Kapitel 9: Chronologenprobleme

Inhalt des Kapitels
Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?
Neue Aufgaben

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Abschnitt 1: Chronologiearbeit

Nach der Gregorianischen Kalenderreform 1582 festigte sich das Zahlengerüst, das zwischen Kaiser Augustus (fiktiver Geburtszeitpunkt für Jesus) und dem »Cinquecento« rund 1500 Jahre ansetzte. In der Renaissance hatte man noch andere Vorstellungen gehabt, wie aus den Comentarii von Lorenzo Ghiberti (1378-1455) und Leonardo Bruni aus Arezzo (1370-1444), aber auch anderer Schriftsteller wie Petrarca, Alberti und Vasari, hervorgeht: Man glaubte, daß zwischen dem Untergang Roms (meist gilt 410 als Fixpunkt) und dem Wiedererwachen der Antike (also etwa 1400) nur rund 700 Jahre vergangen seien, d.h. rund 300 Jahre weniger als heute angenommen (pointiert dargestellt durch Siepe 1998).
Man bemühte sich darum, auf jede erdenkliche Art Hinweise auf eine wirklichkeitsnahe Chronologie zu finden. Einer der Autoren, die versuchten, das Generationenregister des Alten Testaments mit astronomischen Rückberechnungen in Einklang zu bringen, war der provenzalische Katholik Nostradamus (1503-66), der im Brief an seinen Sohn die Zeitangaben des Heiden Varro rundweg als falsch erklärte und mit eigener Methode einen Beginn der Jahreszählung festlegte: 4173 v. Chr. sei das erste Jahr Adams.

Der protestantische Theologe Joseph Scaliger (1540-1609), Sohn des berühmten Philologen Julius Scaliger, verfaßte direkt als Antwort auf Papst Gregors Reform ein Werk De emendatione temporum (zu Deutsch etwa: Verbesserung der Zeitrechnung; Frankfurt am Main 1583), in dem er eine neue Chronologie einführte, die allerdings nur minimal von den katholischen Vorstellungen abwich und sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte auch durchsetzte. Sein abschließendes Werk, Thesaurus temporum von 1606, das fünfzig Jahre später Allgemeingut der Geschichtsschreibung wurde, legte unsere heutige Vorstellung fest und ist nur noch in winzigen Details verbesserungsmöglich. Die Tabellen am Schluß des Buches werden praktisch heute noch in den Schulen gelehrt.
Seitdem gilt Scaliger als Vater der neuen Chronologie. Er galt schon zu seinen Lebzeiten als ein »Höherer«, dessen Arbeitsergebnisse kaum noch angezweifelt wurden. Seine Gespräche wurden in zwei Bänden gedruckt, 25 seiner Briefe ebenfalls, weitere Briefe und Notizen liegen in der Leidener Bibliothek. Er hat 37 Bücher und Aufsätze veröffentlicht, darunter zahlreiche lateinische Erstausgaben von Klassikern und die Lebensbeschreibungen des Homer, Empedokles, Hermes Trismegistos, Apuleius und anderer Sagengestalten, die wir heute als Romane einstufen müssen. Scaliger eignete sich auch Griechisch an, sprach und schrieb leidlich gut Hebräisch und beherrschte Arabisch, verfaßte sogar selbst ein arabisches Buch über Sprichwörter, das Kitab al-Amthal, Buch der Gleichnisse.
Ganz erstaunlich aber sind seine Übersetzungen lateinischer Texte ins Griechische, auch umgekehrt, also griechischer Texte ins Latein, wobei er absichtlich altmodische Wörter schuf. Dies mag heute befremdend anmuten, wäre aber als literarische Marotte durchaus bewundernswert. Dumm ist nur, wenn wir heute diese sogenannten Erstausgaben klassischer Werke für bare Münze nehmen.
Eins seiner Hauptanliegen war die Verbindung zwischen biblischer und griechischer Geschichte, denn diese zwei recht getrennt geschriebenen Romanserien waren schwer miteinander vereinbar. Zunächst einmal mußte ein Datengerüst für die griechische Geschichte erstellt werden, das man dem der biblischen Erzväter gegenüberstellen konnte. Zu diesem Zweck fand Scaligers Freund Casaubonus, der schon andere antike Manuskripte »entdeckt« hatte, 1605 in Paris eine Olympioniken-Liste, auf der alle Sieger von Olympia von Anbeginn bis zur 249. Olympiade verzeichnet waren. Zu diesen Olympioniken ordnete Scaliger nun die Königslisten der Peloponnes, Attikas und Makedoniens, daran anschließend die bei Euseb enthaltene Königsliste des Manetho sowie weitere Herrscherlisten des Orients. Da die Olympionikenliste über einen Zeitraum von praktisch genau 1000 Jahren reichte und man den Beginn der Olympiaden ins 8. Jh. v. Ztr. ansetzte, müßte eine so lange Liste eigentlich ausreichend sein, zumal man das Ende an eine entsprechende Consuln-Liste der Römer anschließen konnte. Man hatte sogar Sorge getragen, daß die Olympionikenliste schon anderweitig benützt worden war, etwa bei Julius Africanus, womit sie ihre Echtheitstaufe erhielt. Aber auch der Africanus und vor allem der Euseb, den Scaliger so prachtvoll »emendiert«, d.h. nach eigenen Vorstellungen ausbesserte und ergänzte, sind ja im selben Fälscherkreis geschaffen worden. Inwieweit man sich dabei orientalischer Vorlagen, etwa armenischer oder syrischer Texte, bediente oder diese erst später durch die Kirche dort eingeschleust wurden, wäre eine Untersuchung für Kriminalisten. Die Inhalte sind jedenfalls so naiv erfunden, daß heute eigentlich kein Zweifel mehr über diese phantasievolle Literatur besteht. Dennoch: Das Gesamtgerüst der Chronologie der Weltgeschichte beruht auf diesen Erfindungen und ist insgesamt nicht mehr umstürzbar, zumindest so lange nicht, bis ein neues verläßliches Gerüst an dessen Stelle errichtet werden kann. Und das ist derzeit unmöglich.
Eine wichtige Quelle Scaligers und seiner Nachfolger war der byzantinische Patriarch Photius, dessen Buch, die sogenannte Bibliothek, bis ins 10. Jh. zurückverfolgt wird. Im Jahre 855 wurde Photius auf eine Gesandtschaftsreise zum Kalifen von Bagdad geschickt und lernte dort klassische griechische Texte kennen, die es in Konstantinopel nicht gab. Er machte Auszüge von diesen Texten, darunter auch der Geschichtsbücher des Herodot, und schenkte sie bei seiner Rückkehr seinem Bruder. Unklar bleibt, ob er Originale vorgefunden hatte oder nur »Rückübersetzungen« aus dem Arabischen verfaßte. Möglich ist auch, daß er frei geschrieben hat unter Verwendung orientalischer Traditionen. Dies ist vor allem in seiner Geschichte der Manichäer spürbar.
Eine andere Quelle der Humanisten, die reichlich ausgeschlachtet wurde, war ein Autorenlexikon mit dem Namen Suda, das vielleicht schon von Konstantin dem Purpurgeborenen im 10. Jh. erstellt worden war. Aus den knappen Hinweisen zu einzelnen Gestalten der Antike und ihren Schriften wurden im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts zahlreiche klassische Werke geboren, die heute meist als echt gelten.
Der Jesuit Denis Pétau (Petavius) führte in zwei Schriften (1627 und 1630) von Paris aus diese Chronologie-Schöpfung fort und zementierte damit Scaligers Entwurf. So erhielt die neue Chronologie in der gesamten Christenheit Gültigkeit und wird – mit einigen Änderungen – bis heute geglaubt. Ich möchte diese Arbeiten als »Science-fiction à l'enverse« bezeichnen, als rückwärts projiziertes Konstrukt ohne Möglichkeit zur Nachprüfbarkeit. Der bekannte Newton-Forscher Frank E. Manuel hat in einem Buch (USA, 1963) die ganze Breite des damaligen Streites vorgeführt. Aus der öffentlichen Diskussion im 18. Jh. geht schon hervor, daß die von Scaliger und Pétau aufgestellten Daten reine Kunstprodukte waren. Daß sie heute geglaubt werden, mutet wie eine Groteske an.

