Kapitel 6: Wann entstand unsere Bibel?

Inhalt des Kapitels
Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte

Die Thora
Rie Rollen von Qumran
Septuaginta
Die Makkabäerbücher
Die Evangelien
Evangelienharmonien
Die Heilige Schrift im Orient
Bibellatein
Kanonbildung
Handschriften
Wulfilas-Bibel

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Was will diese Fragestellung bezwecken? Für Theologen ist es doch längst entschieden, daß der Pentateuch (die fünf Bücher Mose) »erst« nach dem babylonischen Exil geschrieben wurde, also rund ein Jahrtausend später als dies naiverweise dem Propheten Mose zugeordnet worden war. Und auch, daß bis zur Ausbildung des gesamten Alten Testamentes noch einmal einige Jahrhunderte vergangen waren, denn diese Buchsammlung war »erst« Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. in Alexandria festgelegt und wurde dort von 72 jüdischen Gelehrten ins Griechische übertragen, daher der Name Septuaginta. Sie ist »heute« nur noch bei den Christen überliefert.
Beim Neuen Testament ist es noch einfacher. Es wurde nach theologischer Ansicht bald nach dem Tod Jesu begonnen, etwa um 65, und schon Anfang des 2. Jahrhunderts abgeschlossen, so gegen 120 unserer Zeitrechung. Zwar war dann noch nicht völlig entschieden, welche Bücher zum neuen Kanon gehören, aber innerhalb eines Jahrhunderts war auch das geklärt, ausgenommen der Offenbarung des Johannes, die etwas unbequem war und erst später eingereiht wurde, besonders in Byzanz.
Und nun stellt ein Nichttheologe nachdrücklich fest, daß diese Datierungen völlig wirklichkeitsfremd erfunden sind. Er möchte noch einmal ein Jahrtausend einschalten, bevor er die Festlegung unserer heutigen Bibel sieht. Dabei meint er natürlich nicht die Veränderungen einzelner Verse oder Textstellen, die auch in unserem Jahrhundert noch vorkommen, sondern ganz einfach die Entstehung unserer Bibel.
Diese kann vor Beginn des 12. Jahrhunderts nicht abgeschlossen gewesen sein.

Dafür braucht er außer minutiöser Beweise vor allem ein Motiv.
Aus welchem Grund soll die Herstellung einer Heiligen Schrift im 11. Jahrhundert vorgenommen worden sein? Die Antwort ist einfach: Damals war der Koran gerade fertig geworden, und die Thora hatte ihre feste hebräische Form erhalten. Nur die Christen hatten nichts Ebenbürtiges aufzuweisen. So mußten sie die Bibel schaffen. Konkurrenzkampf ist das Motiv.
Der Islam versteht sich als die Buchreligion par excellence und fordert im Koran von den anderen Religionen, daß sie »ihr« Buch vorweisen, denn nur die »Familie des Buches«, das sind nach allgemeiner islamischer Ansicht Moslems, Juden, Christen und Sabäer, haben Recht auf Anerkennung als Gläubige, alle anderen sind Feinde. Es liegt also mehr als geistiger Konkurrenzkampf vor: Es geht um juristische Grundlagen, um Anerkennung als Staatsbürger, um diplomatischen Status als Gleichberechtigter.
Das mag damals lebensnotwendig gewesen sein, aber spielt das für uns heute noch eine Rolle? Kann uns Entstehungsursache und Abfassungszeit der Bibel noch berühren? Selbst wenn der Unterschied in der Entstehungsgeschichte ein ganzes Jahrtausend betragen sollte, könnte mich das gleichgültig lassen, da ich ja nicht an diese Geschichten glaube. Nicht einmal als historisches Dokument würde ich sie anerkennen, geschweige denn als Wort Gottes.
Mit der neuen Fragestellung entsteht ein völlig neues Problem, das bisher selten in dieser Schärfe gesehen wurde: Wie gut hat uns die Kirche hinters Licht geführt? Warum haben wir den Schwindel nicht bemerkt?

Nun, einige haben ihn bemerkt. Die bekanntesten wie den französischen Jesuiten Jean Hardouin, den Schweizer Philologen Robert Baldauf und den unermüdlichen Streiter Wilhelm Kammeier werde ich noch vorstellen.
Aber es steht fest, so richtig bekannt ist dieser Umstand nicht. Ich will ihn noch einmal in aller Klarheit sagen: Das Heliandslied, diese Evangelienharmonie in deutscher Sprache, die vermutlich kurz vor dem Jahr 1000 geschrieben wurde, ist einer der ältesten Texte des Neuen Testamentes überhaupt. Evangelienharmonien sind die erste Stufe der heutigen Evangelien.
Wilhelm Kammeier sagte deutlich, daß die Sonnenfinsternis oder das Erdbeben beim Tode Jesu (»und der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von oben an bis unten aus« Markus 15, 38) symbolische Theaterkulisse sind, aber keine Erinnerung an Geschehnisse. Die Schöpfung der Bibel hat Zweckcharakter, sie ist nicht Erinnerungsstütze oder Lebenshilfe. Von Geschichte kann bei den Wundergeschichten nicht die Rede sein.
»Die Haupthandlungstriebfeder war gegeben in der Grundabsicht der Urheber, eine geschichtlich getarnte Bestallungsurkunde für die Priesterschaft zu entwerfen. Alle weiteren Absichten sind diesem Hauptzweck untergeordnet worden. Die geschichtliche Einkleidung wurde gewählt, weil es sich von selbst verstand, daß das ›göttliche‹ Gesetzbuch der Kirche vom ›Stifter‹ der neuen Religion erlassen war, d. h. daß die einzelnen Bestimmungen von Jesus selbst herrühren mußten. Die neue von den Urhebern ersonnene Philosophiereligion (Philosophie in Verkleidung mit religiösen Begriffen!) wurde daher als Geschichte des Jesus von Nazareth dargeboten. Man war sich bewußt, daß die Geschichte die geeignetste, weil als ›Faktum‹ nicht zu bestreitende und dabei als Erzählung höchst anschaulich wirkende Form der Gesetzgebung darstellt, zumal wenn sich diese Geschichte als eine solche gibt, in der Gott oder vielmehr Gottes Sohn unmittelbar die Hauptperson ist. Gleichzeitig soll die heilige Geschichte natürlich auch rein geschichtlich verstanden werden, als echte Überlieferung den Beweis bringen, daß Jesus wirklich eine ›geschichtliche‹ Person war. Das Evangelium soll eben Lehre in der Form von Geschichte verkünden. Im einzelnen wurde so verfahren, daß man für jede als notwendig erachtete Bestimmung des Priestergesetzbuches eine hierzu passende Kleingeschichte ersann. Nach den in den Evangelien vorliegenden topographisch-chronologischen Gesichtspunkten wurden dann die Kleingeschichten auf vierfache Weise am Handlungsfaden der Jesusdichtung aneinandergereiht.« (Kammeier 1981, S. 372)

Abschnitt 1: Das Alte Testament

Vorausschicken muß ich, daß es nicht darum geht, den Bibelstoff lächerlich zu machen, – das haben andere früher getan, – sondern aufzudecken, wann diese Schauermärchen geschrieben sein könnten, in welchen Zeitgeist sie einzuordnen wären. Da scheint mir nur das spätromanische und frühgotische Mittelalter zu passen.
Echte Textkritik an der Bibel beginnt erst mit dem Engländer Kennicott, der 1776-80 eine Ausgabe der hebräischen Bibel erstellte. Der älteste Text, den er dafür verwenden konnte, stammt von 1106. Der geniale Eichhorn erkannte daran, daß wir die süße Hoffnung auf einen Urtext aufgeben müssen.
Aber nicht die Echtheit der Handschriften will ich hier untersuchen, sondern deren Inhalt.
Vertiefen wir uns zunächst einen Augenblick in das Alte Testament. Es ist eine kunterbunte Sammlung von archaisch anmutenden Überlieferungsbruchstücken, heldenhaften Wandersagen und Familienchroniken, erbaulichen Liedern und Predigten, Liebesromanzen und mystischen Gedichten, Anekdoten und Gerüchten, die mir wesensverwandt den so reichhaltigen Dichtungen der frühen deutschen und fränkischen Literatur erscheinen. Vielleicht sollte ich als Beispiel für alle den Alexanderroman nennen, der in jenen ersten Jahrhunderten nach der Jahrtausendwende in fast allen gebildeten Sprachen der Alten Welt kursierte, von Island bis Indonesien. Die darin vorherrschende exotische Wunderwelt gibt so recht den Charakter der Bibel wieder, ohne daß eine direkte Übernahme festzustellen wäre. Die gegenseitige Beeinflussung ist zwar spürbar, beruht aber doch mehr auf allgemein umherschwirrenden Motiven als auf Abhängigkeit. Es ist die gleiche Faszination für die ferne Vergangenheit, für das magische Ägypten und prächtige Persien, für gottgleiche Helden und schöne Frauen. Kurz: der Wind, der uns aus beiden anweht, ist noch heidnisch.
Hätte der Alexanderroman eins der kanonischen Bibelbücher sein können? Von den verlorenen Büchern, die im Alten Testament zitiert werden, zählt Delitzsch (1920) ein Dutzend »geschichtliche« und weitere zehn »prophetische« Bücher auf, ohne daß er damit Vollständigkeit anstrebte. Es ist demnach nur eine verhältnismäßig geringe Zahl der ursprünglich zitierten Bücher in unserer Bibel erhalten geblieben, und diese wenigen sind außerordentlich fehlerhaft überliefert. Oft werden sie Verfassern zugeschrieben, die weit über ein halbes Jahrtausend früher gelebt haben sollen. Nach dem schon bei Untersuchung der Kirchenväter erkannten Prinzip dürfen wir annehmen, daß viele der nur titelmäßig zitierten und »verlorenen« Bibelbücher nie geschrieben wurden. Der aufgestellte geschichtliche und literarische Rahmen, der eventuell ausgefüllt werden konnte, ist durch die Kanonisierung eingegrenzt worden.
Was Delitzsch dann an Hand genauer Untersuchung der vorhandenen Bibeltexte vorführt, gleicht einem Witzblatt. Die Bibelschreiber hatten keine Ahnung von den geographischen Gegebenheiten des Heiligen Landes und wußten praktisch nichts über dessen Bewohner oder deren Nachbarn. Von Kriegstechnik scheint kein einziger Schreiber auch nur einen blassen Schimmer gehabt zu haben, denn es werden die tolldreistesten Unternehmungen dargestellt, die nicht einmal in Grimm's Märchen stehen könnten. Nur mit Schwertern bewaffnet – woher das Nomadenvolk aus Ägypten sie haben könnte, wird nicht verraten – erobern sie das gebirgige Kanaan mit seinen vielen Burgen und festen Städten, in denen ziviliserte Völker mit Reiterei, Streitwagen und Bogenschützen wohnten. Die oft recht detailliert beschriebenen Schlachten Josuas können weder in dieser noch in irgendeiner anderen (korrigierten) Weise stattgefunden haben. Stets werden auf Gottes Befehl hin alle Einwohner niedergemetzelt, Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen.
Da geschehen auch immer wieder unnatürliche Ereignisse (»Wunder Jehovas«). Wie das Schilfmeer trocken wurde, so auch der Jordan zwecks Überquerung; für den Rachezug bleibt die Sonne stehen, und vom Himmel fallende Steine erschlagen das ganze Feindesheer, ohne daß einer der eigenen Leute getroffen wird. (Ich schließe nicht aus, daß echte Erinnerung an ein kosmisches Geschehen darin enthalten sein kann, aber wann und wo sich das abgespielt hat, ist daraus nicht ablesbar).
Die berühmt-berüchtigte Eroberung Jerichos liest sich dann bei Delitzsch (S. 24) etwa so: Da ausdrücklich alle Krieger die Stadt umschreiten müssen, und wohl fünf jeweils nebeneinander gingen, ist die Schlange rund 90 km lang, das heißt – da Jerichos Mauer nur 1 km Umfang hat – daß es 15 Stunden dauern würde, bis das letzte Glied der Kolonne an der Stelle des ersten Gliedes angelangt ist, und da diese Umwandlung täglich siebenmal geschehen sein soll, dauerte ein Tag also ...
»Der Unterschied zwischen Wahrheit und Dichtung kann in krasserer Weise kaum veranschaulicht werden als durch die Erzählung vom Falle Jerichos. Die Dichtung lautet: Einsturz der Mauern Jerichos durch die Macht der von Priestern siebenmal um sie herum getragenenen Bundeslade; die Wahrheit dagegen: Eroberung mittels Verrats einer zu diesem Zwecke bestochenen Hure.«(S.26). In diesem Stile geht es viele Seiten weiter, was nicht an Delitzschs Ausdauer sondern an der Phantasie des Bibeltextes liegt.
Was soll nun diese ganze unmögliche Eroberung Kanaans?
Delitzsch sagt es klar heraus: »kein Gott ohne Land« (S. 40). Jehova muß sich ein Stammland erobern. Wie – das ist egal. Da haben wir einen festen Anhaltspunkt: Das nur in religiösem Sinne existierende »Volk« der Juden brauchte eine Heimat, zumindest in grauer Vorzeit. Diese schafft es sich durch Bücher, die dergleichen vorgaukeln. So wird durch einige Gemeinden, die überall Mission treiben und von Galizien in der Ukraine bis Galicien am Atlantik neue Gemeinden gründen, im 10. Jahrhundert eine Geschichte zusammengestellt, je verrückter und phantastischer, desto besser, die mehrere Jahrtausende zurückreichen soll und die hochgesteckten Ziele auch erreicht – nämlich einen Anfang aller Juden am Tage der Schöpfung, eine Gesetzgebung, die an Alter nicht zu überbieten ist, ein rückerobertes ursprüngliches Heimatland, Zentraltempel und Priesterkaste und was sonst noch so nötig ist zur Gestaltung einer ehrwürdigen Geschichte.
Delitzsch prangert auch die totale Verachtung der Frau an, die in allen biblischen Texten zum Ausdruck gebracht wird. Wenn nun festgestellt werden muß, daß diese Unverschämtheit im christlichen Neuen Testament (Jesus herrscht seine Mutter an: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?) und im islamischen Koran ganz ähnlich vorliegt, dann muß darin eine gleiche Zeitströmung gesehen werden, die durch eben diese Bücher verwirklicht wurde. Hier liegt am allerwenigsten ein Abbild der Entstehungszeit vor sondern vielmehr ein Programm, das schrittweise soziale Tatsachen zur Folge hatte. Weder in der Antike noch im europäischen Heidentum ist dergleichen denkbar (Hunke 1958). Die Neuartigkeit dieses Programms läßt aufhorchen und die letzten Handgriffe am Text sehr spät ansetzen: nach der Pestzeit.
So verworren und widersprüchlich wie die Bücher des Alten Testaments kann eine echte Überlieferung nicht aussehen. Wir müßten schon annehmen, daß die Fragmente von Leuten zusammengestellt wurden, die aus einem völlig fremden Kulturkreis kamen und daß dieses Machwerk einen fabulierten Zeitabstand von 2-3 Jahrtausenden vorspiegeln soll. Wie man gescheiten Menschen diesen Humbug auftischen konnte, bleibt dennoch ein Rätsel.

