Kapitel 4: Der Hebel von außen

Inhalt des Kapitels

Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie

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Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid


Wenn alles ins Schwimmen gerät, fragt man sich natürlich, wie echt denn die Elefanten waren, mit denen Hannibal die Alpen überquert haben soll, oder jener Elefant, den Karl der Große von Harun al Raschid geschenkt bekam. Vielleicht ist nicht nur dieser Elefant aus einer Mücke aufgeblasen worden, sondern die beiden Herrscher Karl und Harun sind es ebenfalls, wie Illig (1996) drastisch fordert. Angelika Müller spricht (in VFG 4-5, 1992b) von einem »Kuriositätenkabinett« oder »Panoptikum« der mittelalterlichen Historie. Über den Gesandtenaustausch zwischen dem islamischen Kalifen und dem christlichen Kaiser gibt es weder arabische noch griechische Quellen, und die lateinischen sind laut Pouqueville (1833, zit. in Müller S. 104) »fabulös«. Müller geht so weit, daß sie den arabischen Geschichtsbüchern bezüglich der Gestalt des »Fürsten der Gläubigen« Harun nicht mehr Vertrauen entgegenbringt als der Sammlung »1001-Nacht«, die ja für das Abendland die eigentliche Informationsquelle über diesen Kalifen war.
Nach ungeprüfter Lehrmeinung werden die Karolingerkönige und zeitgleichen Päpste durch arabische Geschichtswerke, die eigenständig davon berichten, bestätigt. Man denkt hier besonders an die Frankengeschichte des Raschid ud-Din Tabib. Er gilt als einer der größten Geschichtsschreiber Persiens (Enzyklopädie des Islam) und seine Weltgeschichte (1306-11) als »gewissenhaft, unter Auswertung der besten Quellen«, besonders natürlich dort, wo sie das einzige Zeugnis jenes Zeitabschnitts darstellt. Boyle (in der engl. Encl. of Islam 1994) bezeichnet sie sogar als die erste Weltgeschichte überhaupt. Trotz zahlreicher Abschriften, die der große Arzt und Staatsmann Raschid herstellen ließ, ist uns keine einzige vollständig erhalten.
Raschid war als Sohn einer reichen jüdischen Familie 1247 geboren und trat mit 30 Jahren zum Islam über. Als Wesir der Ilchane förderte er in vorbildlicher Weise soziale Einrichtungen, die seinen Namen trugen, und schrieb die Geschichte der Mongolen, die er dann auf Bitte des Chans ausweitete zu einer allgemeinen Weltgeschichte, in der die persische und arabische Geschichte wie auch die Indiens und des Frankenreiches ihren Platz hatten. Durch Palastintrigen wurde er des Giftmordes an seinem Herrn beschuldigt und 1318 zusammen mit seinem Sohn hingerichtet.
Dank der ausgezeichneten Arbeit von Karl Jahn (1977) liegt uns die Frankengeschichte als Faksimiledruck mit guter Übersetzung und kompetentem Kommentar vor, so daß ein sorgfältiger Einblick möglich ist. Auf der Rückseite der Handschriftseite 419 in Zeile 33 steht tatsächlich etwas über Karl den Großen, hier Karlos genannt.
»Als Kaiser Leo starb, erhob der damalige Papst jenen Karlos, welcher Rey d'Ifrans war, zum Kaiser und setzte ihn in Rom auf den Thron, weil er ihm bei der Vertreibung des Königs der Lombardei beigestanden hatte. Er regierte 14 Jahre und hielt die Muslime vom Frankenreich fern. Er brachte die Dornenkrone des Messias aus Jerusalem nach Rom.« Das ist alles über den großen Kaiser, es folgen Ludwig I und sein Sohn Lothar.
Eigentlich hätte Kaiser Konstantin VI, ein Sohn Leos, und außerdem der Name des Papstes genannt werden müssen, aber die 14 Jahre sind nicht falsch, wenn man nur die Zeit von Karls Krönung in Rom bis zu seinem Tod nimmt. Die Geschichte mit der Dornenkrone gehört natürlich ins Fabelreich. Die anderen Angaben, selbst wenn sie fehlerhaft sind, etwa nicht?
Machen wir doch einige Stichproben zu weiteren »historischen« Personen! Raschid meint, es wäre Papst Symmachus gewesen, der den ersten Frankenkönig taufte, aber die Kirche behauptet, ein gewisser Papst Remigius habe Chlodwig getauft. Das könnte ein Versehen sein, denn die Reihenfolge der Päpste ist bei Raschid recht durcheinander, einige werden mehrmals gezählt, und zwischenhinein sind locker einige Kaiser untergebracht. Die Wahl der deutschen Kaiser durch Kurfürsten, die erst ab dem 13. Jahrhundert eingeführt wurde, bringt Raschid schon nach Otto III (also nach 1002). Diese Rückprojektion von der Staufer- in die Ottonenzeit ist ein typisch kirchliches Produkt. Überhaupt muten viele Anekdoten, die den einzelnen Kaisern zugeteilt werden, reichlich kindisch an; selbst wenn sie wahr wären, hätten sie keine Bedeutung für den Lauf der Weltgeschichte gehabt.
Aber auch die unmittelbar letzten Nachrichten von 1295 bis 1301, über Täbris in Persien und die Moslem-Kolonie Lucera, sind ein heilloses Wirrwarr. Jahn sagt dazu: »Es ist kaum anzunehmen, daß diese chronologischen Ungereimtheiten mit Wissen Raschids Eingang gefunden haben« (S. 92). Der ganze Schluß ist nicht weniger fehlerhaft als der ältere Teil: Der Autor wußte nicht, daß der von ihm genannte Papst seinerzeit schon ein Jahr tot war. Aber der Nachbearbeiter, Banakati, hatte noch weniger Ahnung; er läßt Papst Benedikt XI, der 1304 starb, bis 1317 regieren. Die Jahresangaben sind übrigens im gesamten Werk katastrophal, geradezu willkürlich verwendet. Es wird nach Hedschra datiert, auch nach UC der Römer und der Indiktion (Zinsjahr), sogar nach byzantinischer (oder jüdischer?) Weltschöpfungsära, und zuweilen nach der alexandrinischen Ära. Nur die Anno Domini-Rechnung kommt nicht vor.
Außer den verwirrten Zahlenangaben, die immer irgendwie zu entschuldigen sind, trifft man aber auch auf Anachronismen, die mit der Unkenntnis eines »späteren Bearbeiters« entschuldigt werden: Da ist von einer »Mappa Mundi« die Rede, aber solche Weltkarten gab es 1311 noch nicht, sondern nur Portolane für die Seefahrt.
Und wie steht es mit den Nachrichten aus dem eigenen, dem islamischen Bereich?
Raschid beschreibt den Beginn des Islam so: Kaiser Heraklios von Byzanz eroberte im 9. Jahr seiner Regierungszeit Jerusalem (= 735 alexandrinisch), drei Jahre später Alexandrien und Ägypten, dann Nubien. Im 10. Jahr seiner Regierung erhoben sich die islamischen Heere in Yathrib (Medina), im 25. Jahr der Regierung des Heraklios eroberten sie Antiochien und zerstörten Jerusalem. Heraklios eroberte Aserbeidschan und nahm dem Yäsdegird das geraubte Kreuz Christi wieder ab. Danach eroberten die Muslime den Iran.
Das ist in groben Zügen nicht falsch, wenn man von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeht, nur das Datum ist umwerfend, denn 735 alexandrinisch ergibt rechnerisch 426 AD, also zwei Jahrhunderte zu früh (die persische Eroberung Jerusalems liegt auf unserem gewohnten Zeitstrahl im Jahr 614). Selbst wenn sich das gut zu den neuen Ideen fügen würde, ist es doch Unsinn. Und die Angaben über das islamische Andalusien, das mit Persien jahrhundertelang in intellektuellem Austausch stand, strotzen nur so von Fehlern.
Zumindest inhaltlich müßte Raschid Rechtgläubigkeit vorweisen, aber was lesen wir: »Kaiser Theodosius II regierte 27 Jahre, da kamen die Siebenschläfer (aus ihrer Höhle) hervor. Es handelte sich um 7 Personen.« Das ist ketzerisch, denn im Koran (Sure 18, 23) steht, daß nur Gott ihre wahre Anzahl kenne. Handelt es sich gar nicht um das Werk eines gläubigen Moslems?
Vorbild für die »Frankengeschichte«, schreibt Jahn, war die syrische »Weltchronik« des Bar Hebraeus (1226-86), von der es eine arabische Kurzfassung gab (entdeckt von Pococke 1663). Auch eine oder mehrere Papstlisten von der Art wie Martin von Troppau (gest. 1278) sie schrieb, lassen sich als Grundlage ausmachen. Die Daten sind leider in völlig ungeordneter Weise übernommen, »wahllos«, »verwirrt«. Als chronologischer Maßstab ist Raschids Werk unbrauchbar, und da es nur aufzählt, ohne eine Analyse der Ereignisse zu bringen, ist es als Chronik vollkommen wertlos. Es steht auch in der persisch-arabischen Literatur einzig da und hat keine Nachfolge ausgelöst, wurde nicht einmal von anderen benützt.
Man könnte es einfach vergessen. In seiner verwirrten und schematischen Art entblößt es jedoch das ganze Problem mittelalterlicher Geschichtsschreibung.
Die Hauptquelle war also die Weltchronik des Bischofs Gregor ›Bar Hebraeus‹, eines getauften Juden aus Südarmenien, der als Nachbar der Byzantiner am besten über Ostrom Bescheid wissen müßte. Dennoch wird Byzanz in dem persischen Werk nicht erwähnt, während Indien ausführlich behandelt wird. Jahn erklärt das mit religiös-politischen Gründen, die mir nicht einleuchten.
Martin von Troppau, der angeblich später zum Erzbischof von Gnesen ernannt worden sei, den Posten aber nicht mehr antreten konnte (auf diese Weise kann man sein Fehlen in Gnesen nicht als Gegenbeweis verwenden), hatte in seine lateinische Chronik, die auch mehrfach »in fränkische Volkssprachen übertragen« wurde, eine Menge Propagandalügen eingebaut; das erklärt manches bei Raschid. Jahn findet auch heraus, daß die Namen der Länder und Personen bei Raschid in altfranzösischer oder italienischer Form vorkommen, wobei Genua wohl am stärksten herausklingt, so daß man denken kann, ein Genueser Kaufmann habe dem Raschid als Informant gedient.
Damit wird die Spur gewiesen: Die Frankengeschichte des Wesirs der Ilchane ist eine stümperhafte iranische Version einer der vielen christlichen »Chroniken«, die weder ehrlich gemeint waren noch ernst zu nehmen sind. Als Propagandaschrift könnte sie sinnvoll gewesen sein. Damit ist es aus mit der Eigenständigkeit und dem unabhängigen Nachweis für Karolinger oder Päpste durch islamische Chroniken.

Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser


Wenn also eine echte Bestätigung durch parallele Chroniken ausfällt, müssen wir nach Anhaltspunkten suchen, die in der islamischen Überlieferung selbst die Suche nach den fehlenden Jahrhunderten klären.
Über die Geschehnisse im iranischen Bereich im 4. Jahrhundert gibt es überraschenderweise auch arabische Texte. Das muß jedoch auf einer Zeitverschiebung beruhen, denn an keiner anderen Stelle hellen arabische Geschichtsschreiber das Dunkel auf, das in der Dschahiliya-Zeit herrschte, das heißt: in den Jahrhunderten der Unerleuchtetheit vor Mohammed. Die Sassanidenherrscher werden in diesen Texten wie die geliebten Herren Arabiens behandelt. Selbst Jahrhunderte später im Iran bringt Omar Chayyam in einem Quartett noch einen Lobspruch auf Bahran Gor aus (d.i. Varahran V, der 439 starb), was für islamische Dichtung undenkbar wäre, wenn dieser Herrscher nicht in der als islamisch anerkannten Geschichte eine segenbringende Rolle gespielt hätte, also in die ersten Jahrhunderte der Hedschra einzuordnen wäre.
Franz Altheim (Bd. I, S.205) wundert sich, daß Münzen aus Buchara von 632-634 einen Buchstaben tragen, der zu soghdischen Briefen des 4. Jahrhunderts gehört, ein Sprung über 3 Jahrhunderte; man spricht daher bei diesen Münzen von »intermediate Bukharan imitations«.
Damit wird die Verschiebung auch hier sichtbar.
Der letzte Sassanide, Yäsdegird III, wird von den anstürmenden islamischen Heeren in die Nordostecke seines Reiches verjagt und dort – angeblich – 651 getötet. In chinesischen Quellen taucht ein Sohn Yäsdegirds auf, Feros III (die Numerierung ist unerklärt), der vor den Moslems floh und in China am Kaiserhofe zum General avancierte. Er baute Feuertempel in Si-ngan-fu und genoß große Ehren. Sein Sohn Ni-ni-sse war sogar General des »linken Flügels« der kaiserlichen chinesischen Armee. (Grande Encyclopédie, Bd.25, Stichwort Parsisme).
Vielleicht hat dieses Überleben der Sassaniden etwas mit der hartnäckigen Legende zu tun, derzufolge Yäsdegird nicht getötet wurde, sondern weiterlebte und eines Tages wiederkehren wird, weshalb man bis heute die Jahre seit seinem Regierungsantritt (632) weiterzählt als Yäsdegird-Ära. Wir haben hier ein typisches Mahdimotiv, wie es für den iranischen Raum kennzeichnend ist und seit 1909 – bezogen auf den islamischen Mahdi – sogar in der iranischen Staatsverfassung steht. Die Ära des Yäsdegird, vor allem auf Münzen erhalten, bringt also Zahlen, die nach moderner Umrechnung um 10 Jahre später als die 622 begonnenen Hedschra-Jahre liegen. Vielleicht ist diese persische Zeitrechnung zum Vorbild für die islamische und christliche geworden.
Der Ausfall der drei Jahrhunderte wird nun besonders deutlich, wenn wir uns das berühmte Heldenepos des Iran ansehen, das an Bedeutung etwa der Ilias in Hellas und dem Nibelungenlied der Franken gleichkommt, das Schahname des Dichters Firdausi aus dem 10. Jahrhundert (= 4. Jh. Hedschra). Das persische Königsbuch spricht Bände.
Firdausi beginnt sein »Buch der Könige« mit dem Satz: »Im Namen dessen, der sich die Erde untertan gemacht hat« – man erschaudert unwillkürlich beim Lesen, denn nicht Allah ist gemeint, sondern Mahmud, und dies ist keine Paraphrase auf das Siegel der Propheten, Mohammed, sondern bezieht sich auf »Mahmud, Herrscher von Iran, Turan und Hind, durch den die Welt geworden ist wie schönste Seide aus Rum!« (Übersetzung von Uta von Witzleben 1960/1984).
Firdausi erhielt für das Monumentalwerk von 60 000 Versen die gleiche Summe in Silbermünzen als Lohn, was ihm aber viel zu wenig schien, denn er hatte für dieses »Lebenswerk« entsprechend viele Goldmünzen erwartet. Als das dem Auftraggeber Mahmud von Gasna zu Ohren kam, beeilte sich dieser, dem Dichter sogleich eine ganze Karawane mit kostbarem Farbstoff als Belohnung zu schicken, die Firdausi leider nicht mehr entgegennehmen konnte, denn als die Karawane durchs Tor der Stadt einzog, wurde er gerade im Sarg durch das andere Tor hinausgetragen. Die Anekdote mag erfunden sein, soll aber zumindest besagen, daß Firdausi ein zu seiner Zeit hochgeschätzter und von der Obrigkeit geförderter Dichter war.
Das früheste erhaltene Manuskript des Schahname stammt von 1217, mithin wären zahlreiche Arabismen und islamische Formeln darin zu erwarten. Doch im Kern kommen keine vor. Auch spätere Abschriften beginnen nicht mit Bismillah, und vom Propheten findet sich so wenig eine Spur wie von Allah. In der Urfassung, die spätestens um 1010 vorgelegen haben muß, ist kein einziger islamischer Gedanke enthalten. Es handelt sich um ein heidnisches Epos, das die Geschichte des Iran von der frühesten Bronzezeit bis zum Ende des Sassanidenreiches wiedergibt. Mit dem letzten Sassaniden, Yäsdegird III, bricht das Epos unerklärlicherweise jäh ab. Von der folgenden islamischen Eroberung und dem ungeheuren Aufschwung, den Persien unter den Kalifen von Bagdad nahm, erfahren wir kein Wort. Feueranbeter und Magie, Ahuramasda und der Kampf der Lichtengel gegen die Engel der Dunkelheit sind die religiösen Hauptthemen des Riesenliedes.
Rund 350 (in Worten: dreihundertfünfzig) Jahre islamischer Herrschaft sind spurlos an Firdausi und seinen Zuhörern vorübergegangen. Bei aller Toleranz, die wir dem Islam zugestehen – das wäre doch ein starkes Stück!
Das Werk war ja nicht heimlich entstanden. Hätte Mahmud von Gasna nicht allen Grund gehabt, den Dichter töten zu lassen und das Manuskript dem Feuer zu übergeben? Er tat das Gegenteil. Es wird überliefert, daß Mahmud nicht sehr erfreut war über die im Lied immer wieder ausgedrückte Verteufelung des Turan, Mahmuds Heimat, und daß auch die Herkunftsgebiete der Araber zur Domäne der Dunkelheit erklärt wurden, sei ihm peinlich gewesen, als er später mit dem Kalifen von Bagdad diplomatische Beziehungen anknüpfte. Aber von religiöser Ablehnung war nie die Rede.
Firdausi konnte also mitten im islamischen Herrschaftsgebiet, im 4. Jahrhundert der Hedschra, sein kraftvolles Loblied auf das arische Heidentum singen, ohne Gefahr zu laufen, verfolgt zu werden. Er konnte seine theologischen Anschauungen, die vom Islam meilenweit entfernt waren, straflos vortragen, konnte den damals angeblich seit Jahrhunderten islamisierten Turan und das arabische Mutterland des Islam als Abgrund böser Geister hinstellen und – der Gipfel! – die letzten dreihundertfünfzig Jahre »des Lichts« völlig übergehen.
Ich glaube nicht, daß man hier von einer kurzfristigen iranischen Renaissance sprechen kann, wie dies zuweilen von einigen Wissenschaftlern vorgebracht wird, wenn ihnen diese Ungereimtheiten zu kraß vorkommen. Das Schahname wurde jahrhundertelang kopiert und prachtvoll illustriert, wovon in Berlin ein besonders schönes Zeugnis existiert.
Die einzig denkbare Schlußfolgerung ist die, daß zu Firdausis Zeit die Zoroastrier noch tonangebend und der Islam im Iran unbekannt war.
Firdausi war übrigens kein Einzelgänger, sondern benützte als Grundstock für sein Epos ganz im Stile seiner Zeit, – die noch kein Copyright kannte – die Liedfragmente einer Reihe von Dichtern der vorigen Generation, deren Namen uns bis heute bekannt sind. Und diese knüpften, wie er selbst, direkt an die Sassaniden an. Neu an ihrer Sprache, dem Pahlewi, ist eigentlich gar nichts, nur die Schrift in den Manuskripten, die bekanntlich frühestens aus dem 13. Jahrhundert stammen, ist arabisch, genau: neu-persisch. Dadurch kann sich im Laufe der Zeit auch die Aussprache gewandelt haben. Aber ein Text aus der Sassanidenzeit ist linguistisch vom Schahname nicht verschieden.
Man hörte also beim Tod von Yäsdegird III (gegen 650) im Iran auf, Lieder und Gedichte oder Chroniken zu schreiben, und fing dann gegen 950 wieder damit an, und zwar vornehmlich mit der Zusammenfassung der iranischen Geschichte von der Urzeit bis 650.
Eine Vorstufe zum Königsbuch bildet die umfangreiche Chronik der iranischen Dynastien, manchmal Chudayname genannt, die ein Landadliger zusammen mit einem zoroastrischen Priester und einem Höfling während der Regierungszeit von Yäsdegird III verfaßte. Sie soll durch Ibn al Muqaffa' (der heidnisch Rosveh, Sohn des Dadoe hieß und nach arabischen Angaben um 757 starb), ins Arabische übersetzt worden sein (hierzu O. Klima, S. 66). Da die rückerschlossene Vorstufe des Schahname nur knapp eine Generation vor Firdausi verfaßt worden sein dürfte, kann eine arabische Übersetzung davon nicht schon mehr als zwei Jahrhunderte vorher geschrieben sein. Eigentlich nimmt man auch nur an, es handele sich um eine Vorstufe, um die Chronologie zu retten. Eine neupersische Übersetzung sei aber erst im 10. Jahrhundert erfolgt. Eine derartige »Übersetzung« aus dem Mittelpersischen ins Neupersische ist jedoch überflüssig, denn der Übergang dieser beiden Sprachformen ist unmerklich (ebenfalls nach Klima, S.67). Man möchte daraus eigentlich schließen, daß die Islamisierung des Iran erst im 10. Jahrhundert begann.
Al-Mas'udi berichtet, daß er im Jahre 915 bei iranischen Gebildeten in der Stadt Istachar eine große Königschronik sah. Ihre Texte begannen mit »pat nam-i Yasdan« (= im Namen Gottes), nicht etwa mit »Bismillah«, das wie eine gelungene Nachahmung klingt.
Tatsächlich sind sich die neueren Iranforscher darin einig, daß ein Bruch zwischen dem Mittelpersisch der Sassaniden und dem Neupersisch der Moslems nicht erkennbar ist. Der Unterschied liegt in der Verwendung der Lettern. Die arabischen Buchstaben hätten sich gegenüber der alten Pehlewi-Schrift schrittweise durchgesetzt, weil sie leichter zu handhaben seien. Das klingt mir aber unrealistisch, denn eine so vokalreiche Sprache wie das Persische läßt sich nur umständlich mit der reinen Konsonantenschrift der Araber wiedergeben. Eine zwangsweise Übernahme der arabischen Schrift ist eher anzunehmen.
Darum sagt Klima (S. 138, 131), daß die oft behauptete Lücke von 150 und mehr Jahren nicht existiere, sondern »ein schwerer Irrtum« sei. Es gäbe eindeutige Belege für das Neupersische im 7. Jahrhundert. Die Wiedergeburt der persischen Literatur unter dem Islam sei eine »Fiktion späterer Zeiten«. So habe man aus dem Jahre 642 zwei Gedichte, die in sprachlicher Hinsicht fast gleich seien: Das eine ist ein spätmittelpersisches Mathnawi, das andere ein frühneupersisches Gedicht (S.135). Klimas Argumentation weist auf das Problem deutlich hin. Eine Entwicklung, die in sehr kurzer Zeit und vermutlich zwangsweise ablief, nämlich die Übernahme der arabischen Lettern bei gleichbleibender Sprachform, muß über den unvorstellbar langen Zeitraum von 350 Jahren gestreckt werden.
Die Diskussion des Problems wird allerdings dadurch erschwert, daß einige Spezialisten nur das heidnische Alt- und Mittelpersisch bearbeiten, andere nur das islamische Neupersisch. Ob es zwischen beiden eine Lücke gibt und wie weit sie zwischen den beiden Fachdisziplinen klaffen könnte, wird kaum erörtert.

Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud

Einer der größten Astronomen in Ostpersien, Al-Biruni, schrieb eine umfangreiche Abhandlung über die Zeitrechnungssysteme der alten Völker. Er war 973 (oder richtiger: im 4. Jh. der Hedschra) in Chwaresm (das ist das spätere Chanat Chiwa) geboren, unterhielt einen Briefwechsel mit dem Arzt Ibn Sina (»Avicenna«) und reiste mit dem Eroberer Mahmud von Gasna nach Indien, um dort griechische Wissenschaften (!) zu lehren und indische Philosophie zu studieren. Ab 1030 lebte er am Hofe von Mahmuds Sohn Mas'ud in Gasna und verfaßte mathematische, medizinische und astronomische Abhandlungen. Wichtig für uns ist sein Buch Athar ul-Bakiya, in dem er die Grundsätze des Kalenderwesens und der Zeitrechnung abhandelt. Da der damals im ostpersischen Chorassan übliche Kalender hinsichtlich der Jahreslänge nicht genau war, verschoben sich die landwirtschaftlichen Feste gegenüber der Jahreszeit. Darum sollte der König die Monatszählung wieder in Einklang bringen. Er ordnete an, daß der Jahresanfang wieder nach dem »syrischen« Kalender befolgt werde, allerdings unter Verzicht auf die bis dahin benützte persische Ära-Zählung. Nun stimmte das Datum des Weinfestes wieder und alle anderen davon abhängigen landwirtschaftlichen Feiertage (nach Lentz 1938).
Was ich an diesem Bericht bemerkenswert finde, ist, daß man in dieser angeblich seit 350 Jahren islamisierten Hochkulturgegend noch nach zoroastrischem und syrischem Kalender die Zeit einteilte und dem Weinfest soviel Bedeutung zumaß. Der zusätzliche Verzicht auf die Ära-Zählung weist auf eine chronologische Verschiebung hin.
Al-Birunis Landesherr war der recht gut bekannte Mahmud von Gasna, der erste große Türkenherrscher des islamischen Ostens. An ihm fällt nicht nur auf, daß er den heidnischen Firdausi für sein anti-arabisches Epos belohnte, sondern auch, daß er erst relativ spät, nämlich nach 1000, diplomatische Beziehungen zu den islamischen Herren von Bagdad aufnahm. Vermutlich war er noch als Heide geboren und erst im hohen Mannesalter zum Islam übergetreten. 1003 ließ er sich von seinem Vasallen Chalaf zum Sultan ausrufen und begann die Eroberung des Pandschab, weshalb er seitdem als »al Gasi« (= der Sieger) in die islamische Geschichte einging.
Sein Vater, Subuktegin (= geliebter Prinz) hinterließ Mahmud eine Aphorismensammlung über adliges Verhalten, Pandname (wir würden es »Fürstenspiegel« nennen), in der er erklärt, aus dem türkischen Karluk-Verband vom Issik-Göl zu stammen. Später führten Höflinge seine Herkunft auf Yäsdegird III zurück, der auf seiner Flucht vor den Moslems dort eine Türkin geheiratet habe. Subuktegin war also noch Heide. Es gehört zwar zur landläufigen Praxis, sich einen illustren Ahnherrn zuschreiben zu lassen, aber wenn jener sein Reich schon vor 300 Jahren verloren hat und Feind der seitdem herrschenden Staatsreligion war, dann lohnt sich dieser Rückgriff eigentlich nicht. Zwischen Yäsdegirds Tod und Subuktegins Anspruch auf königliche Abstammung dürfte statt 350 Jahren nur eine Generation gelegen haben.
Klima (S. 66) weist auch darauf hin, daß die türkischen Emire und Schahs ihre Stammbäume durch zoroastrische Gelehrte auf Jamschid oder späte Sassaniden zurückführen ließen. Diese Türken – und im Verein mit ihnen die Hephthaliden – wehrten sich mit aller Kraft gegen die islamischen Heere. Die Könige von Kabul widerstanden dem Islam bis ins 10. Jahrhundert. Auf ihren Münzen sieht man den Feueraltar und liest in Mittelpersisch Herrschernamen wie Sri Bahmana Vasu Deva, also echt hinduistisch. Die darauf angebrachten Jahreszahlen – in diesem Fall 65 – werden von Numismatikern (Mitchiner 1977, 63) fraglos als Hedschra-Jahre aufgefaßt und damit ins 7. Jahrhundert eingeordnet. Aber würde man die Zeitrechnung des Todfeindes auf den eigenen Münzen verwenden?
Ob man hier die Ära von Chosrau II (590 – 627) fortsetzte oder die von Yäsdegird III (ab 632) oder eine eigene, wäre zu untersuchen. Aber Hedschra-Jahre können es nicht gut sein. Überdies reichen die wenigen Münzen der Kabulkönige nicht von 700 bis 1000, das ist leicht erkennbar.
Dennoch war es nach offizieller Geschichtsschreibung erst Alptegin, der Lehnsherr von Subuktegin, der den Kabulkönigen Gasna entriß, wo 977 Subuktegin seinen Hauptsitz einrichtete. Aus seiner Ehe mit einer Adligen aus Zabulistan entstammte Mahmud (daher »i-Zawuli« genannt), der ab 999 auf Münzen als »Wali Amir al Mu'minin« (= Gouverneur des Chefs der Gläubigen) tituliert wird und somit erstmals als sunnitischer Moslem erkennbar ist.
Offiziell gesehen – es muß immer wieder dagegen gehalten werden – sollen die islamischen Heere Kabul schon 662 erreicht haben, vor 666 schon Herat und Balch erobert und in Merw – das heißt : im chinesischen Machtgebiet – eine Garnison errichtet haben. Ohne den Sprung über drei Jahrhunderte sind diese Angaben nicht miteinander vereinbar.
Wiederum entsteht der Eindruck, als ob die islamische Eroberung Transoxaniens zweimal erfolgt sei, im Abstand von mehr als 200 Jahren.
Eine doppelte Missionierung – wie in Marokko durch Okba ben Nafi 680 und dann durch die Emire von Córdoba nach 911 – haben wir auch im Industal. 712 bringt Mohammed ben Kassim den sunnitischen Islam in den Sindh, und 1003 führt Mahmud al Gasi die erste Islamisierung des Indusgebietes durch. Der Abstand beträgt 291 Jahre. Streichen wir sie, dann könnte Ben Kassim unter Mahmuds Schutz im Sindh missioniert haben. (Ausführlicher s. Topper ZS 4-96).
Das Ergebnis der Überlegungen zur iranischen Zeitrechnung sieht nun so aus :
Ferdausi schrieb kurz nach der Vertreibung von Yäsdegird III in dem Bewusstsein, daß das Ende der persischen Monarchie gekommen sei angesichts der beginnenden Islamisierung des Iran. Diese fand ihre offizielle Form etwa um AD 1003 durch Mahmud von Ghasna.
Nun stellt sich die Frage: Wer vertrieb Yäsdegird? Es müssten die Buyiden gewesen sein, die im 4. Jh. Hedschra im Iran herrschten. Sie sind die ersten Sunniten des Iran. Vor ihnen gab es dort nur eine synkretistische Religion, die vielleicht als Urform des Islam zu bezeichnen wäre, ebensogut auch als manichäisch oder gnostisch gelten könnte, und die sich unter der zoroastrischen Oberherrschaft friedlich ausbreitete. Im Rückblick wurden die ersten drei Jahrhunderte der Hedschra sunnitisch, d.h. es hat eine Umschreibung der früheren Texte stattgefunden. Diese ist aber nur als angelegte Aktion denkbar. Ging sie der katholischen Aktion voraus? Und hat sie eventuell die katholische Aktion erst angeregt?
Diese Frage müßte von Byzanz wie von Andalusien her beantwortet werden. Bezüglich
Andalusien hat Ignaz Olagüe schon die Antwort gefunden, wie ich noch zeigen werde: Alle Chroniken, auch die arabischen, unterlagen der Aktion, sind nachträglich angelegt und enthalten keine Fakten.


Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung

So bleibt uns als erster fester Halt im schwimmenden Zeitablauf ein Ereignis, das weithin im Orient seine Spuren hinterlassen hat: der Alexanderzug. Der Maurya-Fürst Tschandragupta war noch jung, als er Alexander am Indus begegnete, wie Plutarch in seiner Lebensbeschreibung Alexanders (Kap. 62) berichtet. Der Name des jungen Fürsten lautet dort Androkottos, naheliegend genug. Fürst Tschandragupta vertrieb die griechischen Garnisonen 323-321 und wurde damit zum Herrscher am Indus. Mit diesem Zeitpunkt beginnt die Seleukiden-Ära, die in weiten Bereichen des Nahen Ostens für längere Zeit dokumentiert ist, in Indien selbst jedoch durch verschiedene andere Ären bald wieder abgelöst wurde.