Die Kritik an diesen Geschichtszahlen, die neuerdings mit Schärfe durch die Zeitrekonstrukteure – allen voran Marx, Heinsohn, Illig und Gabowitsch – vorgebracht wird, ist nicht neu. Als Pétau seine chronologische Arbeit veröffentlichte, waren keineswegs alle Zeitgenossen einverstanden mit diesem Zeitmonstrum. Einer der klardenkendsten Männer des Aufklärungszeitalters, Isaac Newton (1643-1727), wehrte sich heftig gegen diese Zeitrechnung und behauptete, daß die damals erarbeiteten Geschichtsdaten um mehrere Jahrhunderte zu hoch lägen. Vor allem die wichtigsten Daten der klassischen griechischen Geschichte müßten um mindestens 300 Jahre näher an uns herangerückt werden.
Ganz anders als seine weltbewegenden und grundsätzlichen Denkanstöße zur Mechanik und Astronomie brachte ihm seine Arbeit über die Chronologie viele Feinde in ganz Europa ein, die dieses Werk übrigens nur deswegen beachteten, weil es von dem berühmten Newton stammte. Seine Thesen stießen vor allem bei Theologen auf krasse Ablehnung, weil er versuchte, unter Benützung alter Handschriften und sehr früher Druckausgaben des Alten Testaments eine dem ursprünglicheren Text besser angepaßte Chronologie der Erzväter usw. zu errechnen.
Moderne Bücher über Newton übergehen dessen chronologische Arbeiten meist völlig oder verachten sogar seine Gedankengänge. Selbst das sonst objektiv urteilende Meyers Lexikon (Bd. 12, Leipzig 1888) drückt sich recht seltsam aus, wo es über die Beschäftigung Newtons mit den Prophezeiungen von Daniel und Johannes spricht: Da »verirrte sich sein klarer Geist in mystische Träumereien; überhaupt waren religiöse Betrachtungen in den späten Lebensjahren eine von Newtons Hauptbeschäftigungen.«
Schon daraus wird deutlich, daß Newton seine Arbeiten zur Chronologie nicht nebenbei betrieben hatte, sondern sie als eins seiner wichtigsten Anliegen betrachtete. Mit Vehemenz kämpfte er in Briefen und Reden gegen die Einsprüche seiner Gegner. Und diese hatten es nicht leicht, Newtons Argumente zu widerlegen, denn er hatte »nahezu vier Jahrzehnte an diesem Thema gearbeitet, das ihn zu umfangreichen und aufwendigen Spezialstudien auf nahezu allen damaligen Wissensgebieten nötigte und ihn, mit dem Fortschreiten der Wissenschaften, ständig zur Korrektur des bereits schriftlich Fixierten zwang.« (Wußing S. 99). Auf theologischem Gebiet war er nach Ansicht des Philosophen John Locke dermaßen umfangreich gebildet, daß Locke sich von ihm beraten ließ und schließlich feststellte, daß kaum einer sich mit Newton darin messen könne (S. 97).

Seit 1680 beschäftigte sich Newton mit dem Problem der Präzession des Frühlingsbeginns, da ihm dies als geeignetes Mittel erschien, historische Festpunkte zu gewinnen. Aus zwei knappen Angaben in den Stromata des Klemens von Alexandrien entnahm er (Chronologie, S.83), daß die Argonautenfahrt durch die Beobachtung des Kentauren Cheiron, der Frühlingspunkt befinde sich »genau in der Mitte von Widder« (also 15° Aries), zeitlich feststand. Jahrhunderte später hatte Meton denselben Nullpunkt bei 8° Aries, und noch später Hipparch bei 4° Aries beobachtet. Aus diesen Angaben ließ sich nun leicht berechnen, wie lange die jeweiligen Zeitpunkte zurücklagen, wenn die Präzession mit der gleichen Geschwindigkeit, wie sie die Renaissance-Astronomen aus ihren eigenen Beobachtungen hochgerechnet hatten, für die Vergangenheit gültig wäre (1° entspräche 72 Jahren). Newton folgerte ganz einfach: Wenn für Ptolemäus der Frühlingspunkt genau 0° Aries war, nämlich genau 2° nach Christi Geburt, (zweimal 72 gleich 144 n.Chr.), dann bleiben für den Zeitraum von Christus bis Cheiron genau 13°, das sind 936 Jahre, was nach Abzug des Nulljahres 937 v.Chr. ergibt.
An der genauen Definition der Argonautenfahrt wurden alle anderen griechischen Daten festgemacht, also Solons Todesjahr, die Alleinherrschaft des Peisistratos usw. (Chronoloie S. 120 f.). Allerdings mußte Hipparchs Irrtum hinsichtlich der Präzession berichtigt werden, er hatte noch 1° für 100 Jahre angesetzt. Dadurch verkürzte sich die griechische Geschichte im Verhältnis 7 zu 4. Auf anderem Wege hatte Newton schon dasselbe Verkürzungsmaß ermittelt. Statt der üblicherweise angenommenen Regierungszeiten von 30-40 Jahren pro Herrscher nahm er sinnvollerweise nur eine Spanne von 18 bis 20 Jahren an. Nun endlich fiel der Trojanische Krieg in die Zeit nach Salomon und Rehobeam (S. 63, 95, 118), wodurch die jüdische Kultur einen deutlichen Vorsprung gegenüber der hellenischen bekam, ein Hauptanliegen des großen Mathematikers.

