hardouin erklärte nämlich mit guten Gründen, daß Jesus und die Apostel wenn überhaupt in Latein gepredigt hatten. Mit diesen Thesen brachte er die gesamte Wissenschaftlerwelt in hellen Aufruhr, was eben nur möglich war, weil die Argumente hieb- und stichfest waren und er als Person großes Ansehen genoß. Sein Orden maßregelte ihn und verlangte Widerrufung, die Hardouin aber nur lauwarm leistete. Als er 1729 starb, hatte er zahlreiche Anhänger und noch mehr Gegner auf den Plan gerufen, die sich sachkundige, aber auch fanatische Schriftgefechte lieferten. Seine nachträglich gefundenen Entwürfe waren noch viel schärfer im Ausdruck, denn sie bezeichneten die kirchlichen Geschichtswerke »als Arbeiten einer und derselben geheimen Verschwörung wider den rechten Glauben.« Als einen der Hauptfälscher nannte er den Archonten Severus (13. Jh.).
Hardouin stellte eine enorme Sammlung von Schriften der Kirchenväter auf, die er alle einzeln abkanzelt und die vermutlichen Fälscher verflucht. Darunter fiel auch Augustin, über den Hardouin mehrere Werke schrieb. Man nannte seine scharfe Kritik schon bald das »System des Hardouin«, denn obgleich er Vorgänger gehabt hatte, ich werde eine ganze Reihe vorstellen war doch niemand bisher mit dieser Schärfe ans Werk gegangen. Erst nach seinem Tod erholte sich die Theologenwelt von dem Schock und begann schrittweise die Wiedergewinnung der verlorenen Texte. Wo dies unmöglich schien, ließ man sie fallen, doch haben sich auch einige dieser endgültig abservierten Fälschungen zum Beispiel die Briefe des Ignatius, »Anfang 2. Jh.« heute wieder als heilige Schriften eingeschmuggelt (siehe im nächsten Kapitel).
Einer seiner Gegner, der gelehrte Bischof Huet, sagte: »Hardouin hat 40 Jahre lang hart gearbeitet, um seinen guten Ruf zunichte zu machen, aber er hat es nicht geschafft.«
Das Urteil des Kritikers Henke ist sicher korrekt: Hardouin war zu gelehrt, um nicht zu wissen, was er wagte, zu verständig und eitel, um seinen Ruf auf ein so mißlich zerstörerisches Werk zu setzen, zu ernsthaft, um nur andere Gelehrte etwa auf eine lustige Art beschäftigen zu wollen. Er gab seinen vertrauten Freunden deutlich genug zu erkennen, daß man vor allen Dingen das Ansehen aller christlichen Kirchenväter und älteren Kirchengeschichtsschreiber umstürzen, und in diesem Umsturze die ganze Menge heidnischer Schriftsteller nur mit fortreißen müsse, um allen historischen Glauben zu vernichten.
Einige Werke Hardouins wurden vom französischen Parlament verboten. Ein Straßburger Jesuit gab aber ein verbotenes Buch neu heraus. Das Nachlaßwerk Prolegomena ad censuram scriptorum veterum (»Vorrede zu einer Kritik der alten Schriftsteller«) wurde in London 1766 gedruckt; es ist in Frankreich verboten und heute äußerst rar.
Im Laufe der nächsten Generationen geriet der Streit jedoch wieder in Vergessenheit, obgleich Hardouins Argumente eigentlich nie völlig aus dem Weg geräumt werden konnten.
Seine Kritiken an den Münzen hatten zumindest den Vorteil, daß viele Fälschungen oder falsch datierte Stücke erkannt wurden und insgesamt eine strengere Arbeitsweise in der Geschichtswissenschaft eingeführt wurde.
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Heilige kommen und gehen. Sie passen sich so lange der Mode an, bis sie durch andere ersetzt werden müssen. Das verändert zwar das äußere Erscheinungsbild der Kirche, aber nicht ihre innersten Grundsätze. Diese waren immer unwandelbarer geworden, vor allem von jenem Augenblick an, seit die Bibel in gedruckter Form vorlag. Wenn sich das Dogma dennoch gewandelt hatte, wurden die Dokumente zu Fälschungen oder Kirchenväter zu Ketzern erklärt. Barthelemy Germon, der französische Jesuit aus Orleans, (1663 bis 1712 oder 1718), der berühmte Gegner von Jean Mabillon, dem Begründer der Paläographie, und Felix Coustance, hat in seiner Schrift De veteribus regum francorum diplomatibus et arte secernendi vera a falsis (Paris 1703) eine Quellenscheidung nach diesem Muster vorgenommen. Vor allem in seinem Buch Von den alten ketzerischen Verderbern der Bücher der Kirchenväter, das mit Erlaubnis der Zensur und eigenhändiger Empfehlung des Königs von Frankreich zehn Jahre später erschien, sagt er frei heraus und beweist mit unschlagbaren Argumenten theologischer Art, daß die alten Manuskripte mit Texten des Heiligen Augustin, sogar Evangelienhandschriften, die aus dem 4. oder 5. Jahrhundert stammen sollen, im Benediktinerkloster Corbie im 9. Jahrhundert oder später bis zum 13. Jahrhundert gefälscht worden sind. Einige Beispiele seiner Beweisführung seien angeführt:
Der von Gott verfluchte Verbrecher, der am Holz erhängt wird, wie 5. Mose 21, 23 sich ausdrückt, soll noch am selben Tag abgenommen und begraben werden. Im Neuen Testament (Galater 3, 13) wird aus dem verfluchten Verbrecher das genaue Gegenteil, nämlich Jesus. Oder: Wenn Daniel über den »zweigehörnten Alexander« spricht, dann kann sein Buch nicht vor Alexander geschrieben sein (wie man damals in der Kirche noch lehrte). So ist auch die dumme Geschichte im Buch des Propheten Jesajas von der Ehebrecherin, die schwanger wird, alles andere als eine Weissagung auf den Erlöser gewesen; aber bei Matthäus (1, 23) wurde sie dazu gemacht. Aus der jungen Frau wurde eine Jungfrau. Hatten die Ketzer hier ihre Hand im Spiel? Oder waren es die Juden selbst gewesen, die die Weissagungen über den Messias verfälschten, um Jesus nicht als den erwarteten Heiland anerkennen zu müssen?