Abschnitt 2: Neues Testament

Wie Baldauf vertrat auch Kammeier die These, die Bibel – vor allem das Neue Testament – sei erst im Hochmittelalter verfaßt worden. Es gibt da einige Punkte, die selbst den Laien stutzig machen. Betrachten wir einmal nur die ersten drei Evangelien und die Apostelgeschichte, so fällt auf, daß sie von Leuten geschrieben wurden, die Palästina nicht kannten, vom Judentum und seinen komplizierten Gesetzen und Sitten keine Ahnung hatten, Griechisch nur als Fremdsprache beherrschten, Aramäisch fast gar nicht konnten und vermutlich Vulgärlatein als ihre Hauptsprache schrieben.
Kammeier (1982, S.328) stellt an sprachlichen Merkmalen fest: Je jünger die Evangelien, desto orientalischer werden sie.
Wenn Jesus, wie angenommen oder suggeriert wird, Aramäisch sprach, die gebildeten Juden aber Griechisch, – denn die Thora wurde ihnen in der Synagoge in der griechischen Version der Septuaginta vorgelesen – dann klafft hier eine sprachliche Lücke.

Einer der frühen Aufklärer dieser Problematik war ein ehemaliger Student des evangelischen theologischen Stifts von Tübingen, David Strauss. Das heutige Interesse an der Bibel, sagt Strauss (im Vorwort 1864), ist ein rein geschichtliches. Mit Wahrheitsfindung hat das nichts zu tun. Dennoch ergreifen wir alle Partei, wie Strauss danach ausführt: »Wer über die Herrscher von Ninive oder die ägyptischen Pharaonen schreibt, der mag dabei ein rein historisches Interesse haben; das Christentum ist dagegen eine so lebendige Macht, und die Frage, wie es bei seiner Entstehung zugegangen, schließt so eingreifende Consequenzen für die unmittelbare Gegenwart in sich, daß der Forscher ein stumpfsinniger sein müßte, um bei der Entscheidung jener Frage eben nur historisch interessiert zu sein.«
Strauss hat erkannt, worum es bei diesem Spiel geht und wieviel gefälscht wurde. Er bringt ein typisches Beispiel, das uns die Mentalität jener Fälscherepoche so recht vor Augen führt:
Wenige Tage nach der Hinrichtung von König Charles I von England erschien eine Denkschrift, in der er seine Verteidigung gegen die Anklage darstellt, und diese soll in der Zeit seiner Gefangenschaft von ihm selbst verfaßt worden sein. Man akzeptierte sie gern in diesem Sinne, die Schrift erreichte in kurzer Zeit 50 Auflagen. Dadurch wurde der hingerichtete König zum Märtyrer. Noch im selben Jahr 1649 schrieb der berühmte Milton, daß es sich bei dieser Schrift um eine Fälschung handelt. Heute weiß man, daß der Bischof von Exeter die Schrift verfaßt hat. Nur: man wollte es damals nicht glauben. Wenn zu jener Zeit eine solche Fälschung 40 Jahre lang als echt verteidigt wurde – in einem aufgeklärten Zeitalter, wie es wohl kein zweites gab – »dann kann ich mich nicht länger wundern, wie so viele unterschobene Schriften unter dem Namen Christi, seiner Apostel und anderer großer Personen haben veröffentlicht werden können.« (S. 21)
»Im 2. Jahrhundert vor Christus hatte ein alexandrinischer Jude, Aristobul, ... angeblich Verse der ältesten griechischen Dichter zusammengetragen beziehungsweise selbst gemacht, worin diese sich nicht blos im Sinne des Monotheismus, sondern auch ganz speziell für jüdische Religionssatzungen aussprachen. Wir finden jetzt die Frechheit kaum begreiflich, mit welcher der Jude im Stande war, den Orpheus von Abraham, Moses und den zehn Geboten, den Homer von der Vollendung der Schöpfung am siebten Tage und der Heiligung des Sabbats reden zu lassen; nicht nur ohnehin die Eitelkeit seiner Volksgenossen kam ihm gläubig entgegen, sondern auch gelehrte christliche Kirchenväter wie Clemens von Alexandria und Euseb berufen sich in vollem Glauben auf die von ihm geschmiedeten Beweisketten.«
Und er fährt fort (S. 23): »Ein besonders schlagendes Beispiel ... ist der Briefwechsel Christi mit dem König Abgarus von Edessa, den uns Euseb als Ausbeute aus dem edessenischen Archiv in einer von ihm gefertigten Übersetzung aus dem syrischen Original mitteilt.«
Der Wortlaut dieses Briefes von Jesus an den syrischen König, der 500 Jahre später lebte, ist dermaßen dummdreist, daß es einem Theologen von heute schlecht werden würde. Da beruft sich Jesus auf die Schriften seines Jüngers Johannes (IX,39; XX,29 u.a.), die ja erst viel später geschrieben wurden. Diese Art Zitate biblischer Stellen, die eine frühe Entstehung des Evangeliums bezeugen sollen, sind uns schon seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Strauss bringt die Sache auf den Punkt. Er wurde einer der angesehensten Theologen seiner Zeit und ausgiebig diskutiert. Während sein erstes Werk rein theologisch gehalten war, mit minutiösen Nachweisen seiner Behauptungen, schrieb er 40 Jahre später das hier ziterte volkstümliche Buch als Endergebnis seines Lebens unter dem Titel für das deutsche Volk bearbeitet, womit er abermals heftige Streitgespräche auslöste, weil man diese Enthüllungen gerne im Kreis der Akademiker zurückgehalten hätte.
In den beiden folgenden Generationen setzte sich dieser aufklärende Zug immer stärker durch, bis wir kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs einen Höhepunkt dieser Sichtweise erreicht haben. Einen der letzten dieser Schule will ich noch zitieren: Arthur Drews. Er hat (1921) in eindrucksvoller Weise gezeigt, daß die Christus-Mythe eine späte Erfindung sein muß. Die zeitliche Einordnung dieser Gestalt ist völlig mißlungen, von den psychologischen Unvereinbarkeiten in der Person Jesu ganz zu schweigen. Herodes, unter dem Jesus geboren sein soll, starb schon 4 v.Chr., der syrische Statthalter Cyrenius übte sein Amt 7 bis 11 n.Chr. aus. Als Johannes der Täufer auftrat, soll Lysanias Tetrarch von Abylene gewesen sein, er war aber schon 36 v.Chr. gestorben und eine Tetrarchie Abylene gab es nie. Hannas und Kaiphas waren angeblich gleichzeitig Hohepriester, aber es gab immer nur einen Hohenpriester. König Herodes I wird durch Josephus Flavius recht menschlich dargestellt, der »Kindermord zu Bethlehem« paßt nicht zu ihm usw. (Drews, S. 33). Man hatte also von den tatsächlichen wie auch später rekonstruierten geschichtlichen Umständen der Zeit Jesu in Palästina keine Ahnung, als die Evangelien geschrieben wurden. Das kann weder in der ausgehenden Antike noch in der Renaissance gewesen sein, sondern dürfte irgendwann dazwischen liegen. Die Zeit vom 10. bis 14. Jahrhundert käme in Frage.
Das Nichteintreten der Wiederkehr Jesu (»Naherwartung«, etwa Markus 13, 7-13) müßte das Christentum – wenn es schon in der Antike bestanden hätte – nach mehreren Generationen der Lächerlichkeit preisgegeben und damit ausgelöscht oder völlig verändert haben. Erst durch den konstruierten große Zeitabstand konnten die Voraussagen als echt hingestellt werden. Die Zerstörung von Jerusalem durch die Perser wird eine große Bewegung von Flüchtlingen ausgelöst haben, die über ganz Europa neue Ideen ausbreiteten; sie dürften Anstöße zur Abfassung der Evangelien gegeben haben, gleichzeitig natürlich auch das Verlangen zur Rückgewinnung der heiligen Stätten und damit die Kreuzzüge geschürt haben.
Schon der erste christliche Märtyrer, Stephan, hat eine propagandistische Aufgabe zu erfüllen. Er steht unter Einsatz seines Lebens gegen den Tempelkult der Juden auf. Diese Abgrenzung entspricht dem byzantinischen Ikonenstreit, der ja eine Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden Islam war, und den ersten Selbstbestimmungsversuchen der europäischen Christen gegenüber dem Judentum; das wäre nach unserer neuen Theorie etwa im 11. Jahrhundert.
Die ältesten christlichen Texte waren Sammlungen von Aussprüchen, die im Laufe der Zeit einem Erlöser in den Mund gelegt wurden. Origenes, einer der frühen »Kirchenväter«, kannte eine ganze Anzahl Jesu-Sprüche, die keine Aufnahme in die heutigen Evangelien mehr gefunden haben. Auch die Moslems haben Jesus gute hundert Sprüche zugeschrieben, die nur sie kennen (gesammelt von Asin Palacios).
Bei dem Versuch, Zitate nach Evangelienversen in mittelalterlichen Autoren nachzuprüfen, mußte ich leider feststellen, daß diese Zitate oft ganz vage sind oder – daß sie in Texten stehen, die ohnehin den Eindruck machen, sie seien erst in der Renaissance geschrieben oder zumindest verändert worden. Auch inhaltlich sind gewisse Punkte außerordentlich verdächtig: Es kann nicht angehen, daß Paulus nach Damaskus in Syrien reiste, um Christen zu verfolgen, wie die Apostelgeschichte des Lukas (Kap. 9) berichtet. Es war wohl eher so, daß er »dort« die Wiederkehr Christi erwarten sollte, einer »alten« Überlieferung zufolge. Zeitweise war Damaskus als der Ort des Bundes und des Jüngsten Gerichts so bedeutsam, daß die ersten Kalifen des Islam, die Omayaden, Damaskus zu ihrer Hauptstadt machten. Das dürfte also frühestens ins (geistesgeschichtliche) 7. Jahrhundert gehören (=10. Jh.). Auch die große Bedeutung von Nazareth im Evangelium muß auf einem argen Mißverständnis beruhen, denn Nazareth als Stadt existiert erst seit der Kreuzfahrerzeit (siehe hierzu auch Baigent und Leigh 1991, S.220).
In den Ungereimtheiten und zahlreichen Widersprüchen in Evangelien und Briefen spiegelt sich die Diskussion der werdenden Staatskirche, die aus verschiedenen streitenden Strömungen zusammengewachsen ist. Manche Paulusbriefe sind Kommentare zu anderen Paulusbriefen (siehe Detering 1995) und beide stammen nicht von Paulus. Die drei sogenannten »Pastoralbriefe« des Paulus (zweimal an Timotheus und einmal an Titus) sind von einem ganz anderen Autor geschrieben, der sich nicht an die Lebensumstände des später als »Paulus« konstruierten Mannes hielt, nicht einmal an dessen Glaubensaussagen. Sie waren also ursprünglich gar nicht als Fälschung zu den Paulusbriefen geplant.
Die Zusammenfügung der Schriften des Neuen Testamentes zu einem Kanon sollte beide Parteien, die Petrus- wie die Paulus-Anhänger, zufriedenstellen. Der daraus entstandene Flickenteppich beinhaltet zwar insgesamt die wichtigsten Meinungen, läßt aber keine als eigenständig gelten. Dies war das Ziel der Kanonisierung, und da die Zersplitterung bis in die Versteile hineinreicht, ist eine Entwirrung kaum noch möglich. Man glaubte wohl auch, auf diese Weise die Textklitterung selbst unkenntlich zu machen. Es entstanden geheimnisvolle, aber uninterpretierbare Texte, vielseitig verwendbar. Zur »Bestätigung« und endgültigen Korrektur schuf die Kirche schließlich im Hochmittelalter die Anti-Ketzerschriften (eines Irenäus, zum Beispiel), in denen sich ein sehr später Zustand der theologischen Diskussion spiegelt.
Wenn man die widerstreitenden Diskussionargumente herauslöst, stellt man überrascht fest, daß sie thematisch nicht, wie behauptet, in die Antike gehören können, sondern erst nach der Jahrtausendwende einsetzen.


