Alfred Tamerl, "Hrotsvith von Gandersheim: eine Entmystifizierung", Mantis Verlag, 1999, 328 S.

Eine Buchbesprechung

Bad Gandersheim ist eine alte Stadt mit Fachwerkhäusern im Kreis Northeim, Nordsachsen. Sie herbergt eine ehem. Stiftskirche (1172 ?!?) und eine Abtei (gegr. 852 ?!?). Hier soll im 10. Jh. die Äbtissin Hrotsvith (Hrotsvitha, Roswitha von ) Gandersheim (um 935 - um 975) gelebt und gewirkt haben (weiter kurz HvG). In jeden Lexikon kann man nachlesen, dass sie hier zuerst Heiligenlegenden in gereimten Distichen und Hexametern verfasste, später aber durch sechs nicht für die Bühne geschriebene Dramen besonders berühmt wurde. Ihre in viele Sprachen übersetzten Gedichte sollen Otto I gefeiert und Anfänge des Klosters Gandersheim beschrieben haben.

Nun wusste niemand bis Ende des 15. Jh. ihren Namen, obwohl sie in ihren Werken behauptete, dass sie viel gelesen wurde. Und trotz aller Legenden um HvG wusste der Wiener Historiker Joseph Ritter von Aschbach (1801-1882) im Jahr 1867 zu behaupten, dass der angebliche Wiederentdecker von RvG Conrad Celtes (kurz CC) in Wirklichkeit der Erfinden (d.h. der Fälscher) von RvG war. Man kann darüber ausführlich im Buch von Uwe Topper "Große Aktion. Europas erfundene geschichte. Die planmäßige Fälschung unserer Vergangenheit von der Antike bis zur Aufklärung", Tübingen, 1998 nachlesen. Trotzdem wird RvG weiterhin (und auch heute noch) auf einer nicht besonders logisch erscheinenden, aber dafür sehr gelobten Stelle in der Geschichte der deutschen Literatur als die erste deutsche Dichterin geführt.

Anhand der zahlreichen Lebensläufe der HvG kann man zeigen, daß es keine einheitliche Darstellung eines Lebenslaufes der HvG gibt. Im allgemeinen wird auch die Auffassung vertreten, daß selbst über das 15./16. Jh. nichts an wirklich quellentauglicher Literatur über RvH vorhanden ist.

Der Autor des zu besprechenden Buchs "geb. 1942, lebt in Schönwies/Tirol, Studium der Germanistik und Anglistik, kulturhistorische Publikationen" vertritt die These, daß HvG keine wirklich existierende Person des 10. Jh. war, sondern im 15. Jh. von CC unter Mithilfe – und das ist neu in der ganzen Geschichte - von Caritas Pirckheimer erschaffen wurde. CC wollte damit dem Hochmut italienischer Gelehrter des 15. Jh. Einhalt gebieten und den Beweis antreten, daß die deutsche Literatur der italienischen zumindest ebenbürtig sei. Als Grundlage für die Hineinziehung von Caritas Pirckheimer in die literarisch-kriminalistische Analyse ist die Tatsache, dass nach intensiver Analyse festzustellen gelingt, daß die Werke von HvG in der Tat von einer Frau verfaßt worden sein müssen.

Welche Frau des 15. Jh. wäre in der Lage gewesen eine solche Leistung zu erbringen? Nach intensivem Quellenstudium ist der Autor auf eine außergewöhnliche Frauengestalt des 15. Jh. aufmerksam geworden, die einzig und allein imstande war, die Werke der HvG zu verfassen: Claritas Pirckheimer (weiter kurz CP), die Schwester des Humanisten Willibald Pirckheimer und Verwandte von CC.

Anhand der Familiengeschichte der Familie Pirckheimer kann man darlegen, daß aufgrund der im Hause Pirckheimer gepflegten Traditionen Claritas sehr wohl in der Lage gewesen war, sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, die sie befähigt haben, HvG's Werke zu verfassen. Wollte eine Frau der damaligen Zeit zum einem dem herrschenden Gebärzwang ausweichen und zum anderen sich Bildung aneignen, so gab es für sie nur die Möglichkeit, den Schleier zu nehmen, sprich die klösterliche Laufbahn einzuschlagen. Der Lebenslauf der CP zeigt, daß sie sich dieser Aufgabe mit Erfolg, Ausdauer und Konzentration gewidmet hat. Sie wird schließlich zur Äbtissin des Konvents, in das sie eingetreten ist. Da es allerdings für eine Frau in der franziskanischen Vorstellung keinen Platz in der Öffentlichkeit gab, vor allem wenn diese sich wissenschaftlich betätigten und sich Bildung aneigneten, konnte CP nicht ohne weiteres - auch aufgrund der strengen Ordensregeln - an die Öffentlichkeit treten, um ihrem schriftstellerischen Talent freien Lauf zu lassen. Das Verbindungsglied zu CC war ihr Bruder Willibald Pirckheimer, der als Humanist zum engsten Kreis des sogenannten Erzhumanisten CC gehörte.

CC machte sich einen Namen mit der Entdeckung der Werke der HvR 1493 im Koster von St. Emmeram. Auffällig ist, daß nur dieser eine Kodex gefunden wurde, weitere Werke existieren nicht. Was danach entdeckt wurde, entpuppte sich als Fälschung. Des weiteren beachtenswert ist die Tatsache (und hier beginnt sich der Kreis zu schließen), daß der damalige Abt des St. Emmeraner Klosters, Johannes Trithemius, ein enger Freund des großen Erzhumanisten war und posthum ebenfalls als Fälscher entlarvt wurde.

Nach dem, was wir über die massenhafte Produktion "antiker" Werke durch italienischen Humanisten wissen, erscheint der deutsch-humanistische Gegenschlag so ziemlich bescheiden. Und wenn schon die Fälschungen der ausgedachten "altgriechischen" und "altrömischen" Schriftsteller weiterhin als historische Quellen und literarische "antike" Klassik in der ganzen Welt geführt werden, wieso sollte die deutsche Literatur auf ihre einzige große – auch wenn erdichtete – Dichterin aus dem "barbarischen" 10. Jh. verzichten.

Herausgabe des Buchs von A. Tamerl in der Serie "Fiktion dunkles Mittelalter" bedeutet für den Verlag Mantis einen Schritt in die richtige Richtung. Das Buch ist ein guter Beweis für die These von der massiven Fälschung der Quellen in der Renaisance-Zeit. Und diese Fälschungen sollten nicht nur die Jahre 614-911 mit ausgedachten historischen Substanz füllen.

(Eugen Gabowitsch, Susanne M. Rueppel)