Augustin macht sich (im Gottesstaat, XV, 13,7) schon Gedanken darüber, wie es möglich war, daß die Juden die Heilige Schrift verfälschten, eine gängige Meinung »zu seiner Zeit«. Da die Juden in alle Winde verstreut leben und das seit langer Zeit, ohne eine zentrale religiöse Autorität anzuerkennen, bedürfte es einer ungeheuren Verschwörung, um die einheitliche Fälschung aller Bibelhandschriften durchzuführen. Dagegen ist denkbar, daß diese Handschriften erst sehr spät hergestellt sind, und zwar als Abschriften einer einzigen Vorlage.
Gefälscht sind Papstbriefe und Berichte von Synoden und Konzilien, sagt Germon und belegt es. Er nennt sogar die Namen oder zumindest Gruppen der Fälscher. Der Kodex des Heiligen Hilarius, der in der Pfalz von Aachen aufbewahrt wird, ist von einem namentlich genannten Bischof gefälscht (2. Buch, 2. Teil). Ein Buch, das mit den Werken des Heiligen Augustin herausgegeben wird, Contra quinque hostium genera, ist von Gottschalk im 9. Jahrhundert geschrieben, weil er darin seine Meinung gegen Hinkmar ausfechten wollte. Weitere Werke des Augustin, Origenes, Hieronymos, Isidor von Sevilla, Bernard u.a. sind ebenfalls erfunden. Als Fälscher nennt er alle berühmten Ketzer wie Arian, die Ebioniten, die Eunomianer und die Albigenser; bei letzteren besonders einen Arnaldo, wie der Bischof von Tuy herausfand. Oft kennt er Einzelpersonen, häufig Kirchenautoritäten.
Auch Bücher der Heiligen Schrift sind nicht frei von Veränderungen. Das Lukas-Evangelium und einige Briefe von Paulus sind durch Marcion dermaßen verändert worden, daß sie einen ganz anderen Sinn machen. Dies haben schon Irenäus und Tertullian festgestellt, sagt er. Überhaupt befindet sich Germon in bester Gesellschaft, denn er kann stets anerkannte Autoritäten zitieren, um seine Gedanken zu untermauern. Die griechischen Briefe des Clemens von Rom, Ignatius von Antiochien und Dionysios von Korinth wurden ja schon vor ihm als Fälschungen erkannt. Einer der großen Doktoren der Sorbonne, auf die er sich stützt, ist Jean B. Cotelier (Cotelerius, 1627-86), der Hellenist, der mit seiner Arbeit über die frühen theologischen Schriften des 2. Jahrhunderts schon eine klare Scheidung der Quellen vorgenommen hatte.
Über die Chroniken von Gottschalk, Hinkmar u.a. Hofschreibern der Franken hat er eine eigene Schrift verfaßt, aber in dem hier besprochenen Buch hat er ebenfalls deutlich gesagt, daß die Mönche von Corbie der Ausbund an Frechheit und Unglauben waren. »Wenn die Quelle besudelt ist, kann der daraus fließende Bach nicht sauber sein«, schreibt er (natürlich in Latein) in seiner deftigen Sprache. Seine Gedankenschärfe ist bewundernswert, mehr noch seine raffinierte Ausdrucksweise, die zwar erkennen läßt, was er denkt, aber vom Wortlaut her nicht als ketzerisch bezeichnet werden kann, weil er stets der Kirche zugute hält, daß sie die Wahrheit im Griff hat. So hatte er anfangs viele Theologen auf seiner Seite, denn die Absicht war lobenswert: eine Reinigung der von Fälschungen völlig überfrachteten Kirchengeschichte zum Wohle eines reinen Glaubens. Als aber deutlich wurde, wieviel man ausscheiden müßte, bis das Ziel einer gereinigten Kirche erreicht wäre, wandten sich die größten Geister seiner Zeit gegen Germon und verdammten ihn. Heute wird er nur noch in lächerlich machender Weise als Spinner am Rand erwähnt. Doch seine Kritik hat Hand und Fuß und war der seines Zeitgenossen Hardouin ebenbürtig (siehe auch A. Müller 1996, S. 532). Der Grund, warum ich Launoy und Germon hier zitiere, liegt vor allem darin, daß sie als Kirchenleute und von allen Kollegen anerkannt eine Kritik vorbrachten, die korrekt war und heute noch gelten sollte.
Welche Umgestaltung unseres Weltbildes durch die Kritik an den Quellen herbeigeführt wurde, sagt Bernheim (1912, S.75), »kann man sich am besten veranschaulichen, wenn man ein älteres gutes Handbuch der Geschichte mit einem guten neuen vergleicht. Da sieht man z. B. in den Genealogischen Tabellen von Johann Hübner, die 1708 erschienen sind und lange ein sehr angesehenes Handbuch waren, als Vorgänger des Frankenherrschers Chlodwig I aufgeführt eine gewaltige Menge »Könige der Sikambrer, Könige der Westfranken und Herzöge der Ostfranken«, alle mit genauer Angabe der Regierungsjahre und genealogischen Verhältnisse; und von allen diesen mehr als 60 Herrschern hat kein einziger überhaupt existiert, diese sämtlichen Daten sind durch die neuere Kritik mit Sicherheit als das allmählich erwachsene Produkt teils sagenhafter, teils gelehrter Erfindung nachgewiesen und sind selbst aus den bescheidensten Handbüchern verbannt worden.« Dem möchte ich nur hinzufügen, daß auch Chlodwig bald den Weg seiner Vorgänger gehen wird.
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Daß eine grundlegende Reinigung höchst nötig war, darüber bestand ohnehin ab 1600 allgemeine Übereinstimmung. Aber wie sie durchzuführen sei, das ließ die Gemüter in Wallung geraten. Die neue Fassung sollte jedenfalls von Rom zentral abgesegnet werden, um weitere Vielfalt der Texte zu vermeiden.
Obgleich sich die Buchdruckerkunst von Mainz 1450 innerhalb einer Generation in ganz Europa mit der Geschwindigkeit eines Steppenbrandes ausbreitete, behielt sich der Vatikan doch vor, religiöse Texte für die Christen monopolartig selbst zu drucken. Das galt auch für Bibeln und liturgische Bücher in Griechisch, Syrisch, Armenisch, Georgisch und Arabisch. Die jeweilige Abfassung wurde streng überwacht. Entgegen dem Einspruch der fremden Oberhirten wurden dabei Neuerungen durchgeführt, die der Vereinheitlichung des jeweiligen Dogmas dienten.