Mit der Krönung des großen Aschoka (269 v.Chr.) beginnt eine neue Zeitrechnung in Indien, die der griechischen an die Seite gestellt werden kann, denn der Erlaß im 13. Jahr von Aschokas Herrschaft (das wäre 256) nennt fünf westliche Griechenkönige, die auch seitens der griechischen Geschichtsschreibung in dasselbe Jahr datiert werden. Leider enttäuscht aber auch diese Jahreszählung, denn sie wurde schon gegen 185 v.Chr. wieder aufgegeben.
Spannend wird es bei der Vikrama-Ära, die angeblich lückenlos bis heute durchgezählt wurde. Ihr zufolge ist unser Jahr 1997 das Jahr 2053 seit der Thronbesteigung König Vikramas. Das rückerrechnete Datum für den Beginn wäre also das Jahr 57 v.Chr. (ein Nulljahr gab es nicht). Dazu schreibt Ginzel (Bd. I, 263 f), es gäbe mehr als 288 Datierungen in dieser Ära, wobei die ältesten beiden die Zahlen 428 und 794 bringen, die jüngste das Jahr 1877 (was 1820 AD entspräche). Das engt den Bereich allerdings wieder ein auf ein rundes Jahrtausend Benützung, wenn man die erste vereinzelt dastehende Erwähnung ausläßt. Und eine erstmalige Verwendung rund 800 Jahre nach dem eigentlichen Ereignis – das sieht fatal nach unserer eigenen Zeitrechnung aus.
Ginzel (S. 387) zitiert dazu den arabischen Schriftsteller Al-Biruni, der berichtet, im Pandschab und in Nepal sei eine Sri-Harscha-Ära in Gebrauch, die 400 Jahre nach Vikrama eingeführt worden sei, aber in einem Kaschmiri-Kalender habe er gelesen, daß Sri Harscha 664 Jahre später als Vikrama beginne, eine Abweichung (von 264 Jahren), die Al-Biruni verunsicherte. Die Epoche für Sri Harscha wäre demnach 607 AD gewesen, was durch andere Dokumente, die 605/606 angeben, bestätigt wird.
Das Problem wird noch größer, wenn wir Tschandra Gupta II, der rund vier Jahrhunderte nach Vikrama gelebt haben soll, ansehen. Er hat die Saken aus Udschaina vertrieben und trägt darum den Ehrentitel Vikramaditya (Basham 1954). Da aber der Sakenvertreiber nicht gut vor den Saken gelebt haben kann (Finegan 1989), ergibt sich, daß die Vikramaditya-Ära, so wie sie heute benützt wird, in ihrem Anfang nicht festliegt. Bei einem Herumschwimmen im Bereich von vierhundert Jahren ist jede weitere Spekulation überflüssig.
Bleiben uns nur noch die Saken übrig, die in allen Büchern als fester historischer Punkt gelten. Die von ihnen begonnene Jahreszählung ist als Saken-Ära in Indien und Südostasien noch heute offiziell in Gebrauch, wir schreiben gerade das Jahr 1921 seit Beginn des Sakenkönigtums. Die Dynastie der Saka-Pahlava (d.h. Skythen-Parther, also aus dem Iran) soll im Jahr 78 AD zur Herrschaft gelangt sein, nach anderen wird das Thronbesteigungsdatum des großen Kanischka, des dritten Königs dieser Dynastie, als Anfang der Ära bezeichnet. Auf Münzen kennt man mehr als 30 gekrönte Häupter dieser Saken in einem Zeitraum von knapp 200 Jahren. Dennoch ist sowohl die Reihenfolge als auch die Regierungsdauer dieser Könige ungewiß.
Karl-Heinz Golzio (1984, S.12) stellt drei der neuesten Datierungsversuche für die Kuschan – so werden die Saken etwas liebevoller in Indien auch genannt – zusammen und muß erkennen, daß das Chaos ganz ansehnlich ist. Ich habe noch ein paar der neueren Datierungen dazugestellt (siehe nachfolgender Kasten), um das Ausmaß der Verschiebungen sichtbar zu machen.
Als ich vor mehr als drei Jahrzehnten in Indien vor der Statue des berühmten Kanischka in Mathura stand, datierte man ihn ins 4. Jahrhundert, was wohl aus der indischen Chronologie heraus sinnvoll erschien und auch durch Parallelen mit Persien nahegelegt wird; Schapor II (309-379) nannte sich auf Münzen König der Kidari und Kuschan (Altheim II, S. 258), und Yäsdegird II (438 – 457) hatte die Kuschan bekämpft. Da diese nur rund 150 – 200 Jahre an der Macht gewesen waren, müßte Kanischka spätestens im 5., frühestens im 4. Jahrhundert gelebt haben.
Inzwischen werden die Kuschan aber immer früher angesetzt. R. Göbl (1984) hatte für Kanischkas Regierungszeit noch die Jahre 232 – 260 bereit, neuerdings einigen sich die Gelehrten auf »um 200« (Plaeschke 1988). Narain setzt ihn schon seit längerem (1957, 1968) um hundert Jahre eher an, und die ganz fortschrittlichen (Eggermont, Mukherjee, Lohuizen-de Leeuw) sehen seinen Regierungsantritt wie die Traditionalisten im Jahr 78. Damit kann er zum Zeitgenossen des Kaisers Vespasian werden.
Die Kuschankunst war zwar schnell dem indischen Charme erlegen, läßt aber doch noch den Ursprung aus der Steppe erkennen, der dieses turanische Reitervolk kennzeichnet. Die Statuen der Könige in ihrer Reitertracht passen eher in die Völkerwanderungszeit als zu den klassischen Römern. Vima und Kanischka machen trotz aller Anpassung an die indische Hochkultur einen derart »barbarischen« Eindruck, daß eine nur auf Münzen begründete Frühdatierung zuviele Widersprüche auslöst. Aber natürlich sind derartige Stilvergleiche subjektiv und kein Beweis für absolute Datierung.
Technologische Details sind eher aufschlußreich: Altheim (Bd. I, S. 199) arbeitet heraus, daß das Schwert des Kanischka eine Querstange aufweist, und diese Parierstange tritt bei Hunnen, Chinesen und Iranern erst im 5. Jahrhundert auf, nicht eher. Auf einem Jagdrelief in Tak-i-Bostan trägt Peroz (457-484) erstmals ein Schwert mit dieser Querstange. Wenn die Kuschan nach Schapor II selbständig wurden, was Vima oder Kanischka zuzuordnen wäre, können diese Herrscher frühestens nach 379 gelebt haben, also glatte drei Jahrhunderte nach der ihnen traditionell zugeteilten Zeit.
Die schrittweise Verschiebung Kanischkas vom 4. ins 1. Jahrhundert macht mich stutzig. Wenn seine Ära genau festliegt und bis heute weitergezählt wird, noch dazu er selbst wie seine Vorgänger und Nachfolger mit zahlreichen Münzen belegt sind, sollten wir hier doch einen unangreifbaren Festpunkt haben. Aber das erweist sich als Fiktion. So variiert das Todesdatum von Vasiska, um nur den auffälligsten zu nennen, um 230 Jahre, und die Länge seiner Regierungszeit schwankt bei den einzelnen Autoren zwischen 4 und 32 Jahren. Damit ist das Vertrauen in die Zeitrechnung der Saken erschüttert.
Außerdem tritt ein neues Problem auf. Indem man Kanischka um drei Jahrhunderte vorverlegte, also einen ähnlichen Sprung wie bei der Vikrama-Ära postulierte, wurde die Lücke zu der nachfolgenden Gupta-Dynastie enorm groß. Diese Lücke wurde in jüngster Zeit nun mit weiteren Kuschankönigen aufgefüllt. Man schuf zunächst einen Kanischka II und Kanischka III (Göbl 1984; Narain), sodann verdoppelte man Kanischkas Vorgänger Vima Kadphises und verdreifachte Vasudeva; auch Huviska wurde zweigeteilt. Da genügend Statuen und Münzen vorhanden sind, ordnete man sie nach stilistischen Unterschieden – die jedoch allesamt unmerklich sind (so selbst Göbl 1984 a) – den erschlossenen Kuschankönigen zu.
Man ist also keineswegs bemüht, eine Zeitlücke zu erkennen, – das heißt: ehrgeizig zuviel geschriebene Jahrhunderte auszumerzen – sondern füllt die aufgerissene Lücke mit Phantomgebilden auf. Das erinnert sehr an die verzerrten Pharaonenlisten, (auf die Velikovsky aufmerksam machte), nur mit dem bedeutenden Unterschied, daß diese Form der Geschichtsschöpfung wider besseres Wissen für den Bereich Indien gerade erst in unserer Forschergeneration abläuft. (Siehe dazu das Schema)

Vielleicht kann man noch einmal eine Parallele zwischen indischer und europäischer Geschichtsschreibung finden, wenn man das Ende der Gupta-Dynastie, die auf die Kuschan folgte, betrachtet. Mitte des 5. Jahrhunderts stürmten aus den Steppen jenseits des Oxus wilde Reiterstämme heran, von den Indern Huna genannt, bei uns als Hephthaliden (türkisch Haytal) bekannt. Skandagupta (455 – 467) war der letzte König, der noch Widerstand leistete, als der Hunne Toramana und sein Sohn Mihirakula (ein echter Drakula), beide von abstoßender Grausamkeit, Nordindien eroberten. Diese Hunnen traten später zum Schivaismus über und regierten ihr Reich von Kaschmir aus. Der Vergleich mit den Hunnen Attilas scheint mir berechtigt.
Nun heißt es allerdings, daß diese Kaste bis zur türkischen Eroberung – also Anfang des 11. Jahrhunderts – an der Macht blieb. Eine 550 Jahre währende Hunnen-Herrschaft ist höchst unwahrscheinlich, 250 Jahre würden eher ins Bild jener Zeit passen. Wir müssen 300 Jahre ausfallen lassen, um dem geschichtlichen Vorgang gerecht zu werden. Die Türkenstürme, die in Randregionen des großen asiatischen Steppenraumes im 7. Jahrhundert vermerkt wurden, entsprechen denen in anderen Gebieten im 10. Jahrhundert und sollten künftig als zeitgleich angesehen werden.

Liste der Kuschan-Herrscher

  Eggermont u.a. Narain [1957,68] Plaeschke [1988] Göbl [1984]
Kujula Kadphises 25 30 – 80 122 –
Vima Kadphises 35 80 – 120 170 – 199 166 – 230
Kanischka I 78 – 106 103 – 125 201 – 223 232 – 260
Vasiska 106 – 138 126 – 130 322 – 328 350 – 360
Huviska (I + II) 138 – 170 130 – 162 228 – 260 260 – 292
Vasudeva I 142 – 176 166 – 200 264 – 298 292 – 312
Vasudeva II 230 – 262 312 – 332
Kanischka II 151 143 300 – 317 332 – 350
Kanischka III 200 – 230 328?-
Vasudeva III 360 -
weitere Herrscher keine Daten mehr        



Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien

Die Anhänger Zarathustras im Iran haben, wie man sich denken kann, nicht in geschlossener Gemeinschaft den Islam übernommen, sondern sich heftig gewehrt und nach der Niederlage in Scharen die Flucht ergriffen, wie ihre eigenen Chroniken berichten. Zwar haben in abgelegenen Gebieten wie Yäsd und Kermanschah einige Gemeinden bis heute (? – zumindest bis 1961, als ich dort war) überlebt, aber insgesamt war die Bekehrung oder Vertreibung doch erfolgreich. Die Parsen von Bombay sind die größte Exilgemeinde der vertriebenen Zoroastrier, und ihre Überlieferungen können weiteres Licht auf die damaligen Vorgänge werfen.
Diese Chroniken oder Epen wie das Kissa-i-Sendschan sind erst nach 1600 verfaßt, beruhen aber auf älterer mündlicher Tradition. Demnach seien die Parsen nach der Niederlage des letzten Sassanidenkönigs Yäsdegird III ins Bergland geflohen (nach »Kohistan«), wo sie hundert Jahre ausharrten. Danach wanderten sie nach Süden und erreichten übers Meer die Gegend von Bombay in Indien. Andere Chroniken bringen genauere Ortsangaben und Jahreszahlen: Zwischen 682 und 697 floh eine große Gruppe nach Hormusd am Indischen Ozean und weiter übers Meer nach Gudschrat (Rypka 1959, S. 128).
Nach ihren eigenen Berichten hatten sie in Hormusd rund 15 Jahre abgewartet, ob sich die Lage im Heimatland wieder normalisieren würde. Erst als man alle Hoffnung fahren ließ, habe man sich nach Indien eingeschifft. Zuerst liefen die Flüchtlinge den Hafen Diu an, wo sie 19 Jahre blieben, bis sie der König von Gudschrat aufnahm und ihnen nach fünfjähriger Probezeit erlaubte, einen Feuertempel zu errichten, so daß sie ihr religiöses Leben fortsetzen konnten.
Wir rechnen nun: 651 (Tod von Yäsdegird) plus 15 Jahre in Hormusd plus 19 Jahre in Diu plus 5 Jahre in Gudschrat ergibt das Jahr 690 für den Wiederbeginn der Gemeinden in Indien.
Dieses Datum fällt etwa mit dem von Rypka genannten Zeitraum zusammen.
Glatte 300 Jahre danach, steht weiter in den Annalen der Parsen, mußten sie sich gegen einen islamischen Angriff verteidigen, wobei sie dem Hindu-König nach Kräften halfen. Der Angreifer hieß (laut französischer Grande Encyclopédie Bd.25) Asaf Chan und war ein General von Mahmud von Gasna, was etwa um 1003 anzusetzen wäre. Der Hindukönig und seine parsischen Alliierten wurden geschlagen, worauf sich die Parsen ins Gebirge zurückzogen. Sie konnten aber bald wieder ihre Wohnsitze einnehmen, denn der islamische Angriff war nicht von Dauer. Das paßt auf Mahmuds Indienzug, der nur im Pandschab von bleibender Wirkung war.
Der Sprung über drei Jahrhunderte, in denen weder Priester noch Könige genannt werden, macht allerdings stutzig bei diesem so geschichtsbewußten Volk. In ihren Berichten ist dieser Zeitraum leer geblieben. Wenn aber Mahmud tatsächlich im Abstand einer Generation auf Yäsdegird III folgte, wie oben schon nahegelegt, dann ist dieser Sprung erklärlich.
Die parsischen Flüchtlinge rechneten von Yäsdegirds (III) Thronbesteigung weiter, weil niemand nach ihm mehr den Pfauenthron bestieg, und schrieben etwa das Jahr 600, als die Portugiesen Bombahia (=die gute Bucht, Bombay) gründeten und mit den Parsen Kontakt aufnahmen. Auf dem portugiesischen Zeitstrahl waren aber seit dem Aufstieg des Islam und der damit verbundenen Vertreibung der Parsen aus dem Iran schon 900 Jahre vergangen, entsprechend ihrer Kirchengeschichte. Um 1600 schrieb nun ein gelehrter Parse das Sindschan, die Chronik der Parsen in Indien, und fügte – um den neuen Erkenntnissen der überlegenen portugiesischen Siedler gerecht zu werden – die fehlenden 300 Jahre zwischen ihrer Vertreibung aus dem Iran und der Verteidigung gegen Mahmud in die Chronologie ein. Die drei Jahrhunderte blieben zwar ohne jegliche Angaben (das Erfinden von Sagengestalten war wohl nicht Angelegenheit dieses Chronisten), verzerrten aber das Gesamtbild und glichen es der europäischen Geschichtsschreibung an.