Worum ging es im Streit Newtons mit seinen Zeitgenossen?
Es ging – kurz gesagt – um das Alter der Welt. Vor wieviel Jahren hat Gott die Welt und den Menschen erschaffen? Denn daraus würde sich ergeben, wann das Ende der Welt zu erwarten sei. Kein müßiger Streit also. Aber wie konnte man Gewißheit erlangen?
Der Streit der Chronologen entbrannte vor allem um den Wert der benützten Quellen. Konnten die von Newton benützten astronomischen Beobachtungen der alten Griechen als objektive Maßstäbe angesetzt werden? Da saßen viele der damaligen Autoren einem Trug auf. Vermutlich hat man die Daten des griechischen Astronomen Cheiron, des Kentaurs, gefälscht, um sie neueren Erkenntnissen anzupassen, sagte Fréret (postum erst 1758 gedruckt), und hatte damit wohl einen wichtigen Punkt getroffen; nur: daß Cheiron selbst eine Mythenfigur und eigentlich erfunden war, hatte bis dahin kaum jemand zugeben wollen.
Newton hatte nicht nur antike Angaben über Sternaufgänge, Finsternisse und Frühlingspunkte ausgewertet, sondern sich auch schon in mathematischer Weise dem Problem der Zeitabfolge genähert. Seine Annahme von durchschnittlich 20 Jahren für die Regierungsdauer eines Herrschers rief sofort Widersacher auf den Plan, denn eine derartig schablonenhafte Aussage für den lebendigen Ablauf der Geschichte entbehrt jeglicher Grundlage. Ein statistischer Wert war geschichtsphilosophisch nicht vertretbar.
Diese Entdeckung des großen Mathematikers Newton, daß tatsächlich statistisch errechenbare Werte in der Geschichtsschreibung erkennbar sind, ist erst zwei Jahrhunderte später wieder aufgegriffen worden durch die Moskauer Gruppe um Fomenko, die Morosows Denkanstöße in rein mathematischer Weise durchführte (siehe Gabowitsch 1999).
So fielen auch Newtons Angaben zur Chronologie der christlich fundierten Autoren wie Scaliger und Pétau keineswegs einheitlich aus. Er blieb mit den Jahreszahlen teils weit davor, teils auch weit zurück, aber die Zeitgenossen mußten sich bei ihrer Kritik an Newton natürlich auf einen Wert einspielen. Newton versuchte – wie der kritische Jesuit Hardouin sich in einer Schrift ausdrückte, die 1726 in London erschien – den antiken Griechen 534 Jahre wegzunehmen, was bisher niemand gewagt hatte. Hardouin stellte simpel fest, daß Cheirons Beobachtung der Sterne eine Erfindung ist. Wenn die Angabe über die Koluren (der Mittelsterne des Sternbilds Fische) überhaupt verwertbar sei, dann zu einem viel später anzusetzenden Datum. Hardouin setzte sich nicht für ein größeres oder kleineres Alter der Welt ein, – das war der Hauptgegenstand des Streites – sondern focht für die Erkenntnis, daß die Literatur der Antike, die als Grundlage all dieser Berechnungen benützt wurde, zum größten Teil moderne Erfindung ist und für die Festlegung irgendwelcher Jahreszahlen völlig unbrauchbar.
Ein Einwand aus meiner persönlichen Sicht: Die Intervall-Zahl von 534 Jahren, die Newton streichen wollte, zeigt möglicherweise den ganzen Mechanismus, nach dem derartige Geschichtszahlen aufgestellt worden waren: Der Osterkalender rechnet mit 532 Jahren. Deshalb war es ein häufiger Gegenstand chronologischer Debatten, ob ein Zyklus von 532 Jahren mehr oder weniger zu berechnen sei. Es handelt sich um Pakete von Jahren, die nicht mehr teilbar waren. Sollte es Zufall sein, daß Newtons 534 Jahre so nahe an den üblichen 532 Jahren liegen? Ich möchte eher annehmen, daß sich eine derartige Zahl (vielleicht mit den damals recht häufigen Ungenauigkeiten durch schlechte Schreibweise) in den von Newton benützten Quellen versteckt hatte, besonders des Klemens von Alexandrien (»um 200«), dessen knappe Zitate aus griechischen Astronomiewerken er für bare Münze nahm. Wann er erfunden wurde, stand nicht zur Debatte. Sein Rückgriff auf Osterberechnungen, die erst viel später aufkamen, ist ein Verdachtmoment, das auch diesen wichtigen Pfeiler der kirchlichen Chronologie als Pappsäule entlarven kann (siehe Topper 1998).
Zu den Büchern, die Newton als Grundlagen benützte, gehörten nicht nur Werke, die heute noch als verläßlich gelten (wie unerklärlicherweise zwei der Geschichtsbücher des Flavius Josephus), sondern auch solche, die inzwischen als Fälschungen erkannt sind, etwa Sanchoniatons Phönizische Geschichte, die Newton in der Ausgabe von Richard Cumberland (London 1720) benützte (siehe Manuel 1963).
In der Hauptsache stützte er sich jedoch auf die Angaben im Alten Testament, die er äußerst geschickt auswertete. Demzufolge war die Welt genau 4004 Jahre vor Christi Geburt erschaffen worden, und die Sintflut hatte sich im Jahre 2348 v. Chr. ereignet. Aus diesem festen Zahlengerüst ergab sich, daß er die meisten Angaben der Griechen korrigieren mußte, wenn er – was ihm besonders wichtig war – die Bibel als unerschütterliche Wahrheit zu Ehren bringen wollte. Daher auch der Titel seines Hauptwerkes zur Chronologie, der auf deutsch lauten würde: »Das Zeitmaß der alten Königreiche verbessert, nebst einer kurz gefaßten Chronik von den Uranfängen der Geschichte in Europa bis zur Eroberung Persiens durch Alexander den Großen.« Erst gegen Ende seines Lebens wurden Teile daraus gedruckt, erst nach seinem Tod das ganze Werk (1728). In jedem der sechs Kapitel widmete er sich der Geschichte eines der fünf bekannten Kulturvölker der Antike: den frühen Griechen, den Ägyptern, Assyrern, Babyloniern und den Persern. Dabei wendete er eine Technik an, die ebenfalls heute von den Zeitrekonstrukteuren gerne herangezogen wird: Ähnlich klingende Namen und parallele geschichtliche Umstände lassen darauf schließen, daß hier von einem einzigen Herrscher die Rede ist, wie etwa bei Minos und Monos; die beiden regierten nicht hintereinander sondern sind ein und dieselbe Person. Dadurch gewann Newton die Möglichkeit, überflüssige Jahrhunderte auszuschneiden.

Leider läßt sich aus Newtons Schriften kein methodischer Ansatz gewinnen. Man hat den Eindruck, daß er von einer Intuition ausging – blitzartig gewonnen wie die Erkenntnis der Gravitation beim Anblick des fallenden Apfels – und erst nachträglich die Argumente und Nachweise zusammensuchte, die er für sein neues Denkmodell brauchte. Was in der Physik legitim sein kann, führt in der Geschichtsforschung eher zu neuen Phantasiegebilden.
Und eigentlich war es keine Intuition, die Newton zur Kürzung der heidnischen Geschichte veranlaßte, sondern ein Programm. Als guter Christ wollte er den Glaubensgrundsatz beweisen, daß Gott sein auserwähltes Volk an den Anfang der Menschheit gestellt hatte und daß Salomon der Begründer aller Kultur auf Erden war, alle Heiden wie Militiades oder Platon nur Nachahmer von Moses usw. (Chronologie S. 93). Das hatte schon Klemens behauptet und vor allem Flavius Josephus, dessen Bücher vermutlich in der Renaissance von einem getauften Juden geschrieben wurden, der spät Griechisch gelernt hatte.
In diesem Sinne bringt Newtons Verbesserung der Zeitrechnung zwar Kapitel über alle bekannten Hochkulturvölker, aber keins über die Juden, denn deren Geschichte lag als Maßstab allen anderen zugrunde und bedurfte keiner Verbesserung.
Newton kämpfte vor allem gegen den »Giganten der Zeitrechnung«, Pétau, dessen Tabellen sich durchgesetzt hatten. Tatsächlich verwenden wir bis heute noch wichtige Teile von Pétaus Zahlengerüst, obgleich wir recht gut wissen, daß dieses mit rein theologischen Überlegungen aufgerichtet worden war.