Denn Ausmerzen widersprüchlicher Überlieferungen und Einheit bei der Neuerstellung war nun das Gebot der Stunde. Die Inquisition konnte diese Aufgabe nicht mehr erfüllen, darum wurden neue Kommissionen gegründet, die sich speziell dem alten Schrifttum widmeten.
Am schaurigsten sah es bei den Märtyrerlegenden aus. Da diese den Kalender der Kirche und die täglichen Gottesdienste regeln, mußte dieser Dschungel gerodet werden. Die Elitetruppe der Katholiken, der Orden Jesu, übernahm diese schwerste aller Aufgaben. Eine Gruppe im Umkreis von Flandern hat sich jahrhundertelang damit beschäftigt und das kaum zu Erhoffende in Gang gesetzt.
Es ging darum, die mit ungeheurem Wust und unglaubwürdigem Gefasel überwucherten Heiligenlegenden zu sichten und eine für alle Katholiken gültige Fassung zu erstellen. Zu diesem Zweck wurden sämtliche greifbaren Manuskripte eingesammelt, geordnet und danach die Lebensläufe der Heiligen völlig neu geschrieben. Wie bei derartigen Aktionen verfahren wird, die vor ihnen schon die Chinesen oder Byzanz durchgeführt haben, kann man sich leicht denken. Im Jahre 1603 legte der Jesuit Heribert von Rosweyd aus Utrecht (1569-1629) die erste neue Zusammenstellung der Heiligenleben für die Kalendertage des ganzen Jahres vor.
Baron Heinrich Julius von Blum war einer der tatkräftigsten der Gründergeneration dieses Vorhabens, und der 1596 im Limburgischen geborene Johann Bolland, ebenfalls Jesuit, wurde zum nachträglichen Namensgeber der Gruppe. Er bearbeitete die erste Sammlung und weitete sie zu einem Unternehmen aus, das in den nächsten zwei Jahrhunderten eine beachtliche Zahl von Jesuiten beschäftigte. Bolland selbst konnte schon 1643 die ersten beiden Bände des Monumentalwerks Acta Sanctorum vorlegen. Die meisten dieser Jesuiten waren Flamen, und die fortlaufenden Bände erschienen in Antwerpen. Mit der französischen Besetzung Flanderns 1794 brach die Arbeit bei Band 53 (für den 6. Oktober) ab, wurde dann aber nach der Gründung des belgischen Staates 1837 wieder aufgenommen, zunächst in Brüssel, dann in Tongerloo. Sie ist mit 67 erschienenen Bänden bis heute nicht abgeschlossen. Die Gesichtspunkte, unter denen die Erstellung der Heiligenlegenden jetzt vorgenommen wird, haben sich zeitgemäß angepaßt an die in der heutigen Geschichtsforschung übliche Arbeitsweise.
Zusammenfassend möchte ich zwei wichtige Punkte dieser gewaltigen Arbeit herausheben: Die eine Aufgabe bestand darin, möglichst alle kursierenden Texte aufzufinden, um später nicht gegen widersprechende »Dokumente« ankämpfen zu müssen, wenn die neuen Akten einmal allgemeingültig geworden wären. Und der zweite Punkt, für unseren Gedankengang bedeutend, lag in der Geschichtsschöpfung, die eine derartige Neugestaltung möglich machte.
Wenn zum Beispiel die hier vorgestellte Behauptung richtig ist, daß vor dem 10. Jahrhundert nördlich der Alpen keine überregionale Kirche bestand, sondern diese erst ab dem 12. Jahrhundert rückprojizierend zur geschichtlichen Tatsache gemacht worden war, dann ging es den Bollandisten darum, die recht ungeordnete Fabuliererei über eine mittelalterliche Kirche in wissenschaftlicher Weise zu klären und an die Stelle der wild-chaotischen und sehr lokal entstandenen Fälschungen eine tragfähige Grundlage für »alle Zeiten« zu setzen. Wie schwierig das war, geht aus den inneren und äußeren Kämpfen der Bollandisten hervor, von denen ein Laie allerdings nur selten etwas erfuhr. Zum Beispiel: 1695 verdammte die spanische Inquisition die Autoren der ersten 14 Bände als Ketzer und hielt dieses Urteil 20 Jahre lang aufrecht.
Das chronologische Gerüst hatte sich zu oft als unhaltbar erwiesen, noch wandelbarer war das theologische Dogma durch die Jahrhunderte. Als Platzhalter setzte man die Heiligen ein. Diese Kette von katholischen Menschen und eifrigen Bekennern des Christentums sichert nun den Fortbestand der Kirche durch zwei Jahrtausende hindurch. Mindestens die Hälfte dürfte reine Erfindung sein. Aber diese Heiligenleben bilden rückwärts bis zu den Aposteln eine geschlossene Gemeinde und damit die festeste, unumstößlichste Geschichtsschreibung des Abendlandes. Ihr geographischer Rahmen ist entsprechend weit gespannt, denn er umfaßt praktisch alle Gebiete, die zu irgendeinem Zeitpunkt einmal katholisch waren oder rückwirkend als kirchlicher Herrschaftsbereich erklärt wurden, also auch Nordafrika und den ganzen Nahen Osten bis nach Persien. Nach drei Jahrhunderten zielstrebiger Neuschöpfung durch die Elite der katholischen Geistlichen, die Gesellschaft Jesu, ist die katholische Geschichte auf Betongrund gestellt.
Hinsichtlich der großen Bedeutung dieses ganzen Komplexes wäre das Urteil eines evangelischen Theologen, Adolf Harnack aus Dorpat, über die Apostel- und Märtyrerlegenden zu zitieren: »Im Laufe der Zeiten wurden sie mit immer strahlenderen und grelleren Farben zu Heiligenbildern und Romanen ausgemalt. Die Production hat vom 4. bis zum 11. Jahrhundert einen erstaunlichen Umfang angenommen und wurde zugleich die Lieblingslektüre der Christen von Irland bis zu den abyssinischen Bergen und von Persien bis nach Spanien. ... Man darf sagen, dass ganze Generationen von Christen, ja ganze christliche Nationen, an dem grellen Schein jener Erzählungen geistig erblindet sind. Sie verloren nicht nur das Auge für das wahre Licht der Geschichte, sondern auch für das Licht der Wahrheit überhaupt.« (1893, S. XXVI).