Abschnitt 3: Mysterienspiele

Die christliche Kirche formiert sich als Antwort auf die etwa gleichzeitige Ausbreitung des Judentums in Mitteleuropa, deren Thora zum Heiligen Buch schlechthin wurde. In aller Eile mußte man sich ein entsprechendes Dokument zulegen. Dieser angestrengte geistige Prozeß im 11. Jh. ist nur als Gegenbewegung zur gleichzeitigen islamischen Religionsbildung im Orient und zur jüdischen Dominanz in Mitteleuropa zu verstehen. Das Bewußtsein, eine Heilige Schrift nötig zu haben, entstand durch die Präsenz der jüdischen Thora, die gerade im Orient durch die Qariten neu formuliert worden war. Sowohl der Koran (Qur'an ist von Qar'a = Lesen abgeleitet) als auch das Neue Testament sind direkte Folgen davon. Die gegenseitige Beeinflussung ist auf Schritt und Tritt spürbar, wenngleich sie stets abgeleugnet wird. Nur in diesem wechselseitigen »Hochschaukeln« entstanden die komplizierten Dogmen der drei Monotheistenreligionen.
Die Juden hatten mit ihrer Thora und ihrer selbstgebastelteten »Vätergeschichte« einen enormen Vorsprung. Der Koran wurde stückweise aus älteren syrischen und äthiopischen Liedern und Gebeten zusammengesetzt, ergänzt um die Visionen des Propheten Arabiens (Lüling 1974).
Auf christlicher Seite ging man ebenfalls von vorhandenen Texten aus, nämlich den Rollentexten der Mysterienspiele. In denen war in gnostischer Manier schon das Geheimnis vom sterbenden und auferstehenden Jüngling enthalten.
Diese Spiele waren zunächst rein heidnische Begleitgänge für Gestorbene, deren Seelen mittels des Schauspiels ins Jenseits eingeführt wurden. Der Seelengeleiter (Psychopomp) begab sich mit den Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt und machte sie mit den neuen Lebensbedingungen vertraut. Spürbar ist diese Absicht noch in der »Niederfahrt zur Hölle« des Christus, wo er einige Seelen rettet, die nicht getauft waren, wie im Evangelium des Nikodemus dargestellt; andere Seelen gingen dort für immer verloren, weil dieser Christus die Hölle eigenhändig versiegelte. Nun entstand ein neues Zwischenreich, ein Limbus antiker Art, für die Erretteten, die ja nicht ins Paradies eingehen konnten. (Das ist eine sehr späte Schöpfung des 12. Jahrhunderts, wie LeGoff bei der Untersuchung des Fegefeuers feststellte.)
Vorbild für die Höllenfahrt war ein altes Kultspiel zum Tode eines Königs: Der Gestorbene tritt vor das Tor der Unterwelt und bittet um Einlaß, was ihm nach einer Prüfung gewährt wird. Die frühen Osterspiele fanden stets »am Grab« statt, oft an einem Grab, das in Körperform aus dem Felsen gehauen ist, wie zum Beispiel bei den Externsteinen.
Zu den Theateraufführungen für Verstorbene, die ja nicht eigentlich öffentlich waren, sondern nur von den jeweiligen trauernden Hinterbliebenen besucht wurden, benützte man auch Gebäude, die man als Vorläufer romanischer Kirchen bezeichnen kann. Typisch sind die Rangstufen, auf denen die Teilnehmer Platz nahmen (oder standen), und die »Szene« – eine Art Empore, die in den späteren christlichen Kirchen zum Altarraum wurde und durch eine Schranke, die spätere Altarschranke (Ikonostase), mit Eingängen und Durchblicken, abgetrennt war. Reste derartiger Gebäude, vollständig in Fels gehauen, fanden wir bei unseren Entdeckungen vorgeschichtlicher Felsmalereien in Südspanien (Topper U. und U. 1988). Und die Felsbilder, die offensichtlich in Zusammenhang damit stehen, zunächst von Fachleuten als jungsteinzeitlich-bronzezeitlich oder genauer (von Breuil 1929) als kupferzeitlich eingeordnet, erweisen sich nun in zunehmendem Maße als spätrömisch bis frühchristlich, wie aus den verwendeten Symbolen hervorgeht, die auch den Namen Jesu und die Zeichen der Offenbarung, Alpha und Omega, bringen. Das angeblich vorgeschichtliche Heiligtum von Peña Tu in Asturien zeigt typisch christliche Kreuze. Der Zusammenhang mit den asturischen Kirchenbauten der Westgoten, den wohl ältesten »christlichen« Gebäuden in Westeuropa, ist in jeder Hinsicht auffällig, gerade auch durch die dort als Wandfresken weitergeführte rote Malerei, die ins 10. Jahrhundert datiert werden kann.
Zu den spanischen Felsmalereien gehören die menschenförmigen Gräber, die aus dem gewachsenen Fels herausgehauen sind. Oft liegen die Höhlen mit den Malereien, die thematisch fast stets zum Totenkult gehören, ganz nahe bei den Körpergräbern oder bringen sogar Abbildungen davon. Diese Gräber werden von den meisten Archäologen ins 9. bis 11. Jahrhundert datiert. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit der frühen religiösen Entwicklung, die uns heute so fremd anmutet, weil sie die unbekannte Vorform des Christentums ist, mit großen Taufbecken und Mönchszellen, aber ohne Kreuze. Je mehr Leute sich mit den Felsgräbern beschäftigen, desto mehr werden gefunden, von Nordportugal über Andalusien bis Algerien. Selbst im Elsaß, in Süddeutschland und – wie schon erwähnt – an den Externsteinen gibt es sie.
Ein wichtiges Ritual war dabei die lebendige »Grablege«. Wer sich einweihen beziehungsweise aufnehmen lassen wollte, mußte sich in zeremonieller Weise in das Körpergrab im Fels legen und wurde nach einem vergeistigten Todesdurchgang wieder erweckt. Als »Zweimalgeborener« gehörte er nun zu denen, über die der Tod keine Macht hat.
Daraus entstand folgerichtig Tod und Auferstehung des Jesus von Nazareth als Stellverteter für alle Menschen. Passionsspiele, die im Hochmittelalter in allen Gebieten Europas aufgeführt wurden, halte ich für die direkte Fortsetzung der »Seelenführungen«. Man schaue sich die traditionelle »Loa« in spanischen Städten an, die teilweise noch Texte aus dem 16. Jahrhundert wörtlich benützt. Im deutschen Bereich haben wir zum Beispiel in der Liederhandschrift der Carmina Burana mehrere gut erhaltene Rollentexte zu Passionsspielen aus dem frühen 14. Jahrhundert.
Mehrere Worte Jesu gehen auf heidnische Trinksprüche zurück, die zu rituellen Gelagen gehörten, aber nun anderen Sinn erhielten, wie etwa der (Matthäus 26, 39-44) von Jesus im Garten Gethsemane, der Geist sei willig und das Fleisch schwach.
Bekannt ist auch, daß ein Detail im Bekehrungserlebnis des Paulus vor Damaskus aus dem Bakchenfest des Euripides stammt (Ranke-Heinemann bei Detering 1995, S. 30).
Ich nehme an, daß die Urform der Offenbarung des Johannes ebenfalls szenisch aufgeführt oder mit verteilten Rollen gelesen wurde. Nach Ansicht vieler Theologen war sie das erste christliche Buch und hat sich darum so spät gegen den neu zu schaffenden Kanon durchgesetzt. Man mußte die Apokalypse erst zur Seite schieben, bevor man sie angleichen konnte. Das geschah wohl im 11. Jahrhundert. (Diese Datierung stammt nicht von den Theologen, sondern von mir.) Wann die Offenbarung geschrieben wurde, ist nicht mehr erkennbar, aber soviel ist sicher: Vor dem 10. Jahrhundert gibt es keine Illustrationen zu diesem (oder einem anderen) Bibelbuch. Die Illustrationen des Beatus von Liébana in Nordspanien sind wahrscheinlich die ersten Illustrationen zu einem Bibeltext; sie können nicht vor 980 geschaffen sein, wie Vergleiche mit den anderen Beaten gezeigt haben. Alle Evangeliare sind jünger. 987 wurde die Offenbarung ins Georgische übersetzt, es gibt eine Handschrift des Hl. Euthymius. Wenn diese Jahreszahlen verläßlich sind – was keineswegs selbstverständlich ist – haben wir einen ersten Datierungsansatz für den Beginn der Bibelniederschrift.

Abschnitt 4: Annäherung

Zuerst gab es noch kein Evangelium, das eine fortlaufende Geschichte geboten hätte, sondern nur Sammlungen umlaufender Sprüche, die unter der noch nicht ausgeformten Person Jesu vereinigt wurden.
Ein heute nicht mehr anerkanntes, aber offensichtlich recht altes Evangelium ist das des Thomas. Es enthält 114 Aussprüche Christi. Diese Zahl ist kennzeichnend, weil sie sonst keinen Sinn macht. 112 wäre als 28 mal 4 eine sinnvolle Sakralzahl, die zum Kalenderbereich gehört: Wem die kürzeste Abfolge von 5, 6, 11 und 6 Jahren zur Erreichung desselben Wochentages für den Jahresbeginn (oder Ostern) zu kompliziert war, der nahm gebündelt 28 Jahre; da dies außerdem noch die Summe aller Zahlen von 1 bis zur heiligen Sieben ist, wurde 28 zur heiligsten Zeitrhythmuszahl. Und wer noch einen olympischen Vierjahreszyklus mitbeachten wollte, der mußte einen 112-jährigen Rhythmus anlegen.
Der Koran enthielt ursprünglich 112 Suren, denen noch zwei Gebete am Schluß angehängt wurden, um zur Zahl 114 zu gelangen. Hier ist die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Evangelium und Koran offensichtlich. Die Aussprüche Jesu im Thomas-Evangelium, aufgeschrieben von seinem Zwillingsbruder Judas, liegen übrigens dem Matthäus-Evangelium recht nahe. Die Gleichzeitigkeit der Abfassung – im weiteren Sinne, das heißt eine Generation umfassend – scheint mir vertretbar.
Die gegenseitigen Korrekturen, die bei der fast gleichzeitigen Abfassung der Evangelien nötig waren, sind stellenweise noch zeigbar. Man nehme sich die Abendmahlsgeschichte vor, die zuerst bei Lukas vorkommt, wo Jesus noch enthaltsam den Wein ablehnt und nur seinen Jüngern ausschenkt; besser gestaltet in Markus, wo er nach dem Essen sagt, daß er von nun an keinen Wein mehr trinken wird; zurück zu Lukas, wo der Kelchsegen nun doch nach dem Essen angefügt wird; und dann endlich in richtiger Reihenfolge und mit theologischer Begründung (»Sündenvergebung«) bei Matthäus. Damit ist keine Reihenfolge der Entstehung dieser Texte angegeben, sondern ihre Gleichzeitigkeit und gegenseitige Abhängigkeit. (Der romanhafte Johannes hat dieses heidnische Mahl mit Gottesurteil weggelassen, es paßte nicht in sein mystisches Konzept).
Übrigens gibt es auch im Koran – wenngleich nur ganz knapp – eine dreistufige Ablehnung des Weingenusses.