Das Problem der Datierung der Parsenflucht taucht in allen heutigen Nachschlagewerken auf. Einerseits rücken in den lapidaren Zusammenfassungen der Lexika die islamischen Heere im 7. Jahrhundert gegen die Feueranbeter vor. Andererseits erfolgt die dadurch ausgelöste Massenflucht der Parsen erst im 10. Jahrhundert (wie z.B. im Brockhaus 1972). Das kommt wohl daher, daß man im ersten Satz islamische, im zweiten parsische Quellen zugrundelegt. Hier ist die Verschiebung der beiden Zeitskalen gegeneinander offensichtlich.
Den Parsen ist diese Diskrepanz natürlich selbst zuerst aufgefallen. Da sie im 18. Jahrhundert unter dem politischen Schutz der Engländer als »europide Rasse« in Indien bald zu Ansehen und Einfluß gelangten, knüpften sie selbstbewußt Kontakte mit den im Iran verbliebenen Glaubensgenossen, die trotz jahrhundertelanger grausamer Unterdrückung noch überlebten, und baten um Priester zur Unterweisung in der rechten Lehre. Zweimal, so wird berichtet, in den Jahren 1721 und 1736, kamen Mobeds aus dem Iran nach Indien. Dabei trat etwas Unerwartetes zutage: Die Zeitrechnung der beiden Gruppen, der iranischen und der indischen Zoroastrier, stimmte nicht mehr überein. Die Feste fielen auf verschiedene Tage. Angeblich habe der Unterschied einen Monat betragen, aber was damit tatsächlich ausgesagt wird, ist unklar. (Zum Vergleich: Der Unterschied zwischen Julianischem und Gregorianischem Kalender beträgt zur Zeit zwei Wochen).
Der Streit war grundsätzlicher Art und unüberbrückbar. Die indischen Parsen hätten nämlich alle Daten der früheren Zeit von den Sassanidenkönigen an, deren Ära man wohl sorgfältig weitergeführt hatte, völlig neu schreiben müssen. Es bildeten sich nun zwei Gruppen unter den indischen Parsen, die Schahinschahis (»Königlichen«) und die Kadimis (»Altgläubigen«). Die einen übernahmen die neue Kalenderform von den Sendboten aus dem Iran, die anderen beharrten auf ihrer alten Datierungsweise, die sie selbst nach Indien mitgebracht hatten. Jahrzehntelang tobten blutige Kämpfe zwischen beiden Parteien, bis man 1783 in der Stadt Broach einen Kompromiß schloß, der das Thema schlicht unter den Tisch fegte. Seitdem bestehen beide »Sekten« nebeneinander. Mischehen kommen kaum vor, aber Kämpfe auch nicht mehr.
Die Encyclopedia Britannica (1911) sagt unter dem Stichwort »Parses« über die beiden Sekten: »Sie unterscheiden sich in keinem einzigen Glaubenspunkt; der Disput beschränkt sich auf den Streit um das korrekte chronologische Datum für die Berechnung der Ära Yäsdegirds, des letzten Königs der Sassaniden-Dynastie.«
Leider konnte ich nirgendwo einen Hinweis auf den strittigen Zeitraum finden, der die beiden Kalenderansätze trennt. Aus den Chroniken geht nur hervor, daß die Diskrepanz für die Festtage einen Monat beträgt. Daraus sind keine Schlüsse zu ziehen. Selbst wenn die Parsen für ihre Wahrheitsliebe und ihre Traditionstreue genügend Beweise geliefert haben, würde uns ihr Chronologiestreit nicht als Hauptargument dienen können. Auffällig bleibt allerdings, daß ein so friedfertiges Volk um dieses Problem fast zwei Generationen lang Blut vergossen hat. Es muß hier um etwas Grundsätzliches gehen, das alle Vernunft übersteigt: um die Identität, die durch geglaubte Geschichte begründet wird.



Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet

Überraschenderweise fällt auch in Ostasien das Ergebnis der Prüfung in unserem Sinne aus. Die Wirksamkeit der europäischen Missionare ist unübersehbar.

Ein kurzer Sprung übers Meer nach Japan brachte ebenfalls eine charakteristische Unstimmigkeit in der Jahreszählung. Es gibt dort eine »traditionelle« Geschichtsschreibung, die sich auf eigene Überlieferungen stützt, und eine »moderne«, die an unserer eigenen Zeitrechnung geeicht wurde. Die traditionelle beginnt 660 v.Chr., wenn man die Lebensdaten der Herrscher zusammenzählt. Man schreibt in Japan also jetzt (1997) das Jahr 2657. Die westliche Zählung setzt für Japan im Jahr 230 n. Chr. mit dem Tod von König Kaika ein, der japanisch traditionell im Jahr 98 v.Chr., also 328 Jahre eher liegen würde. Da die Regierungs- oder Lebensdaten der folgenden Herrscher in den beiden Systemen ebenfalls unterschiedlich sind,aber im japanischen System immer kürzer werden, nähern sich die beiden Ketten stetig einander an und kommen beim Jahr 531 bzw. 534 n.Chr. zusammen ( nach Golzio 1983). Man nennt auch das Jahr 532, und das ist schwer verdächtig, denn es ist das Ende des ersten Osterzyklus des katholischen Mönches Dionysius Exiguus, dem unsere heutige Jahreszählung angelastet wird. Die Gleichsetzung könnte durch christliche Missionare festgelegt sein und ist damit für unsere Forschung wertlos.
So hat sich auch die zunächst verläßlich aussehende Aufzählung der japanischen Könige, die seit der ersten Chronik von 711 n.Chr. schriftlich durchgeführt wird, als unbrauchbar für unsere Nachforschung erwiesen. Und wenn die Japaner auch seit 711 (oder nach Ginzel, Bd. II, S.482: seit 701, bei Yachita 601) durchgehend bis 1872 nach Sonnenjahren gerechnet haben, wissen wir doch nicht, mit welchem Jahr dieses Jahr 711 auf unserem Zeitstrahl zusammenfällt.

Und wie steht es mit Tibet?
Man darf erwarten, daß ein Volk, das über gut ein Jahrtausend von einer schriftbegeisterten und traditionsbewußten Priesterschaft geführt wurde und noch dazu meist von fremden Einflüssen abgeschirmt war, einen konkreten Hinweis für unsere Suche bereithält.
Legendär ist der Anfang des Hochgebirgsreiches: Die Yarlung-Dynastie sei durch einen Inder aus dem Geschlecht der Sakya – also demselben, dem Buddha entstammte – um 50 v.Chr. gegründet worden und habe bis zum Anfang des 7. Jahrhunderts die Geschicke des Landes gelenkt. Dann habe Namri-Srongtsan (bei einigen Autoren 607, bei anderen gegen 620) als Eroberer und Reichseiniger den ersten großen buddhistischen Staat des Hochlands gegründet. Sein Nachfolger Srongtsan Gampo (629 – 698) machte Lhasa zur Hauptstadt und führte die aus Indien erhaltene Schrift ein. Die Blütezeit dieses Reiches, das im Norden bis zur Mongolei, im Westen bis Baktrien reichte, erfolgte unter Kri Srongtsan (744 – 786). Ein weiterer berühmter Herrscher, Ralpa Tschan (806 – 842) veranlaßte eine Sammlung buddhistischer Schriften. Seitdem hat sich die tibetische Hochsprache prinzipiell nicht mehr verändert. Doch beim Tode dieses Königs begann ein »dunkles Zeitalter« (Golzio 1984, S. 43). Der dämonische König Langdarma rottete den Buddhismus aus und setzte Bönpriester als Wahrer der Staatsreligion ein.
Genau 200 Jahre später gelang es dem indischen Missionar Atischa, den Buddhismus in Tibet wieder heimisch zu machen, indem er die verlorenen Texte neu übersetzte (J. Finegan, 1989).
Auf eine mehr als 200jährige Hochkulturzeit mit buddhistischen Texten folgte also eine glatt 200jährige »Dunkelzeit« und dann eine Renaissance mit erneuter buddhistischer Bekehrung. Dennoch sind die Texte der vorherigen Zeit bis heute lesbar. Kann man solchen Chroniken glauben? Oder verbirgt sich da vielleicht wieder die an so vielen Orten entdeckte, jedoch literarisch gut verdeckte Verschiebung? Im 11. Jahrhundert beginnt jedenfalls die »echte« historisch erfaßte Zeit, etwas später als in Europa, möchte man fast sagen.
Die im Jahr 1026 in Indien eingeführte neue Zeitrechnung Brihaspati (Ginzel, II, 406: = Kaliyuga 4128) ist auch in Tibet ab 1100 erwähnt worden, kombiniert mit dem chinesischen 60er Rhythmus, den Prabhava-Zyklen. Aber wieder handelt es sich um eine Rückerrechnung der Epoche, denn vor dem 13. Jahrhundert kam diese Zählweise nicht in Gebrauch (Dieter Schuh 1973, S. 143).
Gleichzeitig benützte man in Tibet eine andere Zeitrechnung, Baidurya Karpo genannt, deren Gesamtzyklus 1063 Jahre beträgt. Er vollendete sich im Jahre 1686 zum ersten Mal, woraus sich errechnen läßt, daß sein Anfang in dasselbe Jahr fällt wie der der Hedschra, nämlich 622 n.Chr. (Ginzel II, S. 408). Möglicherweise bot die oben erwähnte Gründung des ersten buddhistischen Staates in Tibet durch Namri-Srongtsan Anlaß zur Festlegung eines Beginns der Zeitrechnung Baidurya Karpo. Es mutet wie purer Zufall an, daß die Tibeter ihre Ära im selben Jahr wie die Moslems begonnen haben, aber vielleicht ist auch hier wieder fremde Gleichsetzung am Werke gewesen, die uns den Durchblick verwehrt. Ein Zyklus von 1063 Jahren ist nämlich der doppelte Osterzyklus der katholischen Kirche, aufgebaut auf den metonischen Mondrhythmus von 19 Jahren und den Wochenrhythmus von sieben Tagen, was bei zwei Durchgängen (19 mondabhängige Jahre mal 4 Schaltjahre mal 7 Wochentage mal 2 Zyklen =) 1063 ergibt. Beda der Verehrenswerte hatte darum seinen Osterkalender just mit dem Jahr 1063 AD enden lassen. Wir wissen aber nichts von einer tibetischen 7-Tage-Wochenrechnung, darum ist der Verdacht einer katholischen Kontaminierung naheliegend und läßt uns wieder einmal im Stich bei unserem Versuch, eine unabhängige Zeitrechnung zu finden.


Abschnitt 7: Rom in China

Durch die überraschenden Nachrichten aus Amerika über Azteken und Inkas hatte man in Europa im 16. Jahrhundert deutlich gespürt, daß es außer der Achse Jerusalem-Athen-Rom noch mehr Kultur auf dieser Erde gab. Die größte Gefährdung kam aus China. Die in vieler Hinsicht überlegene chinesische Kultur bedeutete für die katholische Kirche einen katastrophalen Schock. Sie sah sich ihres Monopols als Verwalter der Weisheit beraubt. Konfuzius faszinierte die aufgeklärten Geister. Es war vor allem Leibniz, der 1669 begeistert die chinesischen Anregungen aufnahm und einen gegenseitigen Austausch von Kulturbotschaftern vorschlug, weil er sich viel davon versprach, wenn die beiden höchstentwickelten Kulturen der Erde ihre Erkenntnisse vereinigen würden. 1697 legte er in seiner Schrift Novissima Sinica die revolutionierenden Gedanken nieder. Seine binäre Mathematik (1703), die heute Grundlage der Computertechnik ist, war ein direktes Ergebnis der Beschäftigung mit chinesischer Philosophie.
Der umfangreiche Briefwechsel zwischen europäischen Wissenschaftlern und den Jesuiten in Peking befruchtete das abendländische Denken in einem Maße, daß es der Kirche himmelangst wurde. Es ging vor allem um ein geschichtliches Problem: Entweder glaubten die Leute, daß die im Alten Testament festgelegte Vorstellung der Weltgeschichte korrekt sei, also die Hauptereignisse wie die große Flut und die Abstammung aller Menschen von den Söhnen Noahs sowie das damit vorgegebene Zeitmaß universelle Gültigkeit hätten, oder die ganz anders gestaltete chinesische Geschichtsschreibung gewann Anhänger auch im Abendland.