Vor der Bereinigung der chaotischen Überlieferungssituation durch die Bollandisten wäre vielleicht noch eine Chance gewesen, durch äußerst strenge Sichtung alles gesammelten Materials gewisse »echte« Körnchen herauszufischen oder zumindest einen Überblick über die tatsächlichen Strömungen der früheren Jahrhunderte zu gewinnen. Das eben gaben die Bollandisten vor. Es ist aber nicht zu erwarten, daß sie selbstlos das heißt gegen ihren Glauben vorgegangen wären, und darum ist nach ihrer Arbeit gewiß kein Anhaltspunkt irgendwelcher Art mehr auffindbar. Da wir aus dem Mittelalter ohnehin fast nur Zeugnisse der Kirche besitzen »nur die Kleriker konnten schreiben« besteht keine Hoffnung mehr, noch Einblick in das wahre Gesicht jener Zeit zu bekommen.
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Pater Miguel de Oliveira ist ein gutes Beispiel portugiesischer Gelehrsamkeit. In seinem Büchlein über die Heiligenkulte seines Landes (1964) schreibt er deutlich von der Fälschungsaktion und den Vorgängen der Kultbildung. Das 2. Vatikanische Konzil (1963) hatte alle Katholiken aufgefordert, den geschichtlichen Hintergrund der alten Heiligenlegenden wieder aufzuspüren und gegebenenfalls diejenigen Heiligen zu streichen, die kaum oder gar nicht anders als nur mit ihren Namen bekannt sind, da sie wahrscheinlich erfunden sind. Mit der Aufforderung zur historischen Wahrhaftigkeit wurden Kräfte frei zur Kritik und Bereinigung, die uns eine Flut neuer Erkenntnisse über die Manipulation der Geschichtsschreibung durch die Kirche beschert haben. Im folgenden möchte ich einige Sätze aus dem Buch von Pater Oliveira zitieren (S. 78 f), der mit seiner behutsamen aber doch eindeutigen Kritik die Legendenbildung aufdeckt. Das Buch ist übrigens mit höchstkirchlicher Druckerlaubnis erschienen.
»Die Ursprünge des Christentums in Hispanien (= Spanien und Portugal) die ja offiziell schon im 1. und 2. Jahrhundert liegen sollen waren kein Thema für unsere ältesten Kirchenschriftsteller, das heißt für jene, die mit größerer Genauigkeit die ursprünglichen Überlieferungen hätten sammeln können. Weder die Geschichtsschreiber der römischen Zeit wie Paulus Orosius oder Hydatius, noch die der westgotischen Zeit wie Johann von Biclara oder der Heilige Isidor von Sevilla erwähnen die Vorgänge der Christianisierung der Halbinsel oder die Organisation der ersten Christengemeinden.
Dieses Schweigen kontrastiert auffällig mit der Fülle von Einzelheiten, die darüber später verbreitet wurden. Diese jedoch beruhen nicht auf alten Dokumenten, die man vielleicht erst später entdeckt hätte, sondern beziehen sich auf eine Überlieferung, die bis in die Zeit der Apostel zurückreichen soll.
Die Kirchen, die am meisten mit dieser späten Blüte ihrer frühen Großtaten begünstigt wurden, schwatzten uns eine gesamthispanische Kirche auf, die ihrerseits diese Taten in die Geschichte der Universalkirche einschleusen wollte. Es gab eine Zeit, wo man sich scheute, diesen Überlieferungsfundus, der schon jahrhundertealt und durch Gottesdiensttexte geheiligt war, anzugreifen. Die Geschichtswissenschaftler wagten nicht, diese als reine Legenden einzustufen, sondern versuchten sie mit fadenscheinigen Argumenten der Wahrscheinlichkeit zu retten, indem sie teilweise den rauhen Zeiten oder der Unachtsamkeit der Menschen die Schuld dafür gaben, daß kostbare Dokumente, die es eigentlich gegeben haben müsse, verlorengegangen seien.
Die Geschichtskritik konnte bisher diesen Geist nicht völlig vertreiben, aber sie ist schon genügend fortgeschritten, um uns mit einer gewissen Sicherheit anzuzeigen, in welcher Zeit man begann, die genannten Überlieferungen zu erfinden.«
Oliveira führt ein eklatantes Beispiel an: die Reise des Paulus nach Spanien. In seinem Brief an die Römer ( XV, 24 und 28) im Februar 58 hatte er eine solche Reise als Vorhaben erwähnt. Der Heilige Clemens (offiziell einer der ersten Päpste) stellt diese Spanienreise des Paulus in seinem Brief im Jahr 96 schon als Faktum hin, ebenso steht es auch im Kanon Muratorius (»um 200«; beides sind wohl ganz späte Fälschungen). Keine einzige Kirche in Spanien geht auf Paulus zurück. Die Erwähnung von zwei Schwestern, die er dort bekehrt habe, ist schon in sich widersprüchlich und ohne Ortsangabe. Sie stammt vielleicht aus dem 10. Jahrhundert (siehe Flórez, España sagrada, III,1). In all den Jahrhunderten angeblich größter Kirchenorganisation unter den Westgoten, in denen so viele Chroniken geschrieben und Konzilien abgehalten sein sollen, wußte man nichts von einer Reise des Paulus nach Spanien. Erst in islamischer Zeit tauchen die ersten Namen von Missionaren auf, die das heidnische Spanien von Rom aus christianisiert haben sollen. Sie werden allgemein die »Apostolischen Männer« genannt. Unter den Namen rangiert schon der später so wichtige »Gott« des 7. Jahrhunderts, Indaletius. Diese 7 Bischöfe seien einem Märtyrerbuch von Lyon (»806«) zufolge in Rom durch die Heiligen Apostel Petrus und Paulus zur Bekehrung der Spanier geweiht und ausgeschickt worden. Dort angekommen verrichten sie Wunder, die so einfältig sind, daß es einen Stein erbarmen könnte, aber dennoch gilt in Kirchenkreisen diese als die »älteste und echteste Quelle« über die Apostolischen Männer. Selbst in der für alle modernen Autoren verbindlichen Geschichte Spaniens von Menendez Pidal (II, 450) ist diese Nachricht »im wesentlichen gesichert« und »von dem Zeitpunkt der Ereignisse selbst herrührend, wenngleich erst in späteren Dokumenten bewahrt«, die nun ins 5. Jahrhundert datiert werden. Die nächste Erwähnung stammt aus dem 10. Jahrhundert, und das ist für Oliveira der frühest mögliche Zeitpunkt der Erfindung der Legende. Die 7 Märtyrer werden am 1. Mai gefeiert, was nach Kirchenbrauch unmöglich ist, da sie als Bischöfe sieben weit enfernte Gemeinden in Spanien geleitet hatten. Jeder dieser Apostelschüler müßte einen eigenen Feiertag haben. (Der Siebenmännerkult, kann ich hier ergänzen, ist typisch für die berberische Mischreligion bis zum 16. Jahrhundert und dürfte mit der Islamisierung nach 1000 nach Spanien gekommen sein.)