Abschnitt 5: Die Texte

Hervorheben möchte ich noch einmal die bemerkenswerte Tatsache, daß die Überlieferung der Offenbarung des Johannes sehr verschieden von der der übrigen Schriften des Neuen Testamentes ist. Mit Ernst Windisch und Joh. Leipoldt können wir annehmen, daß die Offenbarung den Bibelkanon vorwegnimmt, weil sie ihn wie ein frühes Programm enthält.
In meiner kritischen Sichtung der Visionen des Johannes (Das letzte Buch, geschrieben 1981, erschienen erst 1993) hatte ich festgestellt, daß der von mir rückerschlossene Kerntext um fast ebenso viele fremde Verse vermehrt worden war, und habe hauptsächlich drei Verfasser herausgearbeitet: den Urheber Johannes von der Insel Patmos, 30 Jahre später durch den »zweiten Verfasser«, einen Kirchenmann vom nahen Festland Kleinasien bereichert, weitere 15 Jahre später umgearbeitet und mit vielen Zusätzen versehen (z.B. die 7 »Briefe«) durch den »Herausgeber«, der schon die entstehende Kirche vor sich sieht. Weitere Zusätze stammen von einem dazwischenliegenden Mitarbeiter und einem Schlußbearbeiter und einem Nachbearbeiter. An den archaischen Gedankengängen und dem liedhaften Aufbau ist erkennbar, daß die Urfassung der Offenbarung längere Zeit vor allen anderen Büchern des Neuen Testaments geschrieben wurde und diesen zum Teil als Vorbild diente. Als wichtigste Merkmale des großen Abstands und der Ursprünglichkeit will ich erwähnen, daß es in der Offenbarung noch keinen Kreuzestod gibt, auch keine »Naherwartung« der Wiederkehr Jesu, kein Abendmahl und keine Evangelien, und daß die Namen Jesus und Christus klar erkennbar erst nachträglich eingefügt wurden.
Entgegen meiner um 1980 entwickelten Meinung über die (AD-)Jahre, in denen ich die Entstehung der verschiedenen Phasen der Apokalypse sah – eng angelehnt an die in der theologischen Forschung vorgeschlagenen Jahreszahlen – muß ich jetzt, da feststeht, daß das erste Jahrtausend sein Zahlengerüst völlig verloren hat, meine Datierungen zurücknehmen und kann nur ganz grob »(kurz) vor 1000 AD« als Entstehungszeit angeben. Die Gleichzeitigkeit mit der Koranentstehung ist an vielen Stellen auffällig und mag ebenfalls dazu beigetragen haben, daß die Offenbarung sich in der Ostkirche, die den Koran fürchten lernte, nicht leicht durchsetzte. In der Offenbarung stirbt Jesus noch den Lanzentod, wie ein germanischer Held – im Koran wird ausdrücklich verneint, daß Jesus durch Kreuzigung starb. Die Darstellung des Kreuzestodes mit Lanzenstich in den Evangelien ist eine mißglückte Kompromißlösung. Des weiteren sind die neuartige und besondere Betonung des Buchcharakters der göttlichen Botschaft, die enorme Gewalt der Engel und die alles überschattende Macht des Jüngsten Gerichtes die wichtigsten gemeinsamen Merkmale von Koran und Offenbarung. (Für die Details verweise ich auf mein Buch).
Das Hin und Her im Theologenstreit um die freie Entscheidungsmöglichkeit des Menschen, der in der islamischen Diskussion allerhärteste Form annahm (»Mu'tazila«), hat auch die Offenbarung geprägt. Auf Johannes, der für die Willensfreiheit eintrat, folgte der »zweite Verfasser«, der sich dagegen aussprach, und auf ihn der »Herausgeber«, der sie einschränkend wieder befürwortete.
Mit der Spaltung der christlichen Kirche in eine byzantinische und eine römische (»Schisma«) im Jahre 1056 ist der echte Beginn der katholischen Kirche anzusetzen, wenn auch noch nicht in Rom sondern vermutlich in Südfrankreich und Paris.
Anschließend an die Offenbarung und aufbauend auf die frühen Evangelienharmonien wurde nun der Kanon (= »Maßstab«, die Liste der als Gottes Wort angesehenen Bücher des Neuen Testaments) aufgestellt und schrittweise abgegrenzt, wiederum parallel zur islamischen Entwicklung, die viel härter geführt wurde; dort ging es bereits um die Festlegung des Korans als unerschaffen, von Ewigkeit an mit Gott vorhanden. Die damals im Islam laufende »Aktion« will ich hier nicht untersuchen (ich verweise auf Lüling 1974 und 1981). Die gegenseitige Beeinflussung aller drei Buchreligionen läßt die zeitliche Nähe der einzelnen Entwicklungsschritte deutlich erkennen. Ähnlich wie das jüdische Mischna, (aber auch die indischen Weden und der buddhistische Palikanon), sind die Bücher des Neuen Testaments jeweils innerhalb der Gruppen nach der Länge geordnet, die längsten kommen zuerst; im Koran ist das mit größter Strenge durchgeführt.
Die Reihenfolge – und die Abweichung von diesem Muster – spielt demnach eine bedeutende Rolle.
In einigen frühen Manuskripten (12. und 13. Jh.) folgt die Offenbarung direkt auf die Evangelien, was bezeugt, wie wichtig dieses Buch zu jenem Zeitpunkt noch war; sogar in der ersten gedruckten Ausgabe des äthiopischen Neuen Testaments (Rom 1549) ist diese Stellung eingehalten, was für die Halsstarrigkeit der Kirche von Axum spricht (Metzger S. 277).
Apostelgeschichte und Briefe sind bedeutend jünger als die Evangelien. Der Jakobusbrief könnte den Anfang gemacht haben, er ist noch stark judaisierend. In den Paulusbriefen spiegeln sich die Streitigkeiten der katholischen Dogmatiker im 13. Jh., die Kämpfe der Scholastiker untereinander.

In Ägypten liegt der Kanon der Bibel selbst im 13. und 14. Jahrhundert noch nicht eindeutig fest. In Äthiopien ist es noch schwieriger, sichere Aussagen zu machen. Man benützte dort 54 Bücher des Alten Testaments und halb so viele, 27, des Neuen Testaments, zusammen also 81 Bücher. In einigen Bibeln sind es jedoch sieben (oder auch acht) Bücher mehr. Da gehören Henoch und Jubiläen, Synodos und Klemensbriefe zur Heiligen Schrift. (Zum Vergleich: Josephus kannte nur 22 Bücher, der heutige Kanon hat 39 plus 27 = 66 Stück.)
Die Verbindung zu diesen ältesten Zentren der Christenheit in Afrika ist ja auch früh abgerissen, darum zeigt die äthiopische Chronologie so völlig andere Daten.
Zumindest soviel geht daraus hervor: Wenn der Bibelkanon im 2. oder 3. Jahrhundert oder wenig später schon festgelegen hätte, wie mit den Texten der Kirchenväter suggeriert wird, dann würden wohl alle christlichen Bibeln denselben Kanon aufweisen. Die Unterschiede deuten auf den späten Abfassungszeitraum hin.
Und andererseits ist diese Abfassung in kurzer Zeit erfolgt: In den Handschriften des Neuen Testaments gibt es eine standardisierte Übereinkunft für gebräuchliche Abkürzungen heiliger Namen (Gott, Jesus, Christus usw.), insgesamt 14, die in allen Abschriften dermaßen gleichmäßig eingehalten ist, daß eine einheitliche Vorlage und kurze Entstehungszeit angenommen werden muß (Metzger 1993, S. 284, Fußnote).


Die Thora

Blicken wir noch einmal auf den »Alten Kanon« zurück. (Ich zitiere aus Hunger u.a., bes. Stegmüller, 1975).
Das heute gültige jüdische »Alte Testament« (die Juden nennen es Thora) wurde von den Masoreten im Orient geschaffen. Wann man dort mit der Arbeit begann, ist nicht ganz erkennbar, es soll Ansätze schon um 750 gegeben haben (S. 154). Fertig wurde der verbindliche Text um das Jahr 1000. Da bei diesen Datierungen im Orient zwischen jüdischer und byzantinischer Weltära oft 300 Jahre klaffen, schrumpft der Vorgang wahrscheinlich auf die letzten 50 Jahre vor 1000 AD, was als Entwicklungszeit annehmbar ist. Auf diese Weise entstand das heute als klassisch angesehene Hebräisch. Es scheint sogar, daß vorher gar kein Hebräisch dieser Art gesprochen wurde, denn in den jüdischen Gemeinden des Orients sprach man entweder die allgemeine Sprache Aramäisch (wie die alten Israeliten) oder Griechisch. In den Exilgemeinden von Babylon bis Ägypten ist das fast selbstverständlich, aber auch in Palästina soll es so gewesen sein. Übergangsmäßig gibt es auch Thora-Texte in griechischen Buchstaben mit »hebräischem« Wortlaut. Währenddessen bildete sich die moderne hebräische Schrift aus.
Wir kennen das ja, daß für ein Heiliges Buch eine neue Sprache und Schrift geschaffen werden: Panini »erfand« (»um 400 v.Ztr.«) das Sanskrit für die Weden, Wulfilas »um 380« das Gotisch für seine Bibel, Method und Kyrill »erfanden« um 900 Slawisch für ihre Mission (Topper 1995). Für das Arabisch des Koran gilt dasselbe.
Danach müssen immer alle Vorstufen verbrannt werden. »Um ihrem Text ausschließliche Geltung zu verschaffen, haben sie alle älteren Handschriften zerstört.« (Hunger S. 154). Hier ist nur von unserem augenblicklichen Thema, den Masoreten und ihrem »Alten Kanon« die Rede, aber vom Kalifen Osman, der den Koran kodifizierte, oder Kaiser Konstantin VII von Byzanz (10. Jh.) und anderen wurde dasselbe gesagt. Man sammelte alle anderslautenden Schriften ein und verbrannte sie. Auch die Bollandisten gingen noch so vor, als sie die Heiligenlegenden neu ordneten. Bei den in weiter Zerstreuung – von Marokko bis China – lebenden jüdischen Gemeinden dürfte eine derartige zentral geleitete Vernichtung der Texte allerdings schwer gewesen sein. Als man Anfang des 18. Jahrhunderts in China ein angeblich vormasoretisches Manuskript der Thora fand, waren natürlich alle Theologen begeistert, bis festgestellt wurde, daß der Text genau der Amsterdamer Druckausgabe des 16. Jahrhunderts entsprach. Danach waren nur noch die absolut Gläubigen davon überzeugt, daß Gottes Wort vom Sinai bis Amsterdam unverändert die Jahrtausende übertanden hatte.
Die hebräischen Bibeln der Humanisten gingen auf Texte des 13. und 14. Jahrhunderts zurück, die heute modernste und am weitesten zurückreichende hebräische Bibel (Kittel 1937) greift bis auf Manuskripte des 10. Jahrhunderts zurück.