An einigen Stellen in den Streitschriften ging es um einen Unterschied von 500 Jahren: War die Welt vor 5500 oder vor 6000 Jahren erschaffen worden? Das scheint uns heute lächerlich, wogegen Newtons mechanische Gesetze (zumindest im Alltag) noch Gültigkeit haben. Wie lächerlich nun die Jahrmillionen oder gar Milliarden sind, die unsere Geologen heute als Alter der Erde ansetzen, ist allerdings auch noch niemandem so recht zu Bewußtsein gebracht worden.
Der Hauptantrieb für alle diese Forschungen über das Weltalter war demnach völlig irrational. Auch Newton errechnete nicht das tatsächliche Alter der Welt aus reiner Neugier. Er wollte das Ende der Welt berechnen, das ja direkt von der Altersbestimmung abhängt. Es ging um die Frage: Wann kommt das Jüngste Gericht?
Wenn für die gesamte Menschheitsgeschichte nur 7000 Jahre zur Verfügung stehen – nach anderen vielleicht auch nur 6000 Jahre – dann ist es vordringlichst wichtig festzustellen, wann der Herr der Welt diese Sanduhr umgedreht hat, aus der nun unaufhaltsam der Sand ausläuft. Es war also keine müßige Frage, der Newton nachging, und erst daraus erklärt sich, warum er mit solcher Heftigkeit den Kampf gegen seine Zeitgenossen aufnahm.
Dies geht vor allem auch aus Newtons Schrift über die Weissagungen im Buch Daniel und der Offenbarung des Johannes hervor, die erst postum (1736) gedruckt wurde, aber durch regen Briefwechsel schon seinen Zeitgenossen bekannt war und diskutiert wurde.
Der hellste Kopf der Aufklärung, Voltaire, fand zwar Genialität in Newtons Werk, glaubte jedoch selbst nicht, daß irgendeine Chronologie über die alte Geschichte aufgestellt werden könne. Wie seine Analyse des Nestorianersteins von Sian-Fu in China gezeigt hat, besaß er einen klaren Blick für Fälschungen, auch ohne das Objekt selbst in Augenschein genommen zu haben. Er sah darum auch im Chronologiestreit, daß das Problem jenseits von Äquinoktialberechnungen und Kolurenbestimmung lag. Eine Sichtung der Quellen wäre Grundbedingung vor jeder weiteren Arbeit gewesen.
Soviel war auch den Jesuiten klar gewesen. Möglicherweise ließ der ungemein geniale Theologe Nicolas Fréret den Raubdruck von Newtons Werk 1725 nur deshalb besorgen, weil die kirchlich wichtigen Texte eines Klemens von Alexandrien oder Euseb zu »Beweisstücken« aufgewertet wurden, indem Newton sie benützte.

Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion

Bei einer genauen Untersuchung der Mosaiken von Ravenna, die in die Zeit von Theoderich dem Grossen eingeordnet sind, und bei einer Betrachtung seines monumentalen Grabes, wird deutlich, dass hier ein enormer Zeitunterschied klafft, der in beiden Richtungen – zur Antike wie auch zum christlichen Mittelalter – nur mit grossen Verrenkungen vertuscht werden kann.
Zunächst einmal Theoderichs Person: Er war noch Heide, wie aus allen Anzeichen hervorgeht, die das Gegenteil behaupten wollen. Sein Grabmal ist ein gewaltiger Dolmen mit einer mehrere Hundert Tonnen schweren Deckplatte, die aus Istrien über die Adria auf einem Schiff nach Ravenna gebracht und dort auf den festgefügten Rundbau gehoben wurde. Eine Leistung, wie sie nur aus der Megalithzeit bekannt ist.
Nicht nur diese Leistung (die uns heute noch Schwierigkeiten bereiten würde), sondern die Absicht und der dahinterstehende religiöse Beweggrund sind megalithisch im besten Sinne. Sie entziehen sich unserer Denkweise, sind unchristlich in deutlichster Form.
Über den ihm zugesellten Sekretär Cassiodor Senator (sic!) wissen wir ebenfalls, daß dieser Gotenkaiser kein Christ war, wenngleich der Deckmantel »Arianismus« oft darüber hinwegtäuschen soll.
Von Cassiodor nehme ich durch sprachliche und inhaltliche Analayse der ihm zugeschriebenen Texte an, daß er frühestens im ausgehenden 9. Jh. gelebt haben kann (nach byzantinischer Zählung, für uns: Anfang des 10. Jh.)
Die Mosaiken der Theoderich-Zeit in Ravenna sprechen offen: Da gibt es im Taufgebäude – ein Rundbau, wie könnte es anders sein – ein wunderschönes Bild, das die Taufe Jesu im Jordan zeigen will, wobei drei Personen auftreten: Neben Jesus und dem Täufer ist der Gott Jordan abgebildet, der Flußgott persönlich, in antiker Pose. Dieser Synkretismus ist eher der Renaissance zuzuordnen, unmöglich jedoch einem frühen Christentum, und sei es noch so »arianisch«.
Zum Vergleich gibt es sehr ähnliche Mosaike auf Sizilien, vor allem in Palermo. Sie tragen eindeutig den Stempel der Renaissance, oft auch entsprechende Jahreszahlen, wobei meist vermerkt wird, daß es sich um eine Wiederherstellung handelt. Diese Mosaikbilder gehen jedoch anerkanntermaßen auf Werke des 12. und 13. Jh. zurück, und das kann man an einigen gut erhaltenen Stellen derselben Bilder durchaus noch ahnen. Sie sind feinstes christliches Hochmittelalter, was Stil und Technik anbelangt.
Wenn man den Kunststil unvoreingenommen betrachtet, stammen die Mosaike von Ravenna aus demselben Zeitraum, sind also angelegt im 12. Jh. (frühestens) und renoviert in der Renaissance.
Diese Renovierung bringt oft in Kleinigkeiten einen durch das katholische Dogma bedingten völlig neuen Glaubenspunkt hinein, der durchscheinen läßt, wie so ganz anders das ursprüngliche Bild ausgesehen haben mag.
Zu diesen Gedanken paßt die Beobachtung am Dom von Syrakus: eine Kirche, die direkt aus einem griechischen Tempel umgeformt wurde, unter Beibehaltung der Mauern und Säulen. In den Nischen stehen Madonnen statt Venus oder Aphrodite, aber die Ähnlichkeit ist dermaßen auffällig, daß man als heidnischer Besucher staunt! Hier springt die Antike bis ins Barock. Es gibt auch Kirchen auf Dolmen, z. B. in Asturien in Spanien. Oder der älteste Dom Kölns, Sankt Maria im Kapitol: er steht auf dem Jupitertempel der Stadt. Wie bei der Hagia Sophia in Konstantinopel handelt es sich in Köln um einen Rundbau (erst später mit Schiffen ergänzt), dessen Entstehung allgemein ins 11. Jh. gelegt wird. Die Rundbögen erinnern mich so stark an die Täufermoschee in Damaskus, daß ich für alle diese Gebäude eine einheitliche Entstehungszeit annehmen möchte. Die Grabeskirche in Jerusalem wie auch die Hagia Sophia in Konstantinopel, die Kathedrale von Syrakus und der Mariendom von Köln sind innerhalb einer Generation im 11. Jh. erbaut worden. Und um ein ländliches Beispiel anzuführen: die Michaelskirche in Fulda ebenso.
Alle diese Kirchengebäude sind allerdings zu ihrer Entstehungszeit noch keine christlichen Kirchen gewesen. Die Religion, der sie dienten, ist uns heute kaum erkennbar, da absichtlich ausgelöscht durch die Inquisition. Diese Rundbauten dienten einem anderen Kult, der uns so fremd anmuten mag wie der, den Ignaz Olagüe in der Moschee von Córdoba vermutete und nicht näher beschreiben konnte.
An den heidnischen Figuren, die so viele »romanische« Kirchen schmücken, ahnen wir jedoch, dass es sich hier um völlig unchristliche Mythologie handeln muss, denn sie ist uns heute fremd. Dieser Tierstil mit seinen erotischen Szenen – Menschen und Tiere blicken ganz öffentlich kopulierend vom Gesims herab – ist nicht nur mit dem Etikett »Synkretismus« abzuweisen, sondern hat seinen direkten Vorläufer im Tierstil der Nomaden der Steppe, mit den sich jagenden Tierleibern, die den Unendlichkeitswahn jener Religion verkörpern, die Wiedergeburtenkette und das Triebhafte des Lebens.
Diese Barbaren, herumziehende Völker der Weiten Osteuropas und Asiens, sind die Skythen, die Goten (in den Texten bis zur Renaissance sind Skythen und Goten noch gleichgesetzt), die in einigen Gegenden (Etrurien, Kastilien) bruchlos in den Katholizismus übergingen.
Der Vorgang erfolgte allerdings nicht im 6. Jh. durch die Bekehrung des Gotenkönigs Recaredo, wie man in der Schule lernt, sondern wahrscheinlich ein gutes halbes Jahrtausend später. Viele alte Kirchen Asturiens, auch die berühmte Santa Maria von Oviedo, waren zunächst Thron- und Gerichtssäle der Gotenfürsten gewesen, bevor man sie zu Kirchen erklärte, wie aus der Architektur deutlich hervorgeht. Vielleicht ist dieses Gebiet tatsächlich ein Entstehungsherd des Katholizismus, weil die Umwandlung dort vergleichsweise früh einsetzte.
Von den Pieven in der Toskana war schon die Rede: Kirchen mit heidnischem Schmuck, die erst im 15. Jh. katholiziert wurden, in der Lebenszeit von Papst Pius und auf seine Veranlassung (weil er dort herstammte).
Die »Katholischen Könige«, Ferdinand und Elisabeth von Spanien, schwuren 1476 noch am iberischen Schwurheiligtum von Guisando bei den steinernen Stieren ihren Treueeid auf die gotischen Grundrechte. Der vom Papst verliehene Zuname »katholisch« für diese Könige war ein Programm, eine Absichtserklärung!
Zwischen den wandernden Gotenscharen mit Tierstil-Fibeln und Frauengleichberechtigung und den katholischen Welteroberern liegen nur einige Generationen. Und was noch beachtlicher ist: Der Übergang ist bruchlos, gewaltlos.
Auch Johanna, die Wahnsinnige, war noch rechtmäßige Königin von Spanien, denn Töchter erbten gleich wie Söhne. Wo das Gotenrecht noch gültig war, kann man kaum von Untergang sprechen.
In diesem Sinne mutet die Renaissance wie ein riesenhafter Kampf um Durchsetzung des Christentums an. Die Reformatoren fügen sich nahtlos ein in diesen Kampf.