Eines Tages im Jahre 1625 fanden Bauarbeiter in der früheren chinesischen Hauptstadt Sian-Fu eine 3 m hohe und 2 Tonnen schwere Steinplatte, auf der in chinesischer und syrischer Schrift recht deutliche Hinweise auf Christen im 7. und 8. Jahrhundert in China zu lesen waren. Auf der Inschrift wurde ein Missionar namens Olopen genannt, der 635 in China angekommen war und Gemeinden gegründet hatte. Auch von Christenverfolgungen in den Jahren 699 und 713 war die Rede, von Kirchenbauten und Geschenken seitens des Kaisers, von freundlichen Beziehungen zu buddhistischen Priestern usw. Diese Tafel, die 781 aufgestellt worden sein soll, war von unschätzbarem Wert für die Jesuiten des 17. Jahrhunderts, denn sie beurkundete das hohe Alter christlicher Bemühungen im Reich der Mitte. Und darum ging es ja immer wieder: Nachweis der frühen Ahnen.
Die Nachricht wurde in Europa mit entsprechendem Stolz verbreitet, doch Voltaire und mit ihm viele andere europäische Gelehrte lehnten dieses Schriftstück sofort als Fälschung ab. Das Grundmuster ist typisch katholisch; Märtyrer und kaiserliche Schenkungsurkunden sind ja der ganze Stolz der Kirche im Abendland. Man wußte in Europa vom nestorianischen Christentum und seiner weiten Ausdehnung in Mittelasien sowie der freundlichen Aufnahme, die es selbst in China erhalten hatte, aber katholische Mission vor rund 1000 Jahren in einem so fernen Weltwinkel – das war unglaubwürdig.
Die Einordnung als katholisches Dokument wurde von den Jesuiten betont: Im chinesischen Text steht, daß Christus 27 Bücher hinterlassen habe, eine Art Kanon seiner Lehre. Der syrische Kanon des Neuen Testamentes, die Peschitta, enthält aber nur 22 Bücher, während der katholische Kanon aus 27 Büchern besteht. Damit waren die Nestorianer durch die Inschrift aus dem Felde geschlagen. Außerdem wurde die katholische Zwei-Naturenlehre der Person Jesu gegen die nestorianische Ein-Naturenlehre verteidigt. Darum haben auch im 19. Jahrhundert angesehene Sinologen den Stein als Fälschung abgetan.
Übrigens sind die Fundumstände des Steines reichlich merkwürdig. In chinesischen Texten gibt es keine Hinweise dazu, und der Jesuit Emmanuel Dias, der 1641 (oder 1644) eine chinesische Abhandlung darüber schrieb, ist sich nicht sicher, wann und wo der Stein gefunden wurde, nimmt aber 1623 bis 1625 an. Der Fundort bewegt sich im Umkreis von 40 engl. Meilen. Man erzählte gleich eine christliche Auffindungslegende dazu, mit einem typischen Schneewunder, das ein alter Bauer erlebt haben will ...
Da die Inschrift kaum verwittert war, legte man fest, daß der Stein nach seiner Aufstellung 781 nur 64 Jahre oberirdisch gestanden habe; ab 845 sei er vergraben gewesen.
Ob und wie Jesuiten diesen Stein gemeißelt hatten, ist bis heute nicht geklärt. Der Verdacht reicht schon aus zu weitgehenden Überlegungen, die durch andere Tätigkeiten der Missionare in China verstärkt werden.

Weil es sich bei diesem Marmorblock mit seiner heftig umstrittenen Inschrift um ein wichtiges Beweisstück für die katholische Kirche handelt, habe ich mich eingehend damit beschäftigt.
In seinem prachtvoll bebilderten und oft gedruckten Standardwerk über die Jesuitenmission in China, China illustrata (Amsterdam 1670), bringt Athanasius Kircher, selbst Jesuit, eine ausführliche Darstellung des Steines und aufwendige Verteidigung seiner Echtheit. Nachdem Kircher schon 1640 in seinem Prodromus coptus den Stein bekannt gemacht hatte, mußte er schärfste Angriffe aushalten, die von allen Seiten auf ihn einprasselten, denn niemand wollte an die Echtheit der Inschrift glauben. Er war tatsächlich schon für Leute, die kein Chinesisch können, auf den ersten Blick als absurdes Machwerk erkennbar. »Wenn ihr (Jesuiten) mich täuschen wollt,« schrieb Voltaire in Spottversen, »dann müßt ihr es besser anfangen!« (zitiert nach Dunne, S. 195).
Da sieht man über der Inschrift als Kopfstück ein christliches Kreuz prangen, und zwar gleichschenkelig mit Lilien an den vier Balkenenden. Kircher selbst sagt dazu (S. 47-50), daß es dem Kreuz gleicht, das die Kreuzfahrer auf ihren Mänteln trugen, als sie im 12. Jahrhundert zur Eroberung des Heiligen Landes auszogen. Es ist das sogenannte Malteserkreuz. Das stimmt nicht ganz – denn jenes war nur gegabelt an den Enden – aber recht hat er trotzdem: Das Kreuz mit den Lilienenden ist erst im 12. Jahrhundert aufgekommen, nämlich bei der »Wieder«-Eroberung Spaniens als Zeichen des Mohrentöters Santiago. Vorher gibt es kein Abbild dieses Kreuzes, schon gar nicht bei den syrischen Missionaren des 8. Jahrhunderts.
Auch der Text – bestehend aus 1789 Silbenzeichen – ist recht unglaubwürdig, nicht nur wegen der falschen Angabe über die Anzahl der Bücher des Neuen Testamentes in der syrischen Kirche. Die Stelle, die Kircher für die Zahl angibt, enthält keine chinesische Zahl, und er selbst nennt in seiner »wörtlichen« Übersetzung 34 Bücher (in Worten, also kein Druckfehler), während er in seiner blumenreichen zweiten Übersetzung, eher einer Nacherzählung, von 27 spricht. Schon der Anfang des Textes erinnert an die berühmten Anfangsverse von Johannes, nur daß statt »Wort« hier auf Chinesisch »Prinzip« steht. Auch sonst sind taoistische und buddhistische Begriffe hineingemengt, dagegen erscheinen andere Wörter wie »Gott« (Holooy = Alaha, Elohim) und »Satan« (Sotan) in phonetischer Schreibweise. Jesus heißt Mi Xio (Messias), zu seiner Geburt kommen die Sternanbeter aus Persien, auch die Bergpredigt ist angedeutet, aber der Kreuzestod fehlt. Die Himmelfahrt »genau an Mittag« ist dagegen prachtvoll ausgemalt.
Die Beschreibung von Palästina ist aus chinesischen Romanen genommen, die etwa mit geographischen Vorstellungen in 1001-Nacht verglichen werden können und den altertümlichen Charakter der Inschrift betonen.
Und natürlich ist das Dogma vom Fegefeuer darin verankert, was Kircher mit langen Zitaten (S. 52) aus Bibel und Kirchenväterschriften verteidigt. Seine umständliche Argumentation beweist einmal mehr, (was LeGoff klarstellte,) wie neu diese Vorstellung im 16. Jahrhundert noch war. Woraus sich ergibt, daß die Inschrift gefälscht ist.
Die syrischen Wörter am Seitenrand betreffen eigentlich nur Namen von Missionaren, aber im Gegensatz zur erstklassigen chinesischen Kalligraphie des Haupttextes sind diese Schriftzeichen recht stümperhaft ausgeführt, woraus ich schloß, daß es wohl kein Jesuit war, der den Stein herstellte, sondern – unter Benützung einer Vorlage von Pater Trigault – ein Chinese, dem Syrisch absolut fremd war. Aber gerade der syrische Text ist äußerst wichtig, denn hier ist das Jahr der Errichtung des Steins verewigt, nämlich 1092 griechischer Zeitrechnung (»bi senet alf ve tissain ve tarten diunoio«). Das macht, da deren Anfang mit 310 v.Chr. angesetzt wird, AD 782. Kircher beweist auch diesen Punkt umständlich und langwierig. Wie schön, hier haben wir eine Doppeldatierung, sagt Kircher erfreut, denn die andere Angabe sei durch den genannten Kaiser belegt. Wie dieser prächtige Schluß zustande kommt, wird sich noch zeigen.
Emmanuel Dias, der den Fund in einem Brief vom August 1625 beschreibt, hat noch ein um 250 Jahre höheres Alter, in einem anderen Brief von 1627 aber die korrekte Zahl. Auch in diesem Punkt waren sich also zunächst noch nicht alle Jesuiten einig.
Zu den Fundumständen noch ein paar Einzelheiten:
Der Jesuitenpater Trigault hatte sich 1625 mit einem zwei Jahre zuvor getauften Chinesen, Melchior Chu, der aus bester Familie stammte und hervorragend gebildet war, nach Sian-Fu begeben, der früheren Hauptstadt Chinas. Dort wurde der große Marmorblock gefunden und von Trigault als echt anerkannt. Der Gouverneur und viel Volk eilten neugierig herbei und bewunderten diesen Prachtbeweis christlicher Kontinuität. Man hatte nämlich von chinesischer Seite den Missionaren gegenüber immer wieder bemängelt, daß man nie zuvor von dieser neuen Lehre, dem Christentum, gehört habe. Der Nachweis hohen Alters ist für Chinesen ungleich wichtiger als für Abendländer, darum mußte eine »Ahnenreihe« der christlichen Religion auch für chinesische Ansprüche aufgestellt werden. Man ließ später (1650) an der Kirche der Jesuiten in Peking eine Tafel anbringen, auf der diese Reihe von St. Thomas, einem der 12 Jünger Jesu, über die syrischen Missionare und Franz Xaver (der nie in China war) bis zu Mateo Ricci, dem ersten großen Genie der modernen Jesuitenmission, aufgeführt wird.
Wer hier fehlt: die heute durchaus anerkannte Mission der Franziskaner im 13. und 14. Jahrhundert, die man gewiß gerne angeführt hätte, wenn sie damals schon erfunden gewesen wäre.
Das wichtigste Bindeglied zwischen der Legende von St. Thomas und der modernen Wirklichkeit war also der »Nestorianer-Stein«, wie das Fundstück von Sian-Fu heute heißt. Es erfüllte zwei Funktionen zugleich: Es befriedigte die chinesische Sucht nach hohem Alter der christlichen Mission und es schuf fürs Abendland einen unumstößlichen Beweis der seit tausend Jahren unveränderten Rechtgläubigkeit der katholischen Kirche mit genauen Angaben über Dreieinigkeit, Jungfraugeburt, Fegefeuer und Zweinaturenlehre.
Aber gerade diese relativ modernen römischen Dogmen wurden den Freidenkern in Europa zum Anstoß, den Stein als Fälschung zu erkennen. Nun habe ich mich gefragt, warum Trigault nicht vorsichtiger war. Ich denke, er hatte zunächst nur den ersten der beiden Effekte im Auge gehabt. Der chinesische Konvertit, der den Stein schaffen ließ, kannte ja nur den katholischen Glauben des 17. Jahrhunderts und hätte mit syrischen (»nestorianischen«) Glaubenssätzen nichts anfangen können.
Johann Terrenz (Schreck) aus Konstanz, Kollege von Trigault in der Mission, ein brillianter Naturwissenschaftler und guter Freund von Galilei, war der erste, der den syrischen Teil der Inschrift entzifferte. Vielleicht hat er ihn selbst entworfen. Terrenz hatte sich auf der Seereise nach China mit solchen Texten beschäftigt. Ganz sauber ist das Syrisch aber nicht.
Bei Kircher stehen dann noch die üblichen Manöver beschrieben, die bei derartigen »Funden« aus Sicherheitsgründen immer vorkommen: Der Gouverneur ließ sofort eine Kopie des Steines absolut gleich und naturgetreu herstellen und in Sian-Fu aufstellen. Danach verschwindet das Original. Das ist natürlich nur eine Geschichte, um späteren Einwänden zu begegnen, wenn man aus genauen Analysen das tatsächliche Alter der Inschrift bestimmen will. Er stammt dann von 1625, ohne daß damit die Fälschung bewiesen wäre. Der Jesuit Alvarés Samede, der den Stein 1628 sah und beschrieb, wundert sich, daß die chinesische Schrift so sauber und gut lesbar war, als wäre sie gerade erst geschrieben; nur die syrischen Zeichen – er nennt sie »chaldäisch« – sind ihm unklar. Ob der gelehrte Mann etwas ahnte?
Im selben Jahr beging Trigault in Sian-Fu Selbstmord durch Erhängen (Dunne, S. 213). Er hatte schon einige Jahre nicht mehr direkt missioniert, sondern sich rein der Erforschung der chinesischen Geschichte und dem Schreiben gewidmet. Er schlief nur noch drei Stunden täglich und arbeitete unter enormer nervlicher Anspannung. Vielleicht war ihm klar geworden, was er da angerichtet oder geduldet hatte. Sein Gönner und getaufter Freund, Melchior Chu, war übrigens schon als junger Mann am Kaiserhofe des Betrugs überführt und auf Lebenszeit von allen Staatsämtern ausgeschlossen worden, was ebenfalls ein seltsames Licht auf den ganzen Vorgang wirft.
Im 19. Jahrhundert stellte der französische Sinologe Stanislas Julien noch einmal fest, daß es sich um eine Fälschung handeln müsse, und sein Kollege E. E. Salisbury von der Yale-Universität hielt dies für die seinerzeit allgemeingültige Ansicht. Auch der große Religionswissenschaftler und Orientalist Ernest Renan schrieb 1855, daß der Stein gefälscht ist; erst acht Jahre später entschied er sich für dessen Echtheit. Seit Pauthier (1837) setzt sich diese Meinung schrittweise durch. Hirth (1885) nimmt den Stein als Dokument an. 1908 wurde eine Imitation für das Metropolitan Museum of Art in New York hergestellt und eine Kopie dem Vatikan überreicht. Der Nestorianerstein steht seit 1907 im Stelenwald des Museums in Hsi'an (Sian-Fu).