Die Rollen von Qumran

Ob es Bibelhandschriften aus vormasoretischer Zeit gab, bleibt offen. Man erwähnt da gerne die Geniza-Texte aus Kairo und die Schriftrollen von Qumran. Die Geniza-Manuskripte des Alten Testaments, die wirklich außerordentlichen Wert besitzen, stammen nach allgemeiner Ansicht, der ich mich anschließe, aus dem 10. bis 12. Jahrhundert (Hunger nennt S. 158 die Jahreszahlen 929 – 1121; Heinsohn gibt nach guten Quellen 11.-14. Jh. an). Und die Schriftrollen von Qumran sind ihnen äußerst ähnlich (bis auf die fehlenden Vokalpunkte), weshalb sie ihnen auch zeitlich nahestehen müssen. Für die Qumrantexte hat man sich allerdings durch eine katholische Übereinkunft auf die Zeit des 2. Jahrhunderts v.Chr. bis zur Zerstörung des Tempels von Jersualem durch Titus, 70 n.Chr., geeinigt. Das wurde aus keiner archäologisch begründeten Aussage geschlossen, sondern nur durch Theologen vom Text-Inhalt abgeleitet. Gewiß ist die Zerstörung des Tempels in den Qumran-Texten ein wichtiges Thema, aber diese schriftlichen Zerstörungen von Jerusalem gab es mehrfach. Nach der von 70 fand eine weitere im Jahre 135 statt (einige Wissenschaftler legen die Grenze der Qumranrollen darum auf dieses Datum), und die eigentliche Zerstörung geschah erst »614« durch die Perser, wodurch die Kreuzzüge ausgelöst wurden. Das kommt in die Nähe des Jahres 1000, wenn man die Verschiebung der Zeitskalen berücksichtigt.
Die Ruinen von Qumran in der Nähe der Höhlen, in denen die berühmten Schriftrollen gefunden wurden, lassen an ein wehrhaftes Kloster denken, etwa wie ein islamisches Ribat (10./11. Jh.) zur Ausbreitung des Glaubens. Dort gab es eine große Schmiede, aber keine Schreibstube oder Bibliothek. Der Zusammenhang dieser Ruinen mit den Rollen in den Höhlen ist an den Haaren herbeigezerrt. Diese Rollen sind auch ein kunterbuntes Gemisch verschiedenster Texte, von vielen Schreibern in ganz unterschiedlichen Schriftzügen hergestellt, eher also ein Versteck wichtiger Bücher nach einer militärischen Niederlage.
Wenn die Inhalte dieser Fragmente überhaupt Aufschluß geben, dann sollte man auch die zahlreichen Anklänge an den Koran berücksichtigen. Als Beispiel nenne ich die Vision Amrams, des Vaters Aarons. Moses kommt darin nicht vor, dieser Text ist also nicht jüdisch. Aarons Schwester Mirjam heiratete den jüngeren Bruder ihres Vaters, Usiel, was weder nach mosaischem noch nach paulinischem Gesetz rechtens gewesen wäre, den Moslems dagegen erlaubt. Der Text stammt demnach aus dem islamischen Umkreis. Da wird auch ein Engel der Gerechtigkeit gegen einen Engel des Unrechts eingesetzt, das sind typische Ausdrücke des jungen Islam. Und der vielzitierte »Lügenpriester« könnte auf Mohammed selbst bezogen sein.

Übrigens war der erste »christliche« Autor, der die neue Religion Arabiens erwähnt haben soll, ein gewisser Johannes von Damaskus (650-754), der als Mönch bei Jerusalem lebte und großen Einfluß auf die Nachwelt ausübte. Seine Streitschrift ist in mehr als 700 Abschriften erhalten, allerdings keine vor dem 9. Jahrhundert. Die Verhältnisse (der Texte zueinander) sind wie zu erwarten äußerst kompliziert. Die Verlegung ihrer Entstehung ins 7. Jahrhundert ist bemerkenswert, denn »damals« war Damaskus die Hauptstadt des Omayaden-Reiches. Mir kommt es hier auf die Verbindung Essener-Omayaden-Johannes Damascenus an, die einen Zeitpunkt fordert, der nicht vor dem 10. Jahrhundert liegen kann. Die Erwähnungen dieser Stadt im Alten Testament (bei Jesajas, 7,8) und besonders im Neuen Testament hängen davon ab.
Wenn diese Gedanken richtig sind, gehören die Qumranrollen eher zum Beginn des Islam und sind knapp vormasoretisch oder parallel zu diesen Texten entstanden.
Zahlreiche Bruchstücke sollen älter sein. Ihre Abweichung vom masoretischen Text ist aber sehr gering, entsprechend ist der Zeitabstand gering. Nur die Samariter-Thora bietet einen relativ unabhängigen Wortlaut. Aber wann diese Handschrift abgefaßt wurde, entzieht sich jeder Kenntnis. Nach allem, was sich aus der weiteren Textentwicklung ablesen läßt, ergibt sich, daß die samaritanische Thora der Ursprung sein müßte und alle anderen die Nachfolger sind. Den Christen waren die Samariter angenehm wegen ihres ähnlichen Messiasglaubens (was im Evangelium vermerkt ist). Den Juden waren sie dagegen verhaßt; sie nannten sie Guthäer (= Goten, im Sinne von Barbaren). Die Abfassung des masoretischen Textes ist vermutlich eine Trotzreaktion gegen die ältere samaritanische Vorlage.
»Eine Übersetzung der Bibel wurde notwendig, sobald die Juden das Hebräische nicht mehr verstanden.« (S. 159). Das ist die typische Ausdrucksweise romanhafter Geschichtsdarstellung. Richtig ist, daß die archaisierende semitische Sprache, die von einigen Priestern (Masoreten) geschaffen wurde, erst mühsam erlernt werden mußte. Es sind uns sogar »Übersetzungen« ins Aramäische, die Einheitssprache des semitischen Orients, in Bruchstücken (aus dem »3. Jh.«) erhalten. Allerdings handelt es sich um Stücke, die nur inhaltlich mit der jüdischen Bibel vergleichbar sind, doch im Text recht frei schalten. Von Übersetzungen kann nicht die Rede sein.


Septuaginta

Seit die 72 Männer in Alexandria um 250 v.Ztr. die Bibel ins Griechische übertrugen (Septuaginta = 70), wie die Legende es will, gibt es also dieses Standardwerk in der meistgelesenen Sprache der Antike. Außer den von den Christen erfundenen Schriftstellern kannte niemand diese Version. Und der Text ist eher eine freie Nacherzählung als eine Übersetzung. Es gibt leider nur christliche Manuskripte, die den Gebrauch für den Gottesdienst auch klar erkennen lassen. Zwei winzige Bruchstücke mit jeweils 2 und 5 Kapiteln des 5. Buches Mose sollen auch als jüdisch anerkannt worden sein, aber das ist gar zu wenig.
Es besagt nur: »Diese (griechische) Übersetzung erlangte bei den Juden überraschend schnell großes Ansehen und wurde die offizielle Bibel des hellenistischen Judentums, die auch in den Synagogen Verwendung fand.« (S. 161). Danach aber geriet die Septuaginta »bei den Juden in Mißkredit«, so »daß sich die Juden von der Septuaginta lösten.« (ebd.) Ich sehe soweit klar, daß diese Septuaginta nie in jüdischen Gemeinden erlaubt war, und daß ihre Verwendung durch die Christen den Juden ein Dorn im Auge war. Sonst hätten wir wohl eine große Anzahl Handschriften davon. Was jedoch ausgelöst sein könnte durch diese christliche Benützung der Thora, wäre eben der masoretische Text.
Vermutlich ist aber die Septuaginta auch erst nach 1000 entstanden als ein dem Origenes untergelegtes Werk. Dieser Mann soll im 3. Jahrhundert gelebt und eine Bibel in sechs Versionen (Hexapla) verfaßt haben. Drei der griechischen Übersetzungen, die darin gestanden haben sollen, sind nirgendwo sonst belegt und heute unwichtig (Aquila, Symmachos und Theodotion). Die 5. Spalte, die Septuaginta, ist immer noch von Interesse. Es gab jedoch leider wieder nur ein einziges Exemplar dieser kostbaren Riesenschrift, und das ist auch verlorengegangen, nur in bruchstückhaften Kopien und Zitaten erhalten. Die Zitate schenke ich mir, und die Bruchstücke sind auch keinen zweiten Blick wert.
Die übrigen Schriften dieses berühmten Theologen, Origenes, der später von der katholischen Kirche unergründlicherweise als Ketzer verfemt wurde, sind erst aus dem 11. – 13. Jahrhundert erhalten.
Wir landen immer wieder in derselben Zeit, nach 1000 AD.


Die Makkabäerbücher

Zwischen Altem und Neuem Testament liegen Welten, aber es gibt Scharnierstücke, zum Glück. Es sind die nur griechisch geschriebenen Apokryphen (= die Untergeschobenen), und die wichtigsten davon sind die Makkabäerbücher, weil sie so etwas wie historiographischen Anspruch haben, indem sie einen selbständigen israelischen Staat im 2. Jh. v. Ztr. verherrlichen. Nach der 900 Jahre früheren sagenhaften Königszeit von David und Salomon, die man einfach glauben muß, gab es (bis 1948) als autonomen Staat Israel nur den der Hasmonäer beziehungsweise Makkabäer im 2. Jh. v.Chr. Daher die Wichtigkeit dieses Schriftstücks. Aber stammt es wirklich aus der behaupteten Zeit, dem 2. Jh. v. Ztr.?
Zum ersten Buch gesellte sich 200 Jahre später ein zweites, sagen die Forscher, und danach noch zwei weitere Makkabäerbücher. Eine Episode des 2. Buches wurde zum Kernstück des 4., nämlich die Ermordung einer Mutter mit ihren sieben Söhnen, die nun weiter ausgemalt wurde. Man feierte ihren Gedenktag am 1. August, und das war etwa im 12. Jahrhundert üblich, weder davor noch lange danach.
Im 2. Makkabäerbuch (12, 41-46) ist ein Textstück enthalten, das später als vorchristliche Beglaubigung des Fegefeuers benützt wurde und heute von den meisten Theologen, allen voran LeGoff, für eine späte Einfügung gehalten wird. Die Gedanken an Auslösung der Toten und der Versündigung durch Amulette sowie die genannte Summe von 2000 Drachmen sind anachronistisch. Wie können aber derartig unsinnige Einfügungen in die alten Manuskripte vorkommen? Wahrscheinlich sind erst im ausgehenden Mittelalter verfaßt worden.
Auch die beiden letzten Makkabäerbücher waren in den meisten Ostkirchen anerkannte Teile der Heiligen Schrift. Das 4. Buch der Makkabäer wurde fälschlich dem Josephus, Freigelassener des Römers Flavius, zugeschrieben, später aber lieber einem anderen Josephus, den man dann von Gorion abstammen ließ. Dieser war zur selben Zeit wie der vorgenannte Josephus der Befehlshaber der jüdischen Truppen beim Kampf gegen den Römer Titus (also auf der Gegenseite) gewesen, als dieser »70 n. Chr.« den Tempel von Jerusalem zerstörte. Vermutlich hat man aus dem Schreibstil geschlossen, daß es sich um zwei Personen handeln sollte. Der zweite hatte im 10. Jahrhundert in Italien eine romanhafte Fortsetzung der Altertümer des Josephus Flavius verfaßt. Diese heißt heute unter Gebildeten natürlich »Pseudo-Josephus«.
Dieser Josephus schrieb jedenfalls in Latein, und sein 4. Makkabäerbuch ist eine Mischung aus Bibel, Strabo, Lukian und Alexandersage und wurde zuerst in Mantua 1476 gedruckt.
Die anderen Apokryphen übergehe ich, denn sie sind noch wertloser, und komme nun endlich zum Neuen Testament.