Aus dieser Klärung geht aber noch mehr hervor: Auch die Legende vom Apostel Santiago kann nicht vor diesem kritischen Zeitpunkt aufgekommen sein, sonst hätte man es ja nicht mehr nötig gehabt, eine Christianisierung Spaniens durch Apostelschüler zu konstruieren.
Zwar hat schon der Heilige Beatus, Abt des Klosters von Liébana in Asturien in seinem Vorwort zum Kommentar der Johannes-Offenbarung (»785«) den Apostel Jakob nach Spanien reisen lassen, aber dieser Beatus (»der Glückliche«) schrieb erst 200 Jahre später, wie an den Illustrationen seines Buches gezeigt werden kann. Und alle früheren Nennungen des Jakob in Spanien, bei Isidor oder dem Arcipreste Julian von Toledo usw., müßten dann Fälschungen sein, schließt Oliveira.
So fügt Oliveira zu der schon recht langen Liste gefälschter Chroniken (S. 118), die seit Mitte des 18. Jahrhunderts als solche erkannt sind, im Laufe seiner Kritik noch einen ganzen Berg weiterer hinzu und hinterläßt dem Leser das Gefühl, daß nichts aber auch wirklich nichts von allen jenen »Geschehnissen« des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung bestehen kann.
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Ein fast vergessener großer Kritiker des modernen Geschichtsbildes war Robert Baldauf, der um die Wende zum 20. Jahrhundert an der Universität Basel lehrte und ein großes Werk über dieses Problem in Arbeit nahm, »Historie und Kritik«, dessen Band I (1903) in Leipzig herauskam, in dem er sich mit den Gesta Caroli magni (= Taten Karls des Großen) beschäftigt, die von einem Mönch »Notker« im Kloster St. Gallen erdacht wurden.
Da findet er zahlreiche Ausdrücke aus den romanischen Umgangssprachen und aus dem Griechischen, die für die St. Gallener Handschrift viel zu früh kommen, und zieht folgendes Fazit: Die gesta des Stotterers Notker (9. Jh.) und die casus des Ekkehart IV, Schülers von Notker dem Deutschen (11. Jh.) weisen so auffallende Übereinstimmungen in Stil und Sprache auf, daß sie wohl von demselben Mann geschrieben sein dürften. Da sie auf den ersten Blick inhaltlich nichts miteinander gemein haben, also nicht abgeschrieben sein können, muß hier Fälschung vorliegen.
»aber klingen diese St. Galler schauermärchen nicht an andere berichte an, die man zumeist als historisch-zuverlässige quellen ansieht? nach dem mönch von St. Gallen lässt Karl d. gr. die köpfe der schwertgroßen Slavenjugend vom rumpfe springen, nach Einharts annalen lässt er bei Verden an der Aller 4500 Sachsen hinrichten. wer ist da sagenhafter?« (S. 147)
Es gibt auch viele auffällige Verstöße gegen den behaupteten Zeitrahmen, so etwa die häufigen Badegeschichten »mit pikantem Beigeschmack«, die erst nach der Bekanntschaft mit dem islamischen Orient auftreten können und an einer Stelle sogar auf die Wasserordalien der Inquisition hinweisen.
Notker kannte sogar Homers Ilias, was Baldauf als absurd ansieht. Und die Mischung homerischer Szenen mit biblischen in den Karlsgesten deckt noch weitere eigenartige Zusammenhänge auf, die Baldauf zwar schon herausarbeitet, aber da nicht zum Thema dieses 1. Bandes gehörend zunächst nicht weiter ausführt. Es zeigt sich nämlich, daß große Teile der Bibel, besonders die »Geschichtsbücher« des Alten Testaments, derartig eng mit den Ritterromanen und der Ilias verflochten sind, daß eine gemeinsame Entstehungszeit wahrscheinlich wird.
Der 2. Band (IV C) ging schon 1902 aus der Basler Universitätsdruckerei hervor. Darin nimmt Baldauf die Dichtung der Griechen und Römer unter die Lupe und findet ganz erstaunliche Tatsachen, die einem unbedarften Liebhaber des klassischen Altertums eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Nachdem er befremdende Details über die Vorgänge bei der »Wiederentdeckung« klassischer Texte im 15. Jahrhundert aufgedeckt hat, faßt er (S. 19) erstmals zusammen:
»die übersicht über die humanistenfunde von 1416 in St. Gallen ergiebt merkwürdig viele widersprüche, dunkelheiten, unaufgeklärtes. man sollte das nicht auffällig, verdächtig finden dürfen? es ist so eine eigene sache mit funden! wie schnell lässt sich erfinden, was sich nicht finden lässt!« Dann stellt er sich die Frage, ob man auch einen Quintilian erfinden könne. Quintilian kritisiert nämlich (in Cap. X,1) den Plautus, der ohnehin als Fälschung verdächtig ist, mit folgenden Worten: »die musen würden die sprache des Plautus reden, wenn sie lateinisch sprechen wollten.« (Plautus schrieb nämlich in Vulgärlatein, was für das 2. Jahrhundert v.Ztr. völlig undenkbar ist).
Machten die Kopisten oder Fälscher auch noch ihre Witze in ihren Werken? Wer die Tafelrunde Karls d.Gr. mit seinen »römischen« Dichtern bei Einhard auf sich wirken läßt, findet den Humor, mit dem da Antike vorgegaukelt wird, sogar ergötzlich!