Abschnitt 8: Chinesische Astronomie

Seit der sagenhaften Frühzeit beschäftigten sich die chinesischen Schriftkundigen mit Astronomie, wobei mystische oder religiöse Ziele oft der Hauptantriebsgrund waren. Es ging nicht so sehr um Kalenderfragen wie zum Beispiel den Aussaatbeginn für die Bauern, sondern meist um horoskopartige Festlegung von günstigen und ungünstigen Tagen, was alle Menschen betraf, vom Kaiser bis zum Kuli, und alle Lebensbelange, vom Hausbau bis zum Tanzvergnügen. Ein dafür angestellter Stab von Beamten legte jeweils zu Jahresbeginn die Voraussagen fest. Wenn sie ungenau waren oder eine Sonnenfinsternis vergaßen, glaubte das Volk, daß der Kaiser unfähig sei, denn als Abgesandter des Himmels hätte er es besser wissen müssen.
Leider sind aber die Notizen in den Chroniken kaum brauchbar, da sie fast nie echte Beobachtungen mitteilen, sondern errechnete Daten. Es handelt sich um Astrologie, nicht Astronomie.
Im 11. Jahrhundert erlebte die islamische Welt einen enormen Aufschwung der astronomischen Wissenschaft, aber erst mit der Durchdringung des chinesischen Inlands 1273 durch Sayyid-i-Adschall aus Buchara (unter Kublai Chan) begann die islamische Einflußnahme auf den chinesischen Kaiserhof. Etwa 1351 beginnt auch dort die Neuordnung der Chroniken durch islamische Beamte, die als Kalenderreformatoren wirkten. Dieses Datum ist überaus bedeutungsvoll (siehe Marx 1996 a), denn vier Jahre vorher muß sich in Innerasien eine ungeheuere Katastrophe abgespielt haben, deren Folgen auch in Europa – als Pest oder »Schwarzer Tod« – spürbar waren. Wir können alle chinesischen Kalenderdaten, die davor liegen, als rückprojizierte Erfindungen ansehen.
Als einen der Gründe für den Untergang der Ming-Dynastie und den Selbstmord ihres letzten Kaisers gibt man an, daß seine Hofastronomen unfähig waren, den Kalender korrekt zu handhaben. Offensichtlich hatten die Moslems, die dafür verantwortlich waren, ihre Arbeit in den letzten Jahren nur flüchtig verrichtet, denn Kalender und Finsternisse stimmten nicht mehr.
Während der letzten Ming-Kaiser begannen die Jesuiten ihre Mission in China. Es war eine hochintellektuelle Gruppe von Männern aus ganz Europa, die unter dem diplomatischen Schutz Portugals, aber dennoch unter ständiger Lebensgefahr, den katholischen Glauben ausbreitete. Wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten auf den Gebieten Mathematik, Landvermessung und Astronomie genossen sie die Achtung der adligen Chinesen und wurden auch als Berater an den Kaiserhof berufen. Einer der ersten war der adlige Italiener Matteo Ricci, der 1583 nach China gereist war. Er machte die Chinesen mit dem neuen Planetenmodell bekannt, das sich in Europa gerade durchsetzte. Dadurch waren seine Berechnungen weitaus präziser als die der islamischen Konkurrenz. Der schon erwähnte Terrenz stand auch in China in ständigem Briefwechsel mit Kepler, der ihn bei Problemen der Astronomie beriet.
So gewannen die Jesuiten Einfluß auf die chinesische Zeitberechnung. Ab 1611 durften sie bei der Erstellung des Jahreshoroskops teilnehmen. Für ihre genauen Berechnungen mußten Sabatin de Ursis und Jacques Poutoria erst den Längengrad Pekings ermitteln, was nicht einfach war. Die Chinesen hatten keine Ahnung von diesen Begriffen.
Das Wort für Christentum gab es in chinesischer Sprache bis dahin nicht, man nahm einfach das Wort für Astrologie, Lehre des Himmels. Die Adligen spürten kaum, daß sie bekehrt wurden, denn die Jesuiten gingen äußerst taktvoll und anpassungsfähig vor. Sie waren zunächst als buddhistische Mönche verkleidet, erst später erhielten sie die Erlaubnis ihres Ordens, chinesische Seidengewänder und Kopfbedeckungen zu tragen. Ricci war sehr darüber erfreut, am liebsten hätte er sich dazu noch Schlitzaugen und eine Stupsnase angeschafft, wie er begeistert schrieb.
Sein Nachfolger Trigault hatte einen hochbegabten Mann aus Köln, Johann Adam Schall, 1622 nach China mitgebracht, der ab 1640 Chef der Mission in Peking wurde. Als außergewöhnlicher Mathematiker und Astronom wurde er von den chinesischen Gebildeten bewundert und gefördert. Der erste Kaiser der gerade 1644 an die Macht gelangten Mandschu-Dynastie, der junge Schuntschi, ließ sich häufig von Pater Schall beraten, nannte ihn »Großväterchen« und verkehrte mit dem bärtigen 50-jährigen ohne Zeremoniell in liebevoller Weise. Damals entspann sich ein Streit um die Fortsetzung der Kalenderarbeiten, wobei Schall die Unfähigkeit der islamischen Beamten demonstrierte, indem er eine Sonnenfinsternis mit größter Genauigkeit voraussagte. So wurde er Günstling des Mandschu-Kaisers und Chef der Kalenderkommission. In dieser Machtstellung ordnete er Kalender und Chroniken Chinas nach den neuesten Gesichtspunkten. Das Ergebnis legte er 1662 in Chinesisch (und zwei Jahre später in Latein) vor. Zu diesem Zeitpunkt wurde er mit drei seiner Jesuitenbrüder der schwarzen Magie und Verunehrung des Konfuzius angeklagt und zum Tode verurteilt. Am Tag vor der Hinrichtung ereignete sich ein starkes Erdbeben, weshalb der Kaiser ihn begnadigen konnte. Nach seinem Tod 1666 wurde er offiziell rehabilitiert. Dann übernahm Ferdinand Verbiest aus Belgien die Führung und leitete die Mission bis zu seinem Tod 1688. Die Schicksale dieser Männer sind ungemein spannend!
Insgesamt hatten die Jesuiten 170 Jahre lang die Leitung des kaiserlichen astronomischen Büros inne und konnten sich außer der Verbreitung des Katholizismus auch zahlreichen wissenschaftlichen Aufgaben widmen. Sie wirkten als Geographen und Geschichtsforscher, verbreiteten moderne technische Geräte und betätigten sich politisch, indem sie die Kaiser in ihren Verhandlungen mit Rußland berieten, das allmählich zum wichtigen Nachbarn an der Nordgrenze wurde.

Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie

Mit strenger Folgerichtigkeit wurden von den Jesuiten nur konfuzianische Werke gefördert, denn die Missionare führten einen erbitterten Kampf gegen die »Quasireligionen« Buddhismus und Taoismus. Indem sie die aufgeklärte und staatspolitisch vorteilhafte Philosophie des Konfuzius zu neuen Ehren erhoben, schufen sie sich eine Grundlage für die Ausbreitung des Christentums. Möglicherweise haben sie mittels ihrer Schriften die aufgeklärte Gestalt und politische Strenge des »wiederhergestellten« Konfuzianismus erst geschaffen, ebenso wie sie literarisch jene glanzvolle Epoche der Tang-Dynastie (618-907) schufen, die nach dem Wunsch der Jesuiten den Mandschu-Kaisern als Vorbild dienen sollte.
Die vielleicht nachhaltigste Wirkung jesuitischer Arbeit lag aber in der Neugestaltung der chinesischen Chronologie und ihrer Angleichung an die abendländischen Daten. Als älteste europäische Veröffentlichung einer Zeittafel der chinesischen Kaiser gilt die Tabula chronologica Monarchiae Sinicae von Pater Philipp Couplet (1687), die 1728 in verbesserter dreibändiger Ausgabe vorlag. Aus den zyklischen Zeitvorstellungen der Chinesen war ein gerichteter Zeitstrahl geworden, wie er für das apokalyptische Denken der Kirche typisch ist.
Martin Martini hatte 1658 als erster eine lateinische Darstellung der chinesischen Geschichte von den Anfängen bis zur Zeit von Christi Geburt geschrieben. Der geniale Antoine Gaubil spürte die Verbindungen zwischen China und den übrigen Kulturnationen in der Vergangenheit auf und sandte das Ergebnis nach Europa (Chou King, Buch der Geschichte); seine Lebensbeschreibung (1739) von Dschingis Chan, die erste für das Abendland, brachte ihm große Anerkennung. De Visdelou durchkämmte die chinesische Literatur nach der Geschichte Nordasiens. Und Prémare schuf eine chinesische Chronologie für die Zeit vor dem Chou King von Gaubil.