Die Evangelien

Angeblich wurde das Neue Testament direkt in Griechisch abgefaßt, einem späthellenistischen Griechisch, das damals die Koine (Verkehrssprache) des östlichen Mittelmeers war. Semitische Vorlagen gab es nicht. Das Griechisch der Septuaginta soll sogar den Ton angegeben haben.
Dennoch ist eine lateinische Urfassung wissenschaftlicherseits nicht auszuschließen. Zwar sind die ältesten Fragmente einige Papyri-Bruchstücke in Griechisch, aus dem »2. – 7. Jh.«, und der älteste Papyrus stammt sogar von »120 AD«, bringt jedoch nur 14 Zeilen aus dem Johannes-Evangelium, und das ist sehr wenig. Das reicht nicht einmal zu dem Beweis, daß entgegen aller katholischen Lehre und übereinstimmend mit den Erkenntnissen der Ketzer das Johannes-Evangelium das älteste wäre. Man müßte nämlich erst einmal fragen, an welchen Kriterien diese Altersbestimmungen vorgenommen wurden. Genaugenommen sind sie Studiensache, das heißt sie liegen im Amtsbereich der Handschriftenkunde. Man hat da seit langer Zeit eine Entwicklung der Schriftarten aufgestellt und ordnet nun alle Texte entsprechend ein. Wie diese Voraussetzung ohne tatsächlich datierte Schriftstücke abgelaufen ist, gehört der Vergangenheit an. Seit sie sich festigte, bildet sie einen Maßstab, den niemand mehr stürzen kann, der zur Zunft gehört.
Es handelt sich also um ein Axiom.
Diese Zeitenfolge der Handschriften wurde vom Inhalt her erschlossen, wie man es ja auch heute noch bei den Qumranrollen macht, denn einen zweiten Anhaltspunkt haben wir nicht. Und damit hat sich die Schlange wieder einmal zum Kreis gerollt.
Dann gibt es die »Vollbibeln« auf Pergament, die man bis vor wenigen Generationen für die einzigen Textzeugen hielt. Diese Kodizes, wie man sie nennt, fangen schon »vom 4. Jh.« an, vor allem drei Manuskripte sind uns erhalten. Ich will sie kurz beschreiben.
Der älteste ist der Kodex vom Sinai, den einer der Schöpfer des modernen Bibeltextes (1869-72), Konstantin von Tischendorf, 1844 im Katharinenkloster entdeckte. Das Prachtstück kam erst nach Leipzig und dann nach Petersburg und wurde später für eine irrsinnige Summe nach London verkauft. Vielleicht hatten die Petersburger den Schwindel gemerkt. Die Londoner geben ihn verständlicherweise bis heute nicht zu. Der Kodex enthält das Alte und Neue Testament in Griechisch, fast lückenlos und in der heutigen Anordnung, außerdem noch als besonderes Kennzeichen seiner Altertümlichkeit den Barnabasbrief und den Hirten des Hermas, beide recht unschädliche Apokryphen, die man vielleicht um 1840 einzugemeinden dachte. Was nicht gelang.
Zum Hirten von Hermas eine kleine Zwischenbemerkung. Es soll zahlreiche Manuskripte, »vom 2. Jahrhundert an« (Metzger S. 70) davon geben. Das Buch sei vom Bruder des Papstes Pius I um 140 in Rom geschrieben, der den Paulus (siehe Römer 16, 14) noch gekannt haben soll, wie Origenes annimmt, der eine Generation später gelebt hätte. Wie konnte er sich da um ein ganzes Jahrhundert irren? Bei der stürmischen Entwicklung, die die Kirche damals durchmachte, müßte diesem gebildeten Mann der Sprung über 100 Jahre doch aufgefallen sein! Erst in viel späterer Zeit können derartige Fehler entstehen.
Dann haben wir den vatikanischen Kodex aus derselben Zeit (»4. Jh.«), der in der römischen Kurie seit 1475 liegt. Wie er dorthin kam, bleibt ein Geheimnis. In ihm fehlt nur die Offenbarung des Johannes. Viel älter als 1475 wird er nicht sein.
Der Alexandrinische Kodex befand sich allerdings schon seit 1098 in Alexandria, wenn man den Bibliothekseintragungen trauen darf. Es gibt keinen Grund, ihn jünger zu machen, obgleich er erst 1751 nach London kam. Er könnte wirklich um 1100 geschrieben sein.
Außer diesen drei Mustervorlagen, die nie kopiert wurden (soviel läßt sich feststellen an den Fehlern, die in den Abschriften wiederkehren müßten), gibt es noch zwei Handschriften des »5. Jahrhunderts«, die beide arg verdächtig sind. Ich erwähne nur den besseren, den Kodex des Ephraim, der heute in Paris liegt (veröffentlicht von Tischendorf 1843). Die Lederblätter mit der Heiligen Schrift (»5. Jh.«) wurden im 12. Jahrhundert abgewaschen (sic!) und mit einigen Texten des Syrers Ephraim (gestorben »373«) beschrieben, wodurch viele Blätter verlorengingen. Da erübrigt sich jeder Kommentar.


Evangelienharmonien

Dieser Ephraim wurde durch seinen ins Armenische übersetzten Kommentar zur Evangelienharmonie bekannt, und hier fängt die Geschichte an, spannend zu werden. Zuerst gab es nämlich gar nicht vier Evangelien, auch nicht zwanzig, sondern nur einen Text, der viele Aussprüche Jesu und Beschreibungen seiner Taten vereinigte. Diesen Text nennt man Evangelienharmonie, weil er im Gegensatz zu den späteren vier Evangelien noch einen harmonischen ungeteilten Ablauf darstellt.
Ein gewisser Tatian soll der erste Autor dieses wahren Evangeliums gewesen sein, und wie sein Name und die wenigen erhaltenen Reste nahelegen, war es in Latein geschrieben. Die herumgebaute Legende sei kurz erwähnt: Der Ostsyrer Tatian sei in Rom durch Justin, den Märtyrer, zum Christentum bekehrt worden. Er kehrte dann im Jahre 172 nach Syrien zurück und gründete dort völlig unlogischerweise die gnostische Sekte der Enkratiten. Für diese schuf er seine Evangelienharmonie, indem er die damals angeblich schon existierenden vier Evangelien zu einem einzigen zusammenfaßte. Nachdem die Kirche sich dagegenstellte, sammelte sie alle Handschriften ein (über 200 allein im Euphratgebiet im Jahre 453) und vernichtete sie. Zwischen Abfassung und Beginn der Vernichtungsaktion liegen demnach fast drei Jahrhunderte. In dieser Zeit hat sich das Diatessaron, wie man das Buch nannte, im gesamten christlichen Bereich ausgebreitet, denn noch tausend Jahre später gibt es in fast allen Kultursprachen Übersetzungen davon.
Soweit die Legende, die auch von modernen Theologen weiter ausgebaut wird; die Evangelienharmonie des Tatian sei auch in syrischer Übersetzung bis zum 5. Jahrhundert in allen christlichen Gottesdiensten des Orients ausschließlich (S. 184) in Gebrauch gewesen, das heißt, andere christliche Texte waren gar nicht gottesdienstfähig. Leider gibt es keine Abschrift mehr.
Es gibt lateinische und syrische (eigentlich armenische) Übersetzungen, die älter sind als das nicht erhaltene griechische Beweisstück, aber das sind allesamt sehr späte Blätter. Und es gibt auch Gelehrte, die vernünftigerweise behaupten, das Original sei ohnehin in Latein abgefaßt gewesen.
Theologen fanden nämlich heraus, daß ein gewisser Victor von Capua 544 ein solches Tatian-Exemplar gekannt und in seinen berühmten Bibelkodex integriert hat. Dieser Kodex gehörte später dem nicht weniger berühmten Missionar aller Deutschen, Bonifatius, und befindet sich heute in Fulda. Leider hat Victor im letzten Moment den tatianischen Text der Evangelienharmonie durch den Vulgatatext ersetzt. Und so haben wir ihn eben doch nicht, denn der Kodex von Fulda bringt eine Synopse, das ist eine nachträgliche Zusammenfassung der ersten drei Evangelien mit genauen Kapitelangaben, also wohl erst in der Renaissance geschrieben.
Es gibt aber doch echte Evangelienharmonien, und zwar ausgerechnet bei uns, nämlich in Althochdeutsch: da ist der Krist des Otfried von Weißenburg und der Heliand, beide im »9. Jh.« unter der Aufsicht des großen Lehrers Hrabanus geschrieben. Der Heliand sei durch Ludwig den Frommen 830 angeregt worden, wie die nachträglich zugefügte lateinische Vorrede besagt; er sei in altsächsischer Mundart mit Anklängen an angelsächsische Epen abgefaßt. Der Krist des Otfried aus dem Elsaß sei zwischen 863 und 871 vollendet worden, und zwar in oberrheinisch-fränkischer Mundart, erstmals mit Endreim (!). Das Original von Otfrieds eigener Hand (nach anderen nur von ihm korrigiert) liegt heute in Wien, eine wenig jüngere Abschrift, nach seinem Tod verfaßt, in Heidelberg. Die Illustrationen des Originals: Sonne und Mond mit Tüchern zwecks Verdunkelung, dazu Blut, das aus den Fußwunden in einen Kelch fließt, und das INRI über dem Kreuz, das mit seinem Wortlaut nicht in den vorgegebenen Zeitraum paßt, stehen dem Relief der Externsteine sehr nahe, nämlich dem oberen christianisierten Teil (während der darunter dargestellte heidnische Kult mit Drache noch schwach erkennbar ist). So sage ich mir, daß auch der Krist mehrere Jahrhunderte später (als behauptet) geschrieben und gemalt sein muß, vielleicht immer noch etwa gleichzeitig mit den lateinischen und orientalischen Fassungen.
Die Literaturlexika sind sich zwar nicht ganz einig, geben aber doch starke Hinweise auf die viel spätere Abfassung dieses Evangelienbuches, denn so jahrgenau datierbar wie der Krist (867 oder 868) ist »es in der Regel frühestens im 13. Jh. wieder der Fall« (Metzler 1994, S.658). Die Einführung des Endreims kommt mindestens ein Jahrhundert zu früh, eher 200 Jahre, und das Werk hatte weder Vorbilder noch hatte es eine unmittelbare Wirkung auf seine Zeit. Mich macht auch stutzig, daß diese theologische Schrift (sie enthält zahlreiche Textauslegungen, die oft ein enormes Vorwissen erfordern) einer Dame namens Judith gewidmet ist, und zwar ausdrücklich, um anstößige (obszöne) volkssprachliche Dichtung damit zu verdrängen. Auch die Berufung auf den Stil des Vergil, Lukan und Ovid sowie einiger »spätantiker« christlicher Autoren erregt meinen Verdacht, erst recht wenn Beda als Vorbild genannt wird, von dem wir inzwischen mit Sicherheit wissen, daß er viele Jahrhunderte später erfunden wurde. Die Widmung an Luitbert enthält Überlegungen über Wert und Begrenzung der Muttersprachen im Vergleich zu den überragenden Leistungen der Lateiner und Griechen. Alles das klingt nach Renaissance. Tatsächlich taucht das Werk erstmals in einer Liste des Abtes Tritheim (Joh. Tritemius) 1486 auf – und der war ein notorischer Fälscher.
Ab dem 13. Jahrhundert gibt es verschiedene italienische Evangelienharmonien, auch englische, sogar arabische und persische. An ihnen erkennt man den dogmatischen Streit um die zeitliche Begrenzung – ein oder mehrere Jahre – der Wirksamkeit Jesu.
Interessant bleibt die Frage, warum in der Kirche schließlich vier – stellenweise sich arg widersprechende – Evangelien eingeführt wurden, nachdem die Einfach-Fassungen doch schon so gut verbreitet waren. Die Technik der widersprüchlichen Mehrfachbeschreibung eines Vorgangs war schon im Alten Testament erfolgreich durchprobiert worden (doppelte Mose-Bücher, Richter-Könige, Makkabäer). Da gibt es zwei- und dreifache Berichte desselben »geschichtlichen« Vorgangs, denn gerade durch die Verschiedenheit wird der Inhalt wahrscheinlicher. Ein einziges Zeugnis darf keine Fehler enthalten, schon gar nicht, wenn es das Wort Gottes sein soll; aber mehrere Niederschriften können durchaus voneinander abweichen, ohne verdächtig zu sein. Sie bestätigen sich größtenteils gegenseitig und lassen verschiedene Auslegungen zu, was in jeder Hinsicht vorteilhaft ist.
Warum man nun ausgerechnet vier Evangelien schuf, wo doch eine recht große Auswahl bestand, hat uns Irenäus (»gestorben 202« in Südfrankreich; nur lateinisch erhalten) erklärt: Die vier Tiere des Hesekiel (I,10) und der Offenbarung (IV,7) gaben den Anlaß. Darum werden die Evangelisten (schon ab 12. Jahrhundert ?) ebenfalls mit drei Tierköpfen und einem Menschenkopf dargestellt. Historische Gründe für die vier Evangelien, etwa die naheliegende und heute allgemein geglaubte Behauptung, diese wären an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden und dort jeweils zuerst anerkannt worden, kennt Irenäus noch nicht. Ihm kommt es nicht auf geschichtliche Begründung an sondern auf den theologischen Sinn, der in der Schaffung der vier Evangelien gesehen werden muß, nämlich der Bezug auf die Offenbarung des Johannes.