Baldauf untersucht nun einige klassisch-antike Dichter und stellt überrascht fest, daß da Stilmittel angewendet werden, die keineswegs antik sind, sondern typisch deutsch, wie z.B. Stabreim und Endreim. Er zitiert eine kritische Betrachtung von J. v. Müller, die ergibt, daß der Casina-Prolog des Quintilian »auf das zierlichste gereimt ist«.
Dies trifft auch auf andere lateinische Dichtung zu, sagt Baldauf und bringt verblüffende Beispiele. Der Stabreim ist aber typisch deutsch und der Endreim in der romanischen Dichtung erst durch die Troubadoure des Hochmittelalters eingeführt worden.
Baldaufs bewußte Ablehnung von Horaz läßt die Vermutung offen, daß er Hardouin kannte, der ja Horaz noch retten wollte. Eigentlich ist es undenkbar, daß er Hardouin nicht kannte, aber vielleicht wollte er nicht auf dessen Argumente eingehen, weil eben zwischen der theologischen Begründung Hardouins und der philologischen Baldaufs ein großer Unterschied besteht, ganz abgesehen von den zwei Jahrhunderten, die beide trennten.
Baldauf erkennt die innere Abhängigkeit zwischen Horaz und Ovid und sagt (S. 33) auf die Frage, wie dieses »recht evident gewordene ineinanderfliessen der angaben antiker autoren« zu erklären sei: »die einen finden es ganz harmlos und unverdächtig, andere gehen wenigstens logisch vor und nehmen eine gemeinsame quelle an, aus der die jeweiligen autoren schöpften.« Er zitiert dazu E. Wölfflin, der mit einiger Verwunderung feststellen mußte, daß die klassischen Lateiner sich gegenseitig gar nicht zur Kenntnis nahmen, und daß auch wir eigentlich nicht die Blüte der klassischen Literatur in Händen halten sondern Rekonstruktionen von Schriften, deren Autoren wir nicht einmal dem Namen nach kennen. »oder wäre noch ein drittes möglich?« fragt Baldauf.
An griechischen wie lateinischen Versen weist er nun (S. 60) die Verwendung des Stabreims nach, stellt sogar einige Verse aus dem (echt deutschen) Muspilli daneben und fragt: »wie kommt ein so später dichter wie Horaz zu stabreimen?« und Horaz germanisiert nicht nur, er italienisiert auch in seiner Rechtschreibung, die ein H einschiebt oder Vokale austauscht, was eher an moderne Sprachgewohnheiten anschließt. »aber es werden ja wohl nur die bösen abschreiber gewesen sein!« (S. 66)
Auch Cäsars Gallischer Krieg ist von solchen unpassenden Stilmerkmalen nicht verschont, »es wimmelt förmlich von diesen formen« (S.83), von denen er zahlreiche Beispiele bringt und dann über die letzten drei Bücher des Gallischen Krieges und die drei Bücher des Bürgerkrieges von Cäsar urteilt: »sie sind ebensosehr durch diese langweiliggeschwätzige reimerei ausgezeichnet. freilich gilt von dem 8. buch des gallischen krieges des A. Hirtius, dem bellum Alexandrinum und dem bellum Africae genau dasselbe, und es ist mir unerfindlich, wie man nur jemals diese werke verschiedenen autoren zuweisen konnte. ein mensch mit nur ein klein wenig stilgefühl im leibe erkennt doch gewiss in allen diesen büchern eine einzige hand.«
Auch der Inhalt des Gallischen Krieges ist seltsam, etwa die Druiden der Kelten, die den ägyptischen Priestern gar zu sehr gleichen. »ein sehr merkwürdiger parallelismus!«, sagt Borber 1847, und Baldauf merkt an: »solcher parallelismen giebt es doch noch gar viele in der antiken geschichte! sie heissen: plagiate!« (S. 84)
Wenn tragische Rhythmen in Homers Ilias, Endreim und gar Stabreim in zahlreichen Dichtungen der Antike zum normalen Stilmittel der Poesie gehört hätten, argumentiert Baldauf (S. 97), dann wüßten wir das aus den Abhandlungen über die Schreibkunst ihrer Zeitgenossen. Möglicherweise haben sie das Geheimnis gekannt, aber gewahrt, fügt Baldauf in seiner ironischen Art an. Seine abschließenden Worte (S. 97 f) möchte ich noch zitieren:
»ziehen wir die schlüsse: die durch weite zeiträume getrennten: Homer, Aeschylus, Sophokles, Pindar, Aristoteles sind etwas näher zusammenzurücken. sie sind wohl alle kinder eines jahrhunderts. ihre heimat ist aber gewiss nicht das alte Hellas, sondern das Italien des 14./15. jahrhunderts gewesen. unsere Römer und Hellenen waren die italienischen humanisten.
noch einmal: die auf papyrus und pergament geschriebene geschichte der Griechen und Römer ist durchweg, die auf erz, stein etc. geschriebene zum grossen teil eine geniale fälschung des italienischen humanismus. ... der italienische humanismus hat der erde die schriftlich fixierte welt des altertums und die bibel geschenkt, und im verein mit den humanisten der anderen länder die geschichte des frühen mittelalters. die periode des humanismus ist keine receptive zeit gelehrten sammeleifers gewesen, sondern eine welt der ureigensten, produktivsten, ungeheuersten geistigen thätigkeit: über ein halbes jahrtausend ist die bahn gegangen, die er gewiesen hat.
diese behauptungen klingen abenteuerlich, mehr als seltsam. aber sie lassen sich beweisen. einige der beweise liegen hier vor, andere werden folgen, bis der humanismus in seinem innersten wesen erkannt ist. thöricht wäre es, über die vorliegenden thesen zur tagesordnung überzugehen.«
Meines Wissens ist es Baldauf nicht gelungen, außer den beiden genannten Bänden weitere zu veröffentlichen. Von der Anlage des Werkes, das auch die sehr späte Abfassung der Bibel einbezieht, läßt sich sagen, daß seine Manuskripte, falls sie auffindbar sein sollten, noch manche Überraschung bergen.
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«
Ein außergewöhnlich weitblickender Ankläger, den Niemitz (1991) in unserem Kreis wieder bekannt gemacht hat, war Wilhelm Kammeier, geboren etwa 1890. Er studierte Jura und war zuletzt Schullehrer in Thüringen, wo er völlig verarmt in den fünfziger Jahren gestorben ist.