Mit seiner Geschichte der Tang-Dynastie (veröffentlicht in den Mémoires, Bd. 15 und 16) gelang Gaubil ein Werk, das selbst für die chinesische Geschichtsschreibung grundlegend wurde. Heute wissen wir (Twitchett 1992), daß man um 1700 nur ein einziges Manuskript einer Tang-Chronik besaß und erst später noch einige Bruchstücke aus der Mitte des 17. Jahrhunderts fand, die ebenfalls spät zusammengestellt worden waren, mit angefügten Kapiteln »ohne historischen Wert«.
Das einzige Manuskript mit den später nachgereichten Einzelblättern erinnert mich an den gefälschten Tacitus und die anderen »Klassiker«. Ob Gaubil hier Auftraggeber einer Chronik war? Sein Buch bringt Nachrichten, die nicht einmal in chinesischen Werken jener Zeit zu finden sind (wie Rowbotham 1942 sich ausdrückt).
Was Gaubil als Astronom zur Tang-Zeit bringt, ist recht erstaunlich: Von 721 bis 27 habe der Inder Y-Hang am Kaiserhof die Astronomie wieder zu Ehren gebracht, nachdem sie vorher durch nachlässig falsche Berechnung einer Sonnenfinsternis in Mißkredit geraten war. Der Inder baute ein Observatorium, benützte Astrolab, Sextant und Gnomon, machte genaueste Angaben über Sonnen-, Mond- und Planetenstände und nahm geographische Vermessungen vor. Dabei fällt auf, daß die Angabe über die geographische (oder astronomische) Breite eines Punktes immer korrekt ist, die Angabe über die Länge aber fehlt oder ihr Wert, zum Beispiel bei der Ost-West-Ausdehnung Chinas, halbiert ist. Die Jesuiten hatten ja gerade die Bestimmung des Längengrades von Peking als ihre schwerste Aufgabe zuerst bewältigen müssen, weil weder aus Europa noch aus China selbst Hinweise darüber vorlagen. Dann sind aber genaue Voraussagen von Finsternissen usw. unmöglich.
Von Y-Hangs Beobachtungsinstrumenten, sagt Gaubil, oder seinen genialen Uhren, die alle Viertelstunden erklangen, ist nichts mehr übrig geblieben. Dafür weiß er von einem Observatorium des Kaisers Wu-Wang (1122 v.Chr.), das noch steht. Dieser Kaiser habe für seine Kalenderreform (!) genaue Sternbeobachtungen benützen können. Er besaß auch schon den Kompaß und verschenkte Exemplare an Gesandte aus den südlichen Nachbarländern Chinas. Ja, die Astronomie hatte in China lange Tradition! Schon über tausend Jahre früher hatte Kaiser Tschung-Kang wegen einer falsch berechneten Sonnenfinsternis seine beiden Hofastronomen zum Tode verurteilt. Gaubil errechnete die genau angegebene Finsternis auf das Jahr 2155 v.Chr., sein Kollege P. de Mailla auf 2159 v.Chr. (Pauthier S. 58). Es gibt sogar heute Astronomen, die diese »Beobachtungsdaten« für bare Münze nehmen.
Kehren wir lieber aus den fernen Jahrtausenden zur Tang-Zeit zurück. Ihre Annalen verdienen ebenso wenig Vertrauen.
»Unglücklicherweise«, sagt Twitchett (S. 200) über die Tang-Annalen, »können wir nirgends den Herausgabevorgang im einzelnen nachvollziehen, da für jedes beliebige Ereignis selten mehr als eine – höchstens zwei – Stufen der Zusammenfassung überleben.« Und ebendort: »Es besteht auch keine Frage, daß die Historiker in einigen Fällen mutwillig den Bericht der Ereignisse verdreht haben. ... Einige der noch bestehenden Geheimnisse der T'ang-Geschichte sind gerade deshalb geheimnisvoll, weil der Bericht so verbogen ist, daß er nicht geglättet werden kann und keine unabhängigen Zeugnisse erhalten sind, um sie zu lösen.«
(S. 201): »Moderne Historiker finden die Annalen gewöhnlich den am wenigsten fruchtbaren Abschnitt der Standardgeschichte, nämlich eine reine Kette von Ereignissen, offiziellen Ernennungen und Vorkommnissen bei Hofe, hauptsächlich nützlich, um eine Chronologie zu erstellen, denn sie liefern exakte Daten, doch ohne den erzählerischen Faden oder irgendwelche Einblicke in die Gründe.«
Das kommt mir sehr bekannt vor, dieses Bestreben, erst einmal ein Chronologiegerüst zu erstellen. Mit der Zeit würden Geschichtsschreiber es wohl mit Fleisch und Blut auffüllen.
Dies geschah in China durch nachträgliche »Monographien« zu einzelnen Themen wie Wagenformen und Kleidung, Staatsfinanzen und Musik, Kalender und Astronomie. Sie passen zu vielen Epochen. Zum Thema Literatur gibt es da auch eine Überraschung: Eine Inhaltsangabe des Katalogs der Schriften der kaiserlichen Sammlung der Tang mit Vorwort von 940. Twitchett sagt dazu: »Unglücklicherweise wurde bei der ersten Abfassung dieser Monographie entschieden, die Ergänzung ... über die buddhistischen und taoistischen Werke der kaiserlichen Bibliothek mit 2500 Titeln wegzulassen.«
Ein anderer großer Sinologe, Rotours (1981), hat aus dem Geschichtswerk über den großen Tang-Kaiser Hiuan-Tsong denselben Eindruck gewonnen. Insgesamt ist dieses moderne Werk, das der Chinese Lin Lu-tche 1959 nach den Annalen zusammengestellt hat, eher ein Roman mit frauenfeindlicher Tendenz und idealisierenden Ansichten über das Militär, sagt er im Vorwort. Die Lebensbeschreibungen der Dichter, – der größte Ruhm der Tang – »sind trockene Aufzählungen von Amtstiteln, die diese Dichter im Laufe ihrer Lebenszeit erhalten hatten.«
Am Schluß wiederholt er: »Das System des Volksheeres und die Bodenreform sind nur utopische Träumereien« (S. 586). Von echter Geschichte ist in diesem ausführlichen Werk kaum eine Spur. Ein großer Teil beschäftigt sich mit den sexuellen Ausschweifungen der Haremsdamen und des alternden Kaisers, wobei die moralisierende Sprache wie ein Fürstenspiegel an den jungen Mandschu-Kaiser Schuntschu gerichtet scheint, der nach einer anfänglich vielversprechenden Geistesklarheit sich seinen Haremsdamen überließ. Die im Gegensatz zu allen vorherigen und nachfolgenden Dynastien stehende Gleichberechtigung der Frauen in der Tangzeit könnte eher einem europäischen Hirn entsprungen sein und wird mit warnend erhobenem Zeigefinger als der Anfang allen Übels und Grund für den Untergang der Tang vorgebracht. Der Hauptkampf der Jesuiten am Kaiserhof bestand ja gerade darin, die Vielweiberei abzuschaffen. Daß der junge Mandschu-Kaiser seinen Harem nicht aufgeben wollte, wird von Schall sogar als einziger Grund dafür angeführt, daß sich sein Schützling nicht taufen ließ (Kircher, S. 141 f). Häufig wird in diesen Annalen Aberglaube und Zauberei erwähnt, gegen die der Kaiser (der Tang) in seinen späten Jahren nicht mehr vorging, was als zweiter Grund für den Niedergang seines Reiches angeführt wird. Die Ausrottung der vernunftwidrigen Magie war ja ein wichtiges Anliegen der Jesuiten.
Und natürlich werden die buddhistischen Bonzen der Tang aller erdenklichen Schlechtigkeiten, vor allem erotischer Abenteuer, bezichtigt. Tatsächlich hat der Mandschu, der dadurch abgeschreckt werden sollte, sich später mit seiner auserwählten großen Liebe dem Buddhismus hingegeben.

So bleibt der Verdacht, daß auf einige skelettartige Daten eine ganze Epoche aufgebaut wurde, die zeitlich dem abendländischen Mittelalter genau entspricht und heute als fester Begriff mit genauen Jahreszahlen und Ereignissen in die Weltgeschichte eingefügt ist. Die überragende Gelehrsamkeit der Jesuiten und ihre Machtstellung am Hofe gab ihnen Möglichkeiten, auch China geistig zu prägen. Darin lag die Chance für die Kirche. Wenn man die Chroniken Chinas schrieb wie die von Franken und Germanen, dann brauchte man nichts mehr zu fürchten. Natürlich mußte man sich in zwei Richtungen absichern: Den Chinesen gab man den Anstoß, ihre religionsähnlichen Traditionen abzustreifen und zu einem »gereinigten« Konfuzianismus zurückzukehren, und für die Kirche mußte eine Formel gefunden werden, die die jesuitische »Kanonisierung des Konfuzius« rechtfertigte. Prémare, Bouvet und ihre Anhänger, die man die »Figuristen« nannte, legten fest, daß Japhet, Noahs Sohn, als Gesetzgeber den Chinesen die ursprüngliche echte Religion gebracht hatte, eine Art Monotheismus, an die das geheimnisvolle Buch I-King noch Erinnerung bewahrte. Damit hatte man auch dort den Anschluß gewonnen.
Als Ergebnis der immensen Arbeit erschien 1778 das erste Gesamtwerk der chinesischen Geschichte, etwas, das es vorher in China nie gegeben hatte. Da wurden nicht nur die Dynastien, die Reihenfolge der Kaiser und ihre Regierungsdaten, sondern auch die Übertragung dieser Daten auf die europäische Zeitskala festgelegt. Obgleich man stets die Fehler darin kritisiert, ist das Werk doch bis heute nicht überholt, sondern prinzipiell der Leitfaden für unsere Sinologen geblieben, auch wenn sie sich dessen nicht mehr bewußt sein sollten.

Trotz aller verbleibenden Unklarheiten möchte ich die neuen Gedanken noch einmal kurz ausdrücken: Die Arbeit der Jesuiten am chinesischen Kaiserhof wurde von verschiedenen Personen mit recht unterschiedlicher Auffassung und Zielsetzung durchgeführt. Hauptauftrag seitens des Kaiserhauses war eine Kalenderreform mit den astronomischen Kenntnissen der Renaissance unter Beibehaltung des chinesischen 60er-Zyklus, und daneben eine Ordnung der chinesischen Annalen, wobei die gesamte Geschichte dieses Hochkulturgebietes von der legendären Frühzeit bis zur Gegenwart durchforstet wurde. So gelang die Schaffung einer »glanzvollen Tang-Zeit«. Die Erstellung eines chronologischen Systems war für die Chinesen durchaus neu, sie erfolgte nach lateinischem Vorbild, und insgesamt gesehen im Sinne der katholischen Kirche. Der ganze Vorgang hat anderthalb Jahrhunderte gedauert und wurde schließlich von den Chinesen (ab 1735) gewaltsam beendet.
Wie weit in der enormen Arbeit der Jesuiten eine Absicherung seitens der Kirche zu sehen ist, die gewiß berechtigten Grund hatte, ihre chronologische Sicht der Weltgeschichte durchzusetzen, bleibt offen. Wenn man die Panik sieht, die damals im Vatikan spürbar wurde, als man die Überlegenheit der chinesischen Schriftkultur erkannte, und wenn man das Datum der ersten Gesandtschaft nach Peking, nämlich Pater Riccis Reise 1583, also direkt nach der gregorianischen Kalenderreform (Oktober 1582), mit einbezieht, drängt sich der Gedanke auf, daß hier mit äußerstem Wagemut, Beharrlichkeit und überragender Intelligenz die nötige geistige Verteidigung mitten in Feindesland getragen wurde, um einen berechtigterweise gefürchteten Sturm abzuwenden. Mit der Festlegung der Geschichte in China wurde das Ziel erreicht, den vermutlich einzigen Hebel, der außerhalb der katholischen Geschichtsschreibung existierte, außer Kraft zu setzen.



INHALT DES GANZEN BUCHS

Vorwort


Programm


Kapitel 1: Die zerbrochene Jahreszählung


Abschnitt 1: Seit Erschaffung der Welt
Abschnitt 2: Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Abschnitt 3: Die spanische ERA
Abschnitt 4: Das magische Jahr Tausendeins
Abschnitt 5: So wird eine Epoche geschaffen
Abschnitt 6: Die Entlarvung der spanischen ERA
Abschnitt 7: Der geniale Regiomontanus

Kapitel 2: Ist eine absolute Chronologie möglich?

Abschnitt 1: Warven, Ablagerungsschichten in schwedischen Seen
Abschnitt 2: Die Radiokarbonmethode verändert unser Geschichtsbild
Abschnitt 3: Ist die Karbonbestimmung wissenschaftlich?
Abschnitt 4: Sind Eisschichten datierbar?

Kapitel 3: Die Präzession als Zeitmaßstab

Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?

Kapitel 4: Der Hebel von außen

Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie

Kapitel 5: Ausbreitung des Islam

Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer

Kapitel 6: Wann entstand unsere Bibel?

Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte

Kapitel 7: Die Werkstatt der Humanisten

Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera

Kapitel 8: Bereinigung

Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«

Kapitel 9: Chronologenprobleme

Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?

Neue Aufgaben

Literatur


Stichwortverzeichnis


Uwe Topper als Katastrophist