Die Heilige Schrift im Orient

Obgleich natürlich alle ersten Christen Aramäisch gesprochen haben müßten, gab es doch nie eine aramäische Heilige Schrift dieses Christentums. Seltsam. Aramäisch war durchaus eine weitverbreitete Literatursprache, durch Inschriften belegt vom 9. Jh. v. Ztr. bis zur Ausbreitung des Islam (offiziell also anderthalb Jahrtausende lang!) zwischen Kleinasien, Arabien und dem Indus, vor allem auch als Verwaltungssprache des Persischen Reiches.
Zu untersuchen wären nun einige orientalische Übersetzungen des Neuen Testaments, denn sie könnten ja einen »Punkt von außerhalb« bieten, einen Angriffspunkt, der die hier vertretenen Behauptungen aus den Angeln heben könnte.
Da gibt es die Alte Syrische, erhalten in zwei Handschriften, von denen eine als Palimpsest (Überschreibung) aus dem bekannten Katharinenkloster vom Sinai sofort ausscheidet. Daß man dort Zeit hatte, dergleichen herzustellen, ist fraglos. Die beiden Manuskripte wurden zunächst »um 150« datiert, sind aber heute eher bei 300 eingereiht, und das dürfte ebenso willkürlich sein wie die erste Datierung. Sie enthalten noch Anklänge an die Evangelienharmonie, liegen also eher beim 12. Jahrhundert.
Die Peschitta ist die offizielle syrische Bibel, der nur vier katholische Briefe fehlten. Letztere hat ein gewisser Philoxenos in eigener Übersetzung aus dem Griechischen nachgetragen. Die älteste Handschrift stammt aus dem 12. Jahrhundert und enthält auch schon die Offenbarung des Johannes. Der Vorgang der Kanonbildung ist hier direkt ablesbar.
Und die anderen Übersetzungen?
»In Palästina, das im 5. Jh. fast ganz christlich geworden war, war das Griechische die Kirchensprache. Da aber viele Christen diese Sprache nicht verstanden, wurden (laut Aetheria und Euseb) Schriftlesung und Predigt beim Gottesdienst ins Syrische übersetzt.« (bei Hunger, S. 186). Da waren wohl Simultanübersetzer zugange; was wir von Euseb zu halten haben, wurde schon mehrfach angedeutet. Viele seiner Texte können erst in der Renaissance geschrieben sein.
Übersetzungen in das besondere palästinensische Syrisch liegen uns in 3 Auszügen vor, die im 11. und 12. Jahrhundert angefertigt wurden. Sie lassen nach Ansicht der Fachleute sogar noch die Evangelienharmonie als Grundlage erkennen.
Nehmen wir die armenischen Übersetzungen aufs Korn.
Die älteste Handschrift ist keine Evangelienharmonie sondern eine Abschrift mit 4 Evangelien aus dem Jahre 887. Da die armenischen Datierungen nicht fehlerlos an unseren geeicht sind, ist diese Datierung sehr vage. Daß damals schon vier getrennte Evangelien existiert haben sollen, wäre bemerkenswert, aber es geht hier nicht darum, wer sich den Ruhm des Ersten aufs Haupt lädt, sondern ob die völlig unhaltbare These von der Entstehung des Neuen Testaments im 2. Jahrhundert irgendeine Wahrscheinlichkeit hat.
Bisher mußten wir immer fast ein Jahrtausend dazugeben.
Grundlage auch dieser vier Evangelien war – nach Aussagen mehrerer Fachleute (S. 187) – eine syrische Evangelienharmonie, die »bis zum 7. Jahrhundert verwendet« wurde in den armenischen Kirchen. Die Offenbarung nahm man dort leider erst im 12. Jahrhundert in den Kanon auf.
Die Georgier schufen sich ihre Übersetzungen nach den armenischen Texten, die ältesten Handschriften stammen aus den Jahren 897, 913 und 955. Die Offenbarung wurde 978 übersetzt, aber nie in den Kanon aufgenommen.
Ägypten ist schließlich eins der ältesten christlichen Länder. Die früheste koptische Übersetzung in Nordägypten stammt von 889. Man muß auch hier meist 40 Jahre im Schnitt dazurechnen, um einigermaßen Anschluß an die europäischen Jahreszahlen zu gewinnen. Das wäre etwa 930.
Aber die Wissenschaftler glaubten bis vor kurzem noch an Originale um 200-250, heute sind sie auf »das 5. und 7. Jahrhundert« (S. 189) als Übersetzungszeit gekommen. Da haben sie noch einen weiten Weg zur echten Geschichte vor sich.
Die oberägyptischen Papyri-Bruchstücke sollen sogar die älteren sein, aber so genau weiß es keiner. Wie könnte man auch solche Bruchstücke datieren?


Bibellatein

Von der lateinischen »Übersetzung« (S. 190) der Bibel, die meines Erachtens der Urtext ist, gibt es zwei Gestalten, die Itala (heute Vetus Latina = Alte Lateinische genannt), und die Vulgata des Hieronymus. Die ältere, Itala, ist in Afrika entstanden, »wohl noch vor 200« (S. 191). Es gibt aber nur zwei Handschriften, in denen keine Zensur seitens der Vulgata erkennbar ist, nämlich den Kodex von Turin aus dem 5/6. Jahrhundert und den Kodex Palatinus aus dem 5. Jahrhundert, der seit 1919 in Trient aufbewahrt wird. Sie sind beide mit späten Einschüben vermengt, so daß die Datierung kaum haltbar scheint. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Vulgata des Hieronymus bereits durchgesetzt, auch wenn er den Kampf seiner Übersetzung gegen die ältere Form in einem Brief an Papst Damasus schon »voraussagt« (S. 193). Außerdem wurde er schon zu Lebzeiten dermaßen raubkopiert, daß er sich gegen allzu entstellende Varianten seiner Übersetzung heftig zur Wehr setzen mußte. Und Cassiodor, der 570 starb, hatte schon Mühe, den echten Vulgata-Text wieder zu rekonstruieren. (S. 194). Ob das nicht nachträgliche Gedanken sind? Aber auch heute ist man nicht sicher, wie der wirkliche Vulgata-Text aussah. Nur soviel ist sicher: Der im 16. Jahrhundert durch die Kirche erstellte Text ist vage und ungenau, womit er an allen strittigen Stellen der Diskussion aus dem Wege geht. (Rönsch, S. 11)
Die Itala, die als Einzelexemplar in Nordafrika entstanden sein soll, lag jedenfalls davor. Sie wurde Augustin zufolge schon vor 396 in die italienische Volkssprache übersetzt. Daß diese Itala fast nur in Palimpsesten ab dem 8. Jahrhundert erhalten ist und sogar noch später, im 13. Jahrhundert, abgeschrieben wurde (der Purpurkodex Gigas in Stockholm), steht in glattem Widerspruch zu der Behauptung, daß sich die Vulgata des Hieronymus – wenn auch unter Streitigkeiten – sehr schnell durchgesetzt habe. Die Rechtschreibung dieses Volkslateins ist auch eher germanisch als afrikanisch beeinflußt, aber darüber macht sich nur ein Fachmann Gedanken. Und diese ergeben, daß die Itala sehr spät geschrieben wurde.
Gerade will ich dieses Manuskript zum Druck geben, da erlebe ich etwas, das mich in Zweifel stürzt. Anläßlich der Wiedervereinigung der beiden Preußischen Staatsbibliotheken in Berlin gab man am 9. 6. 1998 einen Festakt, bei dem für zwei Stunden einige der kostbarsten Handschriften des Abendlandes ausgestellt waren. Die illustrierte Doppelseite aus der Itala (»4./5.Jh.«, Ms. Theol. Lat. fol 485, 2 r) war 1986 in Ost-Berlin zuletzt gezeigt worden. Da sieht man Szenen aus dem Leben Sauls in einmaliger Meisterschaft dargestellt, typisch für das spätantike Rom, wie sie vielleicht auch in der Renaissance kein Maler hätte nachahmen können. Es gibt kein einziges paralleles Beispiel einer derart illustrierten alten Bibel im Abendland. Auf der Rückseite sind einige Zeilen des Itala-Textes erhalten. (Außer diesem Bruchstück besitzt die Staatsbibliothek noch eine weitere Doppelseite).
Meine Zweifel an der Datierung, die ich der zuständigen Dame sofort vorbrachte, wurden beiseite geschoben. Es gibt einen Berg von Werken über dieses einmalige Exemplar; drei Generationen von Wissenschaftlern haben sich damit beschäftigt und kennen jede Faser dieser beiden Pergamente. Sie wurden nämlich 1875 im Quedlinburger Dom als Einbandmaterial der Stiftsakten entdeckt und vorsichtig abgelöst. Die in den Bildern lesbaren Bezeichnungen von Saul (nicht Saulus), dem Chor der Propheten, Soldaten und Hirten usw. werden als Anweisungen für den Maler erklärt. Sie seien also nicht nachträglich eingetragen, sondern vorher hingeschrieben und durch die schwachen Temperafarben nicht völlig verdeckt worden. Auch so kann man Zusätze deklarieren.
Es scheint also Sitte gewesen zu sein, daß man uralte Texte als Bucheinband oder Rückenfutter verwendete? »Das zwar nicht, aber es kam vor.« Mönche hätten in Quedlinburg aus Mangel an Pergament eine illustrierte Bibelhandschrift, die damals etwa tausend Jahre alt war, zum Buchbinden verwandt, und zwar mit der Bildseite nach innen, so daß die Heiligen Worte außen lagen und durch häufige Benutzung abgegriffen wurden, aber aus den wenigen Worten noch als Itala erkennbar sind.
Angesichts der bestens erhaltenen Temperafarben frage ich mich nun, welcher Künstler des 19. Jahrhundert eine derart perfekte Illustration schaffen konnte.


Kanonbildung

Im Mittelalter (schreibt Metzger 1993, S. 228), »bleibt der Kanon an seinen Rändern in gewisser Weise elastisch.« Die gewundene Sprache dieses besten aller lebenden Kanon-Fachmänner zeigt schon, worauf es hinausläuft. »Erst auf dem Konzil zu Florenz (1439-43) bezog Rom erstmalig zum Schriftkanon eindeutig Stellung.« Damals stand die Apostelgeschichte noch nach den Briefen vor der Apokalypse. Sie muß demnach sehr spät geschrieben sein; sie enthielt zunächst ein Zwölftel mehr Text als heute (S. 248). Lukas, der sie verfaßte, kannte zwar Paulus persönlich, aber nicht dessen Briefe. Diese haben auch ganz eigenartige Schicksale durchgemacht, wurden ständig hin- und hergeschoben und mal geliebt, mal abgelehnt. Der Laodicäerbrief des Paulus, der nach Fachleuten neun Jahrhunderte quasi als Wort Gottes gegolten hatte, wird nun aussortiert. Wieso nur 9 Jahrhunderte, wenn er im 1. Jahrhundert (nämlich durch Paulus) geschrieben wurde und im 15. aussortiert wird? Weil man ihn erst aus dem berühmten Kodex von Fulda von 546 kennt.
Und das besagt, daß auch dieser so wichtige Bibel-Kodex Fälschungen enthält.
Aufklärende Theologen wollten ja schon damals, im 15. Jh., die unlösbaren Probleme der Glaubenslehre vereinfachen, indem sie zahlreiche Briefe des Paulus aus dem Kanon ausschieden. Ich nenne nur Jakob Thomas von Gaeta und Erasmus von Rotterdam. Am Ende widerriefen sie ihre kühnen Entwürfe. Nicht aus besserer Einsicht sondern aus Angst. (S. 230). Erst Luther nimmt sich da mehr Freiheiten heraus, wenn auch nicht allzu viele. Seine Schriftgläubigkeit ist fast noch penetranter als die Traditionstreue der römischen Kirche.