Luciano Canfora geht in seinem Büchlein Die verschwundene Bibliothek (1986) den verschiedenen Behauptungen von Bibliotheksbränden nach. Man gewinnt durch seine wissenschaftlich gut untermauerte Untersuchung den Eindruck, daß vermutlich diese 700 000 Bücher, die in Alexandrien verbrannt sein sollen, nie existiert haben. Alle Berichte über diese Bibliotheken und ihre Brände sind dermaßen undurchsichtig und romanhaft, daß ein weiteres Merkmal der Fälschungsaktion zutage tritt: Man kann jede Art und Menge von Literatur für eine vergangene Zeit (Antike, Mittelalter) postulieren, solange man auch erklären kann, warum sie nicht mehr existiert.
Die Neuschreibung des Alten Testaments durch Esdras wurde ja schon mit der Bücherverbrennung durch »die Chaldäer« begründet, wie sich auch Isidor (Etymologie VI,3) ausdrückt. In China gibt es die konstante Legende (die allgemein als historisch gilt), ein Kaiser habe im 3. Jh. v.Ztr. die totale Einsammlung sämtlicher Schriften und ihre Verbrennung sowie Neuschreibung befohlen. Die Verbrennung der »weltberühmten Bibliothek von Alexandrien« durch Cäsar im Jahre 47 v. Ztr. gilt ebenfalls als historisches Faktum, obgleich kein Dokument davon zeugt, nur ein zweifelhafter Text eines gewissen Lukan. Eine kleinere Bibliothek, das Serapion, mit 48000 Buchrollen, ging angeblich durch christliche Eiferer 390 AD in Flammen auf. Und daß der islamische Kalif Omar 642 die große Bibliothek von Alexandrien noch einmal vernichtete, indem er die Bücher zum Heizen der Bäder verwenden ließ, »was ein halbes Jahr oder länger gedauert hat«, ist ebenfalls historisch belegt, nämlich durch einen Briefwechsel.
Wir haben dann noch Bücherverbrennungen wie die der »heidnischen Schriften« durch den deutschen König Ludwig den Heiligen, oder wenig später jene Vernichtungsaktion durch Konstantin Porphyrogennetos. All das gehört wohl zur gleichen Technik der Gehirnwäsche, die mit der Christianisierung einherging.
Die Technikgeschichte kämpft mit einer ganz eigenartigen Fragestellung: Warum hat niemand die klugen Erfindungen der klassischen Griechen, etwa des Hero und des Archimedes, in der Folgezeit fortgesetzt? Warum wurde der so sinnvoll begonnene Entwicklungsgang technischer Neuerungen abgebrochen und erst nach mehr als einem Jahrtausend wieder aufgegriffen? (So etwa Sigvard Strandh 1984, S.130)
Als mögliche Antwort wird die so sehr verschiedene Sozialstruktur angeführt: Die feudalen Fürsten hätten jederzeit genügend Arbeitskräfte zur Hand gehabt und brauchten darum keine Maschinen wie Wasserpunpen oder Fahrzeuge. Dagegen steht: Die Antike hatte jederzeit genügend Sklaven. Und ein maschinell arbeitender Sturmbock zum Berennen von Stadtmauern oder ein dampfgetriebenes Schiff wären eine so enorme Verbesserung der Kriegstechnik gewesen, daß kein rational denkender Fürst darauf verzichtet hätte. Der wahre Grund kann also nur sein, daß man in der Zeit zwischen Archimedes und Leonardo da Vinci viel dümmer war, und daß das antike Wissen und Denken erst nach anderthalb Jahrtausenden wieder jene Höhe erreichte. Ist das möglich?
Oder könnte es auch sein, daß dieses Jahrtausend zwischen Antike und Renaissance durch romanhafte Geschichtsschreibung entstanden ist, daß der große Zeitabstand zwischen den Schriften eines Archimedes und denen Leonardos nur suggeriert ist? Diese Vermutung führt nicht zur Phantomzeit-These von Illig, sondern eher zur Fälschungsthese von Hardouin, Morosow und Kammeier. Die berühmten Griechen mit ihren klugen Maschinen sind vielleicht erst im 15. Jahrhundert erfunden worden, und zwar als Rechtfertigung durch die Techniker der Renaissance, die sich auf diese Weise eine ideologische Grundlage schufen, auf der sie ohne Furcht vor der Inquisition ihre technischen Neuerungen öffentlich vorstellen konnten. Die Maschinen der alten Griechen hat es vermutlich nie gegeben, nur Schriften und Pläne jener utopischen Autoren des Cinquecento. Wie groß die Gefahr war, zeigt sich am Beispiel des Arztes Michael Servet, der zweiundvierzigjährig 1536 in Genf durch die Calvinisten öffentlich verbrannt wurde.
Und wie steht es mit den großartigen Kunstschätzen der Antike?
Ich will nur zwei Beispiele bringen, das erste als Kollektivaussage, das zweite einen Einzelfall betreffend. Es mag schockierend klingen: Die vielen hundert angeblich klassisch-antiken Statuen in Marmor und Bronze in der Sammlung der Uffizien in Florenz sind ein einzigartiges Beispiel für die Genialität der Renaissance. Kein Standbild dort ist älter als fünf Jahrhunderte. Man sehe sich den lebensgroßen Eber in Bronze an!
Und das andere Beispiel: Die Göttin Persephone in Marmor auf ihrem Thron, Glanzstück des Pergamon-Museums in Berlin und auf etwa 2500 Jahre Alter angesetzt, stammt mit größter Wahrscheinlichkeit von dem italienischen Bildhauer Alceo Dossena etwa von 1911 (U. Topper 1998).
Die Reihe ließe sich noch eine Weile fortsetzen, ich breche hier ab, um an einer weiteren Beobachtung das Wesentliche herauszustellen: Die Frankenausstellung, die in Mannheim, Berlin und Paris (1997) gezeigt wurde als völkerverbindendes Lehrstück zur Glanzzeit der Mitteleuropäer vom 5. bis 9. Jahrhundert, beherbergt eine solche Menge gefälschter oder falsch eingeordneter Objekte, daß der Verdacht aufkommt, diese Franken hat es nicht gegeben, zumindest müssen es ganz andere Leute mit anderer Kultur gewesen sein. Sowohl ihr Christentum ist erfunden als auch ihre Verwendung der lateinischen Sprache. Daß die Kirche noch heute eine solche Macht ausübt und große Wissenschaftler ihr willig folgen, wirft ein seltsames Licht auf unsere Geschichtsschreibung. Wenn es nötig ist, Grabsteine zu fälschen, um frühes Christentum zu suggerieren, oder heidnische Reliefs wie den Lanzenreiter von Hornhausen, der eindeutig Wodan über der Midgardschlange darstellt, als christliche Chorschranke auszugeben, dann liegt der Schluß nahe, daß nichts an dieser Geschichte stimmen kann.

Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?

Die beiden paläochristlichen Inschrift-Tafeln mit ERA-Daten (ERA 504 und 552) im Archäologischen Museum von Cádiz (Spanien), die ich ab 1997 öffentlich als Fälschungen bezeichnete (Erfundene Geschichte, S. 31), sind inzwischen entfernt und ersetzt worden durch zwei Fresko-Zeichnungen, die eine römische Fischsalzerei und den Leuchtturm von Cádiz zeigen. Das ging aber schnell!
Dieser Vorgang erinnert mich an Hübner, der bei seiner kritischen Nachfrage ebenfalls einige Inschriften zerstört vorfand, die im Katalog noch vollständig gezeigt wurden. Ähnlich sah ich bei meinem Besuch im Museum von Oviedo eine datierte Inschrift auf einem Sarkophag, die erst kürzlich abgeschlagen worden sein muß, während sie auf Fotos noch lesbar ist.
Oder die Märtyrer-Namen in der Kirche von Medina Sidonia, die einfach abgemeißelt wurden.
Oder schließlich die nach meinem Vortrag (Okt. 1997) aus der Franken-Ausstellung entfernte Peutinger Tafel, die im Katalog noch zu sehen ist, usw.
Fragt sich, wann der weibliche phönizische Sarkophag im Museum Cádiz wieder entfernt wird, nachdem man ihn erst vor ein oder zwei Jahrzehnten mit so großem Aufwand herstellen ließ, um dem toten Phöniker eine edle Gattin an die Seite zu legen (und einen Vorwand für die völlige Neugestaltung des Museumsgebäudes zu haben).
Übrigens zeigt das Archäologische National Museum in Madrid ebenfalls derart auffällig gefälschte gotisch-christliche Inschriften. Sie werden sicher bald verschwinden. Ich habe darum (im Juni 1999) die wichtigsten abgezeichnet und fotografiert.

Es ist nicht anzunehmen, daß sich die neuen Erkenntnisse über die Entstehung unseres Geschichtsbildes wie ein Lauffeuer ausbreiten und schon bald zu einer Revision der Geschichtsschreibung führen werden. Eher möchte ich annehmen, daß der Widerstand gegen gewisse Folgerungen gerade erst gegenteilige Beweise erzwingen wird, die vorher nicht nötig waren. Es wird darum ratsam sein, den Zeitpunkt, zu dem Illig und Niemitz erstmals die neue Entdeckung mitteilten, also etwa 1991, als eine Grenze zu betrachten: Alles was danach geschrieben wurde – wie etwa die hauseigene katholische Kritik an der Echtheit des Heiligen Benedikt (siehe Illig VFG 2–1994, S. 20–39) – könnte schon eine Antwort darauf sein, ein Versuch der Schadenseindämmung, der die Lawine bremsen soll. Jedenfalls können wir uns auf hitzige Debatten gefaßt machen, und daß diese nicht nur mit den reinen Mitteln der Wissenschaftlichkeit ausgefochten werden, das ist voraussehbar.