Seine Angriffsfront waren die Dokumente des Mittelalters. Urkunden, sagt er, die Schenkungen oder Erteilung von Privilegien rechtskräftig machen sollen, müssen vor allem vier Hauptforderungen erfüllen: Sie müssen erkennen lassen, wer wem wann und wo diese Urkunde ausgestellt hat. Eine Urkunde, deren Empfänger oder Datumszeile offenblieb oder retuschiert wurde, verliert ihre juristische Wirksamkeit.
Das scheint mir selbstverständlich, nicht aber den Menschen des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Über Jahrhunderte hinweg tragen viele Urkunden kein volles Datum, es fehlt entweder das Jahr oder der Tag oder beides. Sie sind also juristisch gesehen wertlos. Kammeier konnte mit juristischer Präzision diesen Sachverhalt an Hand guter Unterlagen (besonders der mehrbändigen Ausgabe von Harry Bresslau, Berlin 1889 bis 1931) deutlich herausarbeiten.
Bresslau (Bd. II, S. 442 ff) selbst nimmt die meisten Urkunden als echte Dokumente ihrer Zeit, wundert sich aber, daß das 9. und 10. sowie auch das 11. Jahrhundert eine Zeit war, »in der in der Tat der mathematische Sinn mancher Urkundenschreiber auch in der Reichskanzlei so mangelhaft entwickelt war, wie man es kaum für möglich halten würde, wenn nicht die genaueste Untersuchung der Kaiserurkunden dieser Periode Belege in Fülle dafür erbracht hätte.« An Beispielen macht er klar, wie es damals zuging: Von Januar des 12. Regierungsjahres Kaiser Lothars I (entspräche 835 AD) springt die Datierung im Februar auf das 17. Regierungsjahr desselben Kaisers über, behält dies aber nur bis zum März bei und bringt ab Mai länger als zweieinhalb Jahre lang das 18. Regierungsjahr. Unter Otto I wurden zwei Urkunden mit »anno incarnationis 976« ausgestellt, obgleich sie in die Jahre 955 und 956 gehören, usw. Auch in der Papstkanzlei kommen solche Fehler häufig vor. Bresslau zieht allergenaueste Erwägungen in Betracht über örtlich verschiedene Jahresanfänge, über verschiedenen Bezug der Urkunde (auf den notarisch beglaubigten Akt oder den Ausstellungmoment usw.), auch über psychologische Irrtümer (besonders kurz nach Jahresbeginn) und fehlerhafte Abschriften von Vorlagen und dennoch: es bleiben übermäßig viele Urkunden mit völlig unmöglicher Datierung .
Aber an Fälschung denkt er nicht, im Gegenteil: Wenn sich Fehler mehrmals wiederholen, sind dies Beweise für die Echtheit der Urkunden! Und das sogar, obgleich viele Daten nachträglich angefügt sind oder in einer Weise angebracht, die uns das zwar nicht mehr erkennen, aber auch nicht ausschließen läßt, wie er selbst weiß. Mit all seinem Bienenfleiß konnte dieser hochgebildete Mann sich nicht soweit über die Materie, die er studierte, erheben, daß er sie in Frage zu stellen vermochte.
Das ist erst Kammeier gelungen.
Einer seiner Zeitgenossen, der in höchstakademischer Stellung forschte wie Bresslau, Bruno Krusch, wundert sich in seinen Studien zur fränkischen Diplomatik (1938, S. 56) über eine Originalurkunde, in der Buchstaben fehlen, »die Lücke ist leer gelassen.« Aber er kennt auch Diplome mit freigelassenen Stellen für die Namen der Begünstigten, »zum später nachtragen« (S. 11). Ge- und verfälschte Urkunden gibt es massig, sagt er, aber nicht jeder Diplomatiker sieht das ein. Es gibt auch »alberne Fälschungen« mit »unglaublicher Jahreszählung«, was schon Henschen und Papebroch im 17. Jahrhundert dazu führte, die Urkunde über das Privileg Chlodovechs I als Fälschung zu erkennen. Das Diplom, das König Chlothars III für Bèze ausstellte, und das Bresslau als beweiskräftig annimmt, ist für Krusch eine »plumpe Fälschung, die vielleicht deshalb nie angefochten wurde, weil jeder verständige Kritiker sie sofort als solche erkannte.« Und die Urkundensammlung Chronicon Besuense ist für ihn fraglos eine Fälschung des 12. Jahrhunderts.(S. 9)
Krusch äußert sich dann (ab S.39) lobend über den 1. Band der Diplomsammlung von Pertz (1872), weil der neben 97 echten Merowinger- und 24 echten Hausmeier-Urkunden fast genau soviele als gefälschte erklärt, nämlich 95 und 8. »Das Ziel der Urkundenforschung muß nun die vollkommene Scheidung der echten Urkunden von den Fälschungen sein, und der Urkundenforscher, der dieses Ziel nicht erreicht, hat in seinem Berufe die höchste Stufe nicht erklommen.« Krusch scheidet nämlich noch weitere der von Pertz als echt bezeichneten Urkunden als Fälschungen aus, darunter einige, die längst schon als solche entlarvt waren. Von den Fälschungen, die Krusch nachweist, sind einige so jämmerlich, daß jede Diskussion zuviel wäre, wie er sagt. Da gibt es erfundene Pfalzen, Kuckuckseier im Stil, falsche Daten ... kurzum: Kammeier war nur etwas radikaler als diese Koryphäe der deutschen Forschung.
Als Hans-Ulrich Niemitz (1991) Kammeiers Thesen wieder vorstellte, hat er auch einige Schwächen kritisiert. Doch der nackte Tatbestand, den Kammeier aufdeckte, ist so deutlich, daß man erschrocken innehält. Es gibt nämlich von keinem wichtigen Dokument oder literarischen Werk des Mittelalters die Originalhandschrift, nicht einmal die den verschiedenen Kopien zugrundeliegenden »gemeinsamen Vorlagen«. Die erstellten Stammbäume der überlieferten Kopienketten zeigen dies mit beharrlicher Sturheit. Auf Zufall ist das angesichts einer dermaßen großen Zahl nicht mehr zurückzuführen. Kammeier zieht den Schluß: »Die vielen angeblich verlorengegangenen gemeinsamen Vorlagen sind in Wahrheit niemals vorhanden gewesen.« (1980, S. 138).