Handschriften

Eine auffällige Technik sind die zahlreichen Interpolationen, das sind eingeschobene Verse zum Zwecke der Legitimierung neuer Dogmen. Sie sind schon in den ältesten Handschriften enthalten, also »schon lange vor dem Jahr 1000 bezeugt«, was nicht sein kann, weil die Motivierung zu diesen Einschüben erst viel später auftrat. Die jeweiligen Handschriften können nicht älter sein als die notwendige Interpolation.
Über diese uralten Manuskripte, die Kodizes, gibt es oft fantastische Auffindungsszenarien. Nehmen wir einmal die Didache, eine Art Vorschrift für die Kirchenbeamten, (siehe Wengst 1984), die zwar heute nicht mehr zum Bibelkanon gehört, aber doch bis zum ausgehenden Mittelalter davon nicht ausgeschlossen war. Mehrere »Kirchenväter« – und das heißt stets: in den Anfängen der Kirche, sagen wir »2.- 4. Jahrhundert« – haben sie zumindest als Titel erwähnt. Der heute benützte einzige erhaltene Text, der Jerusalemer, ist angeblich 1056 geschrieben und 1873 in Konstantinopel gefunden und vier Jahre später nach Jerusalem (daher der Name des Kodex) gebracht worden.
Ich denke, daß die Didache vor dem Zeitpunkt ihrer Niederschrift (11. Jahrhundert) noch gar nicht existierte. Durch interne Kirchenkämpfe wurde sie im 15. Jahrhundert wieder aussortiert. Zur Stützung der Echtheit soll auch ein griechischer Kodex aus dem 13/14.Jh. in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Konstantinopel gefunden worden sein, und zwar in einer Fischhandlung, wo die Blätter als Einwickelpapier für die Fische verwendet wurden (was erklärt, warum nicht mehr alle Seiten des Kodex vorhanden sind). Muß ich jetzt anführen, daß einfache Leute wie Fischverkäufer eine grenzenlose Hochachtung vor dem geschriebenen Wort hatten und daß man Papyrus oder Pergament niemals zum Einwickeln von Alltagsgegenständen verwendete, weil es dafür nicht geeignet ist, oder soll ich diese Lüge in anderer Hinsicht lächerlich machen? Etwa mit der seltsamen Begleitgeschichte dieses Kodex: Er gelangte über mehrere Stationen 1580 ins Kloster Maursmünster im Elsaß (ich würde sagen: dort wurde er hergestellt), kam dann 1793 oder 1795 in die Staatsbibliothek Straßburg, verbrannte dort 1870 beim Preußensturm (zum Glück, sonst hätte man inzwischen die Fälschung erkannt), konnte aber dennoch gedruckt werden, da schon 1843 in Jena eine erste gedruckte Auflage erschienen war (wieso eigentlich so spät?). Es soll aber auch drei humanistische Abschriften von 1579 an gegeben haben, und sogar einen Druck 1592. Mit den Nachweisen hapert es leider.
In diesem Jerusalemer Kodex von 1873, der im 11. Jahrhundert geschrieben sein soll, ist auch der Barnabasbrief enthalten. Dieser liegt sonst nur im Codex Sinaiticus vor, der ja schon als verdächtig gebrandmarkt wurde. Es gibt dann noch einige Fragmente desselben Briefes, die entsprechend alt sein sollen. Das beste Bruchstück enthält 6 Verse von Kap. 9; auch Klemens von Alexandrien soll ihn zitiert haben, doch diesen Mönch kennen wir schon als Romanfigur.
Dann gibt es modernisierende lateinische Übersetzungen der Didache aus dem 10. Jahrhundert in Nordfrankreich, aber wenn man diese Dokumente untersuchen könnte, würde man den Schwindel sicher bald entdecken.
Die Didache kennt nämlich das Matthäus-Evangelium, und das ist vermutlich nicht vor 1050 geschrieben worden. Insofern dürfte die Jahresangabe im Jerusalemer Kodex, die 1056 AD ergibt, durchaus akzeptabel sein.

Die anderen »nichtkanonischen« Schriften, der 2. Klemensbrief, den schon Euseb »bezeugt«, und die Schrift an Diogenet, sind noch leichter als Erzeugnisse des 11. Jahrhunderts erkennbar. Es gibt auch noch einen 3. Klemensbrief, der ist 1170 in Syrien geschrieben und dort ans Evangelium angefügt worden.
Seit dem 17. Jahrhundert weiß man in Theologenkreisen, daß die Briefe des Ignatius und Klemens usw. Fälschungen sind. Dennoch werden sie in Büchern für Laien wie göttlich inspirierte Erbauungsschriften angepriesen (siehe auch Detering S. 91 f.).
Diese »Briefe« sind eigentlich Predigten; sie tragen auch noch Anfügungen von fremder Hand, um sie echter erscheinen zu lassen. Aber allein schon von der Form her handelt es sich weder bei denen in der Offenbarung noch bei all den anderen genannten, auch nicht bei denen des Paulus, um wirkliche Briefe.
Paulus schießt mit einem Echtheitshinweis den Vogel ab: Er beteuert in seinem Brief an die Galater (6,11), daß er eigenhändig mit »großen Buchstaben« geschrieben habe, also in Majuskeln, um die Echtheit zu unterstreichen. Aber der wichtigste Kirchenschriftsteller der zweiten Hälfte des 2. Jh., Justin, weiß noch nichts von den Paulus-Briefen. Dann ist es gleichgültig, ob sie in Majuskel oder Minuskel geschrieben sind.
Einen Anhaltspunkt kann das Schriftbild ausnahmsweise doch einmal geben: Wir wissen, daß die arabischen Ziffern erst im 12. Jahrhundert in Europa verwendet werden, dennoch gibt es lateinische Manuskripte mit westarabischen Ziffern, die ins 10. Jahrhundert datiert werden (Bischoff 1979). Wenn wir Geschichte schreiben wollen, müssen wir die Datierung dieser Manuskripte in Frage stellen.
Auf der vorhin erwähnten Festausstellung in Berlin lag neben der Itala-Seite ein Pergamentblatt von Vergils Georgica, in Monumentalschrift (»5. Jh.«), die »nur kurze Zeit für Bücher verwendet wurde, sonst nur auf Steininschriften«. Wiederum handelt es sich um ein einzigartiges und einmaliges Exemplar.
Abgesehen von derartig seltsamen Anstoßpunkten sollte eine vernünftige Kritik möglichst vom Inhalt ausgehen, wenn man ein Manuskript einordnen will. Hierzu noch ein Beispiel: An der Gestalt des Judas Ischariot läßt sich viel über die Mentalität der Autoren ablesen. Judas wird stellvertretend eingesetzt für alle Juden, die den Gottessohn ermordet haben. Dabei spielen Opfersprüche eine Rolle, wie der, daß es besser sei, wenn einer stirbt, als daß das ganze Volk verdirbt. Der Auserwählte ist eine Art Tageskönig, eine theatralische Gestalt, dem wie ein Opferbegleiter Judas beigegeben wird. Hier ist die Übernahme orientalischen Gedankengutes und zugleich die Abgrenzung dagegen zur Dramatik hochstilisiert. Aus dem klassischen Opferbegleiter wird das Begleitopfer skythischer Totenrituale, aus dem Judas des Kusses wird Judas, der Selbstmörder. Wenn wir den soziologischen Hintergrund des 11. Jahrhunderts heranziehen, die ersten Judenverfolgungen in den rheinischen Städten, wird das makabre Judas-Drama durchsichtig.
Außer den schon genannten Manipulationen ist noch eine weitere sehr auffällig: die gegenseitigen Zitierungen. Gerade das nämlich, daß ein antiker Autor einen anderen kannte, ihn fortsetzte und über ihn schrieb, ist die Ausnahme in der echten Literatur, soweit überhaupt welche vorhanden ist.
Ein typisches Beispiel: Josephus schreibt in seinen Jüdischen Altertümern (20, 7, 2) über den Statthalter Felix und den Magiker Simon; die Angaben werden durch Tacitus (Historien, V, 9) bestätigt und dann in der Apostelgeschichte (24, 24-26) weiter ausgesponnen. Solche Kreuzverweise sind nicht nur äußerst verdächtig, sondern werden lächerlich, wenn Autoren wie Josephus und Tacitus, die ja den Heiligen Lukas der Apostelgeschichte »stützen« sollen, ins Loch der Fälschungen gefallen sind.
Die gegenseitige Bestätigung von kirchlichen Texten ist allerdings nur bruchstückhaft durchgeführt worden. Anfangs wußte man ja auch gar nicht, was man da bestätigen sollte, denn zuerst existierten ja gar keine derartigen Schriften. Man schuf oft Leerstellen zum Einfügen, von denen einige auch später nie geschlossen wurden, wie zum Beispiel die Listen von Werken der Kirchenväter, die nie ausgefüllt wurden. Es heißt dann, die Werke seien verloren gegangen. Das wäre möglich, ist aber dennoch nicht glaubwürdig.

Wulfilas-Bibel

Als Einwand gegen die späte Abfassung des Bibeltextes wird auch die WulfilasBibel angeführt. Sie soll ja schon im 4. Jh. bei den Goten benützt worden sein. Nach neuesten Erkenntnissen ist dies nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie wurde wahrscheinlich gegen Ende des 30-jährigen Krieges im Auftrage der Kirche erfunden und zwar mit Hilfe einer fast verschollenen Sprache, des Krimgotischen, das gerade kurz vorher von einem französischen Sprachforscher auf seiner Reise zur Krim entdeckt und dokumentiert worden war. Die Kirche unternahm im 19. Jh. noch einige schwache Versuche, den sogenannten Silbernen Kodex, der heute in Upsala aufbewahrt wird, als Original zu beweisen, aber wer die Fälschungsaktion kennt, der erkennt sogleich die typischen Schritte, die dabei unternommen wurden, und kann sie entkräften.
Der Grund für diese raffinierte Fälschung ist wiederum die Notwendigkeit, vor der die katholische Kirche steht, ein Christentum im 4. Jh. zu beweisen, und sei es auch ein exotisches und arianisches. Die Schöpfung der Wulfilas-Bibel ist einfach genial. Niemand käme auf die Idee, daß die Kirche sich selbst ihre Ketzer schafft, und erst recht würde kein germanophiler Skandinavier sich den Vorteil so frühen gotischen Christentums unter dem Hintern wegziehen. Damit ist das hohe Alter der Kirche schon bewiesen. Die besten Akademiker, selbst Atheisten, bestehen darauf.




INHALT DES GANZEN BUCHS

Vorwort


Programm


Kapitel 1: Die zerbrochene Jahreszählung


Abschnitt 1: Seit Erschaffung der Welt
Abschnitt 2: Beginn der christlichen Jahreszählung: Regino von Prüm
Abschnitt 3: Die spanische ERA
Abschnitt 4: Das magische Jahr Tausendeins
Abschnitt 5: So wird eine Epoche geschaffen
Abschnitt 6: Die Entlarvung der spanischen ERA
Abschnitt 7: Der geniale Regiomontanus

Kapitel 2: Ist eine absolute Chronologie möglich?

Abschnitt 1: Warven, Ablagerungsschichten in schwedischen Seen
Abschnitt 2: Die Radiokarbonmethode verändert unser Geschichtsbild
Abschnitt 3: Ist die Karbonbestimmung wissenschaftlich?
Abschnitt 4: Sind Eisschichten datierbar?

Kapitel 3: Die Präzession als Zeitmaßstab

Abschnitt 1: Die Wanderung des Frühlingspunktes als Zeitberechnungsfaktor
Abschnitt 2: Wer schrieb das Almagest?
Abschnitt 3: Die neue Lösung: Der Zeitabstand stimmt nicht
Abschnitt 4: Finsternisse im Mittelalter
Abschnitt 5: Resignation?

Kapitel 4: Der Hebel von außen

Abschnitt 1: Die Frankengeschichte des Persers Raschid
Abschnitt 2: Das heidnische Königsbuch der Perser
Abschnitt 3: Der Sieger Mahmud
Abschnitt 4: Die Eroberer Indiens und ihre Zeitzählung
Abschnitt 5: Der Streit der Parsen in Indien
Abschnitt 6: Die Randgebiete Japan und Tibet
Abschnitt 7: Rom in China
Abschnitt 8: Chinesische Astronomie
Abschnitt 9: Geschichtsschreibung der Tang-Dynastie

Kapitel 5: Ausbreitung des Islam

Abschnitt 1: Im Kernland des Islam
Abschnitt 2: Verschiebung zweier Zeitskalen
Abschnitt 3: König Geiserich, der Eiferer
Abschnitt 4: Die rätselhaften Imasiren
Abschnitt 5: Gleichsetzung
Abschnitt 6: Der purpurgeborene Kaiser von Byzanz
Abschnitt 7: Wikinger oder die Emporien des Nordens
Abschnitt 8: Die Geburt des Fegefeuers
Abschnitt 9: Der Zeitsprung der Siebenschläfer

Kapitel 6: Wann entstand unsere Bibel?

Abschnitt 1: Das Alte Testament
Abschnitt 2: Neues Testament
Abschnitt 3: Mysterienspiele
Abschnitt 4: Annäherung
Abschnitt 5: Die Texte

Kapitel 7: Die Werkstatt der Humanisten

Abschnitt 1: »Renaissance«
Abschnitt 2: Roswitha von Gandersheim, die deutsche Nonne
Abschnitt 3: Der erotische Esel des Apuleius
Abschnitt 4: Tacitus und seine Germania
Abschnitt 5: Marc Aurel, der christliche Kaiser
Abschnitt 6: Die großen Fälscher
Abschnitt 7: Der Fundamentalist Erasmus von Rotterdam
Abschnitt 8: Die fabulöse Geschichte des Higuera

Kapitel 8: Bereinigung

Abschnitt 1: »Le dénicheur de saints«
Abschnitt 2: Harduinus
Abschnitt 3: Der Jesuit Germon
Abschnitt 4: Die Bollandisten
Abschnitt 5: Neue Ansätze in unserer Zeit
Abschnitt 6: Der Sprachforscher Baldauf
Abschnitt 7: Kammeiers Begriff der »Großen Aktion«

Kapitel 9: Chronologenprobleme

Abschnitt 1: Chronologiearbeit
Abschnitt 2: Weitere Gesichtspunkte zur Geschichtsrekonstruktion
Abschnitt 3: Vorwärtsstrategien?

Neue Aufgaben

Literatur


Stichwortverzeichnis


Uwe Topper als Katastrophist