Zu den häufigen Fragen, die sich immer wieder stellen, wenn man die neue These der Geschichtsbildung konsequent anwendet, gehört die Frage nach den Vorbildern. Wenn Barbarossa das Vorbild für die Gestaltung eines Kaisers Otto (III) abgegeben hatte, und aus den beiden sich als Amalgam Karl der Große entwickelt hatte, dann müßte Barbarossa, der Großvater Friedrichs II, eine greifbare Gestalt gewesen sein. Welche Züge wurden ihm genommen und auf die Vorgänger übertragen, wieviel hatten jene Vorgänger selbst schon aufzuweisen?
Schwieriger wird es bei den Gestalten der Antike. Nach welchen Vorbildern wurde Cäsar geformt? Welche Vorgänge liegen dem Gallischen Krieg zugrunde?
Und religionsgeschichtlich höchst spannend müßte es sein, der Entstehung des »geschichtlichen« Jesus nachzugehen. Auf diesem Gebiet wird man über Vermutungen wohl nicht hinauskommen.
Zwar hat der von den führenden deutschen Chronologiekritikern hoch verehrte Egon Friedell (1921/ 1947) mit missionarischem Eifer Argumente für die Geschichtlichkeit der Person Jesu gesammelt, ging dabei aber in einer Weise vor, die selbst für einen gestandenen Kabarettisten unzulässig ist: Man könne keine wirklich brauchbaren Zeugnisse von Zeitgenossen über Jesus und die frühen Christen erwarten, schon gar nicht unter »Orientalen, die gar nicht imstande sind, exakt historisch in unserem Sinne zu denken und die noch bis zum heutigen Tage alles Geschehen nur in Legendenform aufzunehmen vermögen ...« (S. 38)
In einem kritischen Zwischenruf an die Chronologierevisionisten (1999, S. 299ff) merkt Peter Winzeler zu diesem Thema an, daß für Jesus schon lange Vorbildgestalten gefunden wurden: »Die wiederholten Ermordungen eines Priesters Jesus (Jason) in der späten Perserzeit und in der Makkabäerzeit sind schon von Julius Wellhausen (1914, 178f, 236f) als Doubletten erkannt worden.« Winzeler geht mehrere Schritte weiter als Illig und Heinsohn, indem er erkennt, daß an einigen Stellen abendländischer Mittelaltergeschichtsschreibung »600 Jahre in Wegfall kämen. Die Renaissance läßt vermuten, daß Plato kaum früher lebte als die christlichen Apologeten des 3. Jhs (wie Origenes). Aristoteles lebte wenig früher als seine arabischen Kopisten.«
Folgt man der Entwicklung von Baustilen und vor allem geistesgeschichtlichen Abläufen, dann bleibt zwischen den Etruskern und dem Wiederaufleben der Toskana im 11. Jahrhundert kaum Zeit – man möchte sie fast aneinander schließen. Hans Mühlestein (1957) hat uns deutlich vorgemacht, wie aus den Paulinikern und Bogomilen direkt die demokratische Bewegung Norditaliens und die Katharerbewegung Westfrankreichs entsprang. Ein dazwischen eingeschobenes frühes katholisches Christentum ist höchst unglaubwürdig. Die Entstehung der byzantinischen Kirche erfolgte etwa zeitgleich, die Slawenmission ist sichtbarer Ausdruck davon.
Am ehesten läßt sich ein historisches Bild an der Entwicklung der Gesetzbücher zurückverfolgen, am Salischen Recht oder am Sachsenspiegel, denn diese Schriften hatten direkten Gebrauchswert, sie wurden täglich zu Rate gezogen. Hier wäre ein lohnender Ansatz, der eine schrittweise Rekonstruktion einleiten könnte. Die Aufstellung von Jahresfolgen wird damit jedoch immer noch nicht möglich sein.
Anzufügen wäre hier noch, daß Heinsohn und Illig mit ihrer These genaugenommen das als falsch erkannte Geschichtsbild fortsetzen, indem sie nur 300 Jahre streichen. Der Sprung bei der Festlegung der Anno Domini Jahreszählung gegenüber der ERA ist nämlich nicht relevant für den tatsächlichen Abstand. Illig stellt fest, daß die frühen Klöster des Mittelalters nach einem Sprung über die »Phantomzeit« weiterbestehen und dadurch erst eine sinnvolle Entwicklung vorweisen können. Daß ihre Gründung in den Jahrhunderten vor der »Phantomzeit« völlig erfunden ist, sieht er (noch) nicht. Indem er die Geschichtsschreibung der vor 614 liegenden Jahre ernstnimmt, begeht er einen unkritischen Weg, der seinen eigenen Forderungen zuwiderläuft.
Eine andere Fragestellung bewegt die Zeitrekonstrukteure seit dem Beginn ihrer Forschung: Wie kam es zu einer so nachhaltigen Auslöschung der geschichtlichen Erinnerung, daß ein Vordringen jenseits einer gewissen Zeitbarriere, die sich im Hochmittelalter befinden muß, praktisch unmöglich geworden ist? Hat das allein die Kirche mit ihren Hexenprozessen und Bücherverbrennungen bewirkt? Oder tragen Katastrophen – möglicherweise kosmischen Ursprungs – die eigentliche Schuld daran? Auf Egon Friedell aufbauend hatte Christoph Marx (1996a, b) diesen letzten Gedanken ernstlich weiterverfolgt und glaubt, daß gegen 1350, also zur Zeit der großen Pest, ein letzter »Großer Ruck« im Sonnensystem stattfand, der nicht nur enorme Zerstörungen zur Folge hatte, sondern auch eine Änderung der Stellung der Erde zur Sonne bewirkte, weshalb astronomische Rückberechnungen nicht mehr stimmen können.
Christoph Marx besprach im Mai 1996 in Hamburg im Kreis der Zeitrekonstrukteure Fomenkos mathematischen Ansatz und hob hervor, »daß die philologischen Quellen des ausgehenden ›Mittelalters‹ und der frühen Neuzeit – wie allgemein bekannt – praktisch von A bis Z als ›gefälscht‹ wahrgenommen werden müssen, wobei allerdings das dahinterstehende ›Unverfälschte‹ durchwegs versteckt bleibt und sich unserer Analyse bislang entzog.« Es wäre jedoch »in der Regel verfehlt, in diesen Quellen, auf die wir uns nichtsdestoweniger angewiesen sehen, von ihren Urhebern in individuell bewußter Absicht gefälschte Darstellungen zu sehen und ihnen damit eigennützige Motive – anstelle kollektiver Neurosezwänge – zu unterstellen.« (1996b, S. 5). Damit hat er schärfstens zum Ausdruck gebracht, daß es unmöglich sein wird, die tatsächliche Geschichte vor 1350 zu erforschen.
Neben Christoph Marx, der um 1980 die Chronologie-Kritik in Deutschland ins Leben rief, haben vor allem Heinsohn, Illig, Niemitz und Blöss durch Rückkehr zu naturwissenschaftlichen Kriterien erfolgreich neue Wege in der Rekonstruktion des Geschichtsbildes beschritten. Ihre »evidenzbezogene« Methode hat zu beachtlichen Ergebnissen geführt. Mit der Hinwendung zu archäologischen Fakten sowie kritischer Untersuchung der bislang als echt angenommenen Dokumente gelang es ihnen, die Chronologien fast sämtlicher Bereiche von der Menschwerdung bis zum Jahr 1000 n.Chr. einer Revision zu unterziehen. Die Geschichte ist weitaus kürzer, als Bibel oder moderne Archäologen uns einreden wollten.
Der Unterschied zwischen der Gruppe um Heinsohn und Illig und meiner eigenen Auffassung von Chronologiekritik ist allerdings spürbar. Wenn es richtig ist, daß wir heute für den gesamten Geschichtsablauf vor 1200 nur bruchstückhafte Erinnerungen, mündliche Überlieferungen und nicht zu einander in Beziehung setzbare Einzeltraditionen der verschiedenen Kulturvölker haben, dann kann eine Rekonstruktion schon damals nur wenige Jahrhunderte rückwärts verläßlich gewesen sein. Man hätte sich also allenfalls noch an Sachsenkönige mit den Namen Heinrich und Otto erinnert, aber nicht mehr an die genauen zeitlichen Abstände. Diese wurden im 13. und 14. Jh. (meist kirchlicherseits) auf einem Zeitstrahl festgelegt, der gerade erst im Aufbau begriffen war. Daher rühren auch die großen Abweichungen in den »Dokumenten«.
Es ist durchaus wahrscheinlich, daß man vorher genauere Vorstellungen hatte, eventuell auch jahrgenaue Aufzeichnungen; da aber diese durch die Kirche später zerstört und durch eine neue Zeitskala ersetzt wurden, haben wir keinen Zugang mehr dazu. Nur aus den bildlichen Darstellungen – etwa den Mosaiken und Kapitellen der sogenannten romanischen Kirchen – erkennen wir, daß die Menschen, die jene Tempel bauten, eine völlig andere Religion gehabt haben müssen, als uns heute erzählt wird.
Die Herstellung einer Geschichte vor 1200 ging schubweise vor sich. Zunächst wurden Königslisten aufgestellt, Kriege und Schlachten in ein Schema gebracht, vor allem die sicher sehr lebendigen Epen zu Chroniken ausgebaut. Man erinnerte sich gewiß noch, daß man als Ostgote Rom plünderte oder als Westgote die Pyrenäen überschritten hatte, daß man als Wandale Nordafrika eingenommen und von dort den zentralen Mittelmeerraum beherrschte, usw.
In diesem Sinne sind auch die Gotenkriege des Prokop nicht völlig ausgedacht, obgleich romanhaft. Nur ihre zeitliche Festlegung ist willkürlich, denn diese »Chroniken« wurden – wie alle Texte, die uns aus Byzanz erreicht haben – keineswegs vor dem 10. Jh. verfaßt.
Die Festlegung des Anfangs des Deutschen Reiches auf 911 AD und der beiden Schlachten gegen die »Ungarn« auf 933 und 955 folgt einem Muster symbolischer Zahlen – hier vor allem der heiligen 11 – wie auch die Festlegung Otto III auf 999-1001 rein symbolischen Charakter trägt: Alle »besseren« christlichen Staaten wurden (rückwärts betrachtet) ausgerechnet in diesem Zeitraum christianisiert, von Island bis Ungarn. Man hat im 14./15. Jh. das Jahr 1000 AD zu einem Markstein der abendländischen Geschichte erhoben.
Auf demselben Zeitstrahl hat man die Eroberung Jerusalems durch die Perser – ein historiographischer Topos, der in der Bibel rückprojiziert für Sanherib usw. einging – auf 614 festgelegt. Illigs Gedanke, daß die beiden Ereignisse (Gründung des Deutschen Reiches und »Verlust« von Jerusalem) eigentlich zeitgleich gewesen sein müßten, ist willkürlich, da eine Koordination mit entsprechenden Daten auf einem anderen Zeitstrahl, etwa der Hedschra des Islam, nicht gemacht werden kann.
Illigs Gleichsetzung von 614 und 911 und die Ausschaltung der dazwischenliegenden Jahre als »fiktiv« ist demnach ein irreales Spiel mit Jahreszahlen und »Fakten«, die ohnehin erfunden sind und nirgendwo Rückhalt haben können. (Berühmt für derartig absurde aber dennoch höchst amüsante Spielereien sind die »Forscher« der Sherlock-Holmes-Gesellschaft in London, die sich um die Geburtsdaten ihres Helden streiten, der nie geboren wurde, wie alle Beteiligten sehr wohl wissen).
Das wissenschaftlich argumentierende Geplänkel innerhalb einer erdachten Geschichte hat den Vorteil, daß dabei die akademischen Spielregeln gewahrt werden. Aber die Jahreszahlen 800 für Kaiser Karls Krönung oder 814 für seinen Tod haben entgegen Illigs These nicht weniger Wirklichkeitsgehalt – und nicht mehr – als, sagen wir, 325 für das »erste weltweite Konzil der Christenheit«, oder 604 für das Todesjahr von Papst Gregor den Großen, der England angeblich bekehren ließ. Innerhalb eines fiktiven Zeitablaufs sind alle diese Daten relevant; in Beziehung gesetzt zu einem anderen – kaum weniger fiktiven Zeitschema, etwa dem der Moslems – sind diese Daten jedoch absurd. Insofern ist Illigs These falsch, nicht nur im akademischen Sinne, sondern auch im Sinne der Zeitrekonstrukteure, die seine sich stetig mehr einengende These ablehnen.
Wie Illig zu diesem Fehlschluß gekommen war, ist am Anfang schon kurz erwähnt worden, hier noch einmal seine Fehlüberlegung:
Illig behauptet, zwischen August 614 und September 911 liege eine Leere; diese Zeit habe nicht stattgefunden. Er schneidet einen Zeitraum auf der Skala heraus, fügt die Enden zusammen und sagt: Nun stimmt endlich die Rechnung. Falls dennoch Bauten aus jener "Phantom"-Zeit vorhanden sind, wurden sie entweder vor oder nach der Lücke errichtet.
Diese Vorgehensweise entstand im Anschluß an den von Niemitz aufgedeckten Fehler der Dendrochronologen, die für den schriftlich fixiertern Zeitraum des 7., 8. und 9. Jh. keine Baumringe finden konnten (für die sogenannte Völkerwanderung übrigens auch nur ganz wenige) und darum die Leerstelle mit den Ringfolgen anderer Bäume auffüllten. Aus diesem Grunde hatte Niemitz den durch Baumringe nicht abgedeckten Zeitraum als Phantomzeit bezeichnet. Illig hat diesen Gedanken auf die Geschichtsschreibung übertragen und damit seine absurde These aufgestellt.
Es gab schon viele Ansätze, die großzügiger waren, wie ich an Hardouin, Kammeier und anderen zeigte. Ich möchte nun noch erwähnen, daß in Rußland seit längerer Zeit ähnliche Bestrebungen Anklang finden. Ich meine die Schriften der Gruppe um Fomenko in Moskau, die auf auf den großen Denker Morosow aufbaut.
Leider sind mir die Bücher von Nikolaus Morosow, der als als einer wichtigsten Chronologiekritiker des 20. Jh.s angesehen werden muß, nicht zugänglich gewesen; nur kürzlich konnte ich sein Buch Die Offenbarung Johannis (deutsch 1912) lesen, das durch Arthur Drews' Einführung auch in Deutschland beachtet wurde. Der Naturwissenschaftler Morosow bringt darin vielfach zum Ausdruck, daß die Schriften der frühen Kirchenväter nach den neueren Erkenntnissen zu allermeist gefälscht oder zeitlich falsch eingeordnet sind. Morosow hat berühmte Vorgänger, die in unserer Argumentation wichtig wären, aber noch nicht eingearbeitet werden konnten: vor allem die Franzosen Dupuis (1794), Berthelot (19. Jh.) und Hochart (1894 und 1911). Aus allen geht hervor, daß die Schriften zahlreicher »Kirchenväter« der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt erst ein Jahrtausend später geschrieben wurden. Morosow hat dies auf eigene Weise herausgefunden, indem er die astronomischen Angaben der Offenbarung des Johannes zurückberechnete und als Entstehungszeitpunkt das Jahr 395 festlegte. Da der zentrale Teil der Offenbarung kirchlicherseits meist auf das Jahr 98 gelegt wird (so auch Topper 1993), ergibt sich wiederum der Abstand von 297 Jahren. Die Abfassung des Buches müßte also vor dieser Verschiebung (also vor 1260) erfolgt sein, was mit meinen hier dargestellten Überlegungen übereinstimmt.
Es ist außerdem durch Morosow klargestellt worden, daß die Niederschrift der Offenbarung des Johannes nur in einer Zeit stattgefunden haben kann, in der das astronomische Wissen in höchster Blüte stand. Morosow meint, daß dies gegen Ende der klassischen Antike der Fall war (also in der Nachfolge eines Ptolemäus, dessen Datierung ich allerdings oben mit guten Gründen um ein Jahrtausend verjüngte). Ein zweiter Zeitpunkt wäre nach unseren jetzigen Erkenntnissen nämlich erst wieder ab dem 12. Jh. möglich, als man tatsächlich die Sterne beobachtete (vielleicht aus ganz brennendem Anlaß, nämlich aus der Angst vor einer drohenden Katastrophe).