Dann beschäftigt er sich mit dem Inhalt der »Urkunden« und findet heraus, daß die deutschen Kaiser und Könige nirgendwo residierten, sie müssen ständig unterwegs gewesen sein. Nicht selten befanden sie sich an zwei Orten zugleich oder überbrückten in zu kurzer Zeit zu weite Entfernungen. Die auf diese Weise heute erstellten »Itinerare« ergeben ein regelloses Hin- und Herziehen. (S. 66-68).
In vielen Urkunden fehlen nicht nur das Datum oder der Ortsname, sondern sogar der Empfängername (!). Dies betrifft zum Beispiel bei den Urkunden unter Heinrich II ein gutes Drittel, bei Konrad II nahezu die Hälfte aller Dokumente. Ein praktischer Zweck für diese Fälschungen muß also ausgeschlossen werden, denn man konnte sie nie vor Gericht als Beweis anführen.
Sodann läßt die ungeheure Menge an gefälschten Urkunden aufhorchen. Einige hier und da eingestreute Fälschungen hätte man durchaus zu erwarten, nicht aber den umgekehrten Fall: Es gibt fast keine echten Urkunden. Die Fälschungen sind oft äußerst schlecht ausgeführt, wobei nicht einmal die Schrift in sich stimmt. Oft wurde auf abgeschabten älteren Pergamenten neu geschrieben. Dergleichen Nachlässigkeit verstößt gegen alle Regeln der Fälscherzunft. Vielleicht sind die zahlreichen Überschreibungen von älteren Pergamenten (»Palimpseste«) aus dem Bemühen zu erklären, möglichst »echte« alte Schreibunterlagen zu verwenden.
Soviel steht fest: Die Widersprüche zwischen den einzelnen Dokumenten sind unüberbrückbar.
Auf die sich aufdrängende Frage, welchen Sinn diese ungeheure Menge an wertlosen Urkunden, die wahrscheinlich in viel späterer Zeit hergestellt wurden, haben könnte, gibt Kammeier die einzige Antwort, die mir einsichtig vorkommt: Diese Diplome sollen »Geschichte« vortäuschen, sie sollen eine Lücke füllen, sollen weltanschauliche Grundlagen in der Vergangenheit verankern. In juristischer Hinsicht sind sie ja wertlos.
Die Fälscherarbeit muß in riesigem Umfang, wohl auch überstürzt, jedenfalls nicht mehr lenkbar vor sich gegangen sein. Nach den ersten Fehlern, nämlich widersprüchlichen Jahresangaben, ließ man darum die Datumszeile offen in Erwartung einer allgemeinen Richtlinie, die allerdings nie vollständig durchgesetzt werden konnte. Die Große Aktion, wie Kammeier diesen Fälschungsvorgang bezeichnet, ist nie abgeschlossen worden.
Die von Kammeier vorgegebenen Gedanken klangen seinerzeit höchst ungewohnt und wurden nicht akzeptiert. Die Grundidee scheint mir richtig. Darauf aufzubauen und Klarheit zu gewinnen, müßte wichtigste Aufgabe aller Historiker sein.
Einmal aufgeweckt durch Kammeiers Entdeckung habe ich in vielen Richtungen geforscht und kann als Ergebnis bestätigen, daß tatsächlich eine ungeheure Veränderung unseres gesamten Geschichtswissens vorgenommen wurde, bewußt und mit Eifer, leider ohne genauen Plan. Nachträglich einen Plan hineinzudenken, halte ich für ausgeschlossen. Von den frühesten Humanisten wie Nikolaus Cusanus bis zu den Jesuiten ist eine Geschichtsschöpfung erfolgt, die uns alle betrifft, weil sie uns den Blick auf die wirklichen Geschehnisse verdeckt.
Keiner der hier vorgestellten Kritiker hat gleich zu Anfang gewußt, wie groß das Ausmaß der Fälschung ist. Schrittweise mußte er immer weiter vorgehen und Dokumente der Antike oder des Mittelalters ausscheiden, die er vor einigen Jahren noch für echt gehalten hatte. Mir ist es selbst so gegangen.
Erzwungene Widerrufe, Verbote seitens der Staatsmacht oder der Kirche, »Unglücksfälle« (ich erinnere an Lacunza) und simple Not haben das übrige getan, um die Zeugnisse der Kritiker zu vernichten. Vielfach kamen die Wahrheitskünder auch aus den eigenen Reihen, wie ich gezeigt habe.
Welche Umgestaltung unseres Weltbildes durch die Kritik an den Quellen herbeigeführt wurde, sagt Bernheim (1912, S.75), »kann man sich am besten veranschaulichen, wenn man ein älteres gutes Handbuch der Geschichte mit einem guten neuen vergleicht. Da sieht man z.B. in den Genealogischen Tabellen von Johann Hübner, die 1708 erschienen sind und lange ein sehr angesehenes Handbuch waren, als Vorgänger des Frankenherrschers Chlodwig I aufgeführt eine gewaltige Menge 'Könige der Sikambrer, Könige der Westfranken und Herzöge der Ostfranken', alle mit genauer Angabe der Regierungsjahre und genealogischen Verhältnisse; und von allen diesen mehr als 60 Herrschern hat kein einziger überhaupt existiert, diese sämtlichen Daten sind durch die neuere Kritik mit Sicherheit als das allmählich erwachsene Produkt teils sagenhafter, teils gelehrter Erfindung nachgewiesen und sind selbst aus den bescheidensten Handbüchern verbannt worden.« Dem möchte ich nur hinzufügen, daß auch Chlodwig bald den Weg seiner Vorgänger gehen wird.
INHALT DES GANZEN BUCHS
Abschnitt 1: Seit Erschaffung der Welt
Abschnitt 2: Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Abschnitt 3: Die spanische ERA
Abschnitt 4: Das magische Jahr Tausendeins
Abschnitt 5: So wird eine Epoche geschaffen
Abschnitt 6: Die Entlarvung der spanischen ERA
Abschnitt 7: Der geniale Regiomontanus
Abschnitt 1: Warven, Ablagerungsschichten in schwedischen Seen
Abschnitt 2: Die Radiokarbonmethode verändert unser Geschichtsbild
Abschnitt 3: Ist die Karbonbestimmung wissenschaftlich?
Abschnitt 4: Sind Eisschichten datierbar?
Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?
Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie
Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer
Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte
Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera
Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«
Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?