Neue Aufgaben

Ein wirkungsvoller Neuansatz für die Geschichtsschreibung kann also nur in der Abgleichung einer möglichst großen Zahl von Zeitskalen verschiedener Völker erfolgen. Ausgehend von der Voraussetzung, daß praktisch alle frühen Zeitsysteme fiktiv sind und bis zur Renaissance fast nirgendwo eine realistische Geschichtsschreibung stattfand, muß ein grundlegend neues Verfahren eingesetzt werden, nämlich die Verwertung archäologischer Funde, ihre relative Zeitabfolge, ferner Numismatik und Epigraphik unter den neuen Gesichtspunkten, und schließlich die Entdeckung von geschichtlichen Parallelen zwischen zwei Nachbarkulturen. Dafür brauchen wir nicht liebgewonnene Helden wie Karl den Großen vom Thron zu stürzen, denn derartige medienwirksame Bilderstürmer sind nur allzu befangen in ihrem Eifer. Es ist auch kein Kampf gegen die »akademische Lehre« nötig, denn diese beugt sich stets willig neuen Erkenntnissen, sofern sie nachvollziehbar gut fundiert sind.
Die Aufgabe besteht darin, ein fachübergreifendes Forschungsprogramm unter dem Titel Chronologie aufzubauen, das Medievisten und Orientalisten, Theologen und Kunsthistoriker usw. vereinigt, die zunächst einmal klären, wie unser heutiges Zeitrechnungsmodell zustandekam, und dann vorurteilsfrei schrittweise rückwärts eine vertrauenswürdige Geschichtsschreibung erstellen, die alle Einzelfakten mit einbezieht.




INHALT DES GANZEN BUCHS

Vorwort


Programm


Kapitel 1: Die zerbrochene Jahreszählung


Abschnitt 1: Seit Erschaffung der Welt
Abschnitt 2: Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Abschnitt 3: Die spanische ERA
Abschnitt 4: Das magische Jahr Tausendeins
Abschnitt 5: So wird eine Epoche geschaffen
Abschnitt 6: Die Entlarvung der spanischen ERA
Abschnitt 7: Der geniale Regiomontanus

Kapitel 2: Ist eine absolute Chronologie möglich?

Abschnitt 1: Warven, Ablagerungsschichten in schwedischen Seen
Abschnitt 2: Die Radiokarbonmethode verändert unser Geschichtsbild
Abschnitt 3: Ist die Karbonbestimmung wissenschaftlich?
Abschnitt 4: Sind Eisschichten datierbar?

Kapitel 3: Die Präzession als Zeitmaßstab

Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?

Kapitel 4: Der Hebel von außen

Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie

Kapitel 5: Ausbreitung des Islam

Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer

Kapitel 6: Wann entstand unsere Bibel?

Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte

Kapitel 7: Die Werkstatt der Humanisten

Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera

Kapitel 8: Bereinigung

Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«

Kapitel 9: Chronologenprobleme

Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?

Neue Aufgaben

Literatur


Stichwortverzeichnis


Uwe Topper als Katastrophist