Eugen Gabowitsch

Indien als eins von vielen Ländern der Welt, welche keine europäische Geschichtsidee entwickelt haben.

Angelika Müller beginnt ihren Artikel "Geschichtloses Indien?" (Synesis, 1/2002) mit der Erwähnung eines Klassikers der Chronologiekritik, Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohns, den auch ich sehr als einen der führenden Vertreter der deutschen Geschichtskritik schätze.

Nun, muss man wirklich, um die Tatsache zu betonen, dass in Indien zahlreiche alte Bauwerke stehen und Ausgrabungen vorgenommen wurden, sich auf Heinsohn beziehen? Und dabei nur ein Werk von Heinsohn (Was ist Antisemitismus) erwähnen? Was hat Antisemitismus mit indischer Geschichte zu tun? (Ich schließe nicht aus, dass es einfach ein Lapsus gewesen ist, aber leider kann man streng genommen so und nur so die geehrte Autorin verstehen).

 

Land ohne Geschichte ist nicht unbedingt ein Land ohne Kultur. Wissen wir ohne Heinsohn nicht, dass in Indien alte Bauwerke noch zu finden sind? Mir scheint, dass sogar die Bilder, die meinen Artikel "Die Misere der indischen Chronologie" illustriert haben, Beispiele solcher Werke präsentieren (Bilder S. 20, 21, 22, 23, 24). Auch die Ergebnisse einiger Ausgrabungen habe ich mit Bildern (S. 19) illustriert.

Zu wissen, dass A Müller keine Anhängerin der These ist, "wonach der größte Teil des Altertums ins 13.-15. Jh. gehört", ist selbstverständlich ungeheuer wichtig für alle, die sie noch nicht ausreichend als Autorin kennen. Sie hat nur vergessen zu betonen, dass noch weitere 6 Milliarden Menschen diese These keinesfalls unterstützen (und sogar nicht kennen). Was beweist das? Dass die These falsch ist? Zum Glück wird die Wahrheit nicht durch Massenabstimmung festgestellt.

In dieser Allgemeinheit hätte ich vielleicht doch in der Beschreibung dieser These von der Zeit nach 1000 u.Z. und bis ca. 1800 gesprochen (auch noch im 18. Jh. wurden "unangenehme" Ereignisse der nahen Vergangenheit in die mittelalterlichen und sogar "antiken" Jahrhunderte verbannt; solche Beispiele liefern uns Rußland und China). In [1] habe ich nur folgendes geschrieben: "Wie wir heute mit großer Sicherheit wissen, lebten die "antiken" Griechen im 13.-15. Jh. nach Chr.." Zwischen den ""antiken" Griechen" und dem größten "Teil des Altertums" liegt doch ein nicht unerheblicher Unterschied!

Wenn man gegen meine "antiantike" These ist und das auch noch im Rahmen der allgemeinen Chronologiekritik, dann sollte man sachliche Argumente und nicht Glaubensbekenntnisse präsentieren (wie sich unterschiedliche Modelle der Chronologiekritik hier auswirken, werde ich später zeigen). Aber in Wirklichkeit geht es in [2] in erster Linie um Indien und die wenig bekannte Tatsache, dass Indien keine Geschichtsschreibung außerhalb der reinen Literatur entwickelt hat. Unterstützt nun Frau Müller diese These oder nicht? Sie sagt NEIN (und nennt ein Beispiel nicht weit von Indien dazu: Ceylon) und bringt viele Zitate, die ganz klar JA sagen.

Viele Chronologiekritiker sind noch nicht imstande, diese letzte These von einem geschichtslosen Indien zu akzeptieren. Nicht einmal richtig zu verstehen, was man eigentlich damit behauptet. Ich weiss nicht, ob Müller klar sieht, um was es dabei geht (ihre Bemerkung über die Stratigraphie läßt mich vermuten, dass sie das nicht ganz versteht). Und trotzdem spricht praktisch jeder moderne Historiker des indischen Subkontinents darüber. Nur, dass diese Historiker nicht ahnen, wie wichtig diese Aussage für die Chronologiekritik sein kann: sie zeigt, dass die europäische Idee der Geschichte keine Selbstverständlichkeit darstellt.

Das einzige Buch [3], das Müller ausgiebig zitiert, untermauert meine These von der fehlenden indischen Geschichte fast in jedem Satz:

Indien zeigt ... keine Geschichtsschreibung (S. 38)

In Indien ... so gut wie keine historische Literatur (S. 39?)

Eben dieses Postulat falsch ist (das eine Hochkultur unbedingt eine Geschichtsschreibung entwickelte) (S.39?)

Im indischen Kulturbereich eine eigene Geschichtsschreibung ... nicht gab (S. 39), u.s.w., u.s.f.

Ceylon zuerst auszuklammern. Hätte Müller ihren Artikel "Geschichtloses Ceylon?" betitelt, hätten wir vielleicht Grund gehabt, über die Geschichtsschreibung dieser Insel uns zu unterhalten. Aber sie stellt die Frage, die einen direkten Bezug auf meinen Artikel [1] nimmt. Und auf die entsprechende Frage aus ihrem Titel kann ich nur eine Antwort wiederholen: Ja, Indien war geschichtslos! Diese Hochkultur, dieses herrlich vielseitige Universum von zahlreichen Völkern und Religionen, von Sprachen und "Rassen" benötigte keine Chronologie und keine Idee der Geschichte im europäischen Sinne.

"Wenn wir von Geschichte Indiens und von indischer Chronologie sprechen, dann verstehen wir unter Indien den indischen Subkontinent, das Land, wo sich heute die Republiken Indien, Pakistan und Bangladesch befinden, um die Grenzen Indiens grob zu ziehen. Das sind etwa vier Millionen Quadratkilometer: eine durchaus mit ganz Europa vergleichbare Fläche." So habe ich die Grenzen meiner Studie in [1] definiert. Und wenn man schon durch die lokalen Ausnahmen die oben formulierte "antihistorische" These bestreiten will, dann sollte man nach Kaschmir und nicht nach Ceylon gehen. Immerhin liegt Kaschmir in den hier beschriebenen Grenzen und dabei noch nah genug zum europäischen Raum, um früh genug die europäische Geschichtsidee kennen gelernt zu haben.

Über Ceylon habe ich nicht extra nachgeforscht, obwohl ich betont habe, dass einige Autoren Ceylon zum indischen Kulturkontinuum zählen. Darum kann ich hier nur ganz kurz vermerken, dass Ceylon zu den ersten Gebieten des erweiterten indischen Kulturkreises gehörte, wo die Europäer landeten. Und Anfang des 16. Jh. hatten die europäischen Eroberer, Missionare und Händler schon die unselige europäische Idee der Geschichte mit sich geschleppt.

Und überall, wo sie ankamen, versuchten sie eine lange Geschichte auszumachen, am liebsten eine solche, die die biblischen Märchen bestätigen. Wo die Höflichkeit der Einheimischen nicht erlaubte, diesem europäischen Unsinn Paroli zu bieten, dort haben wir heute überall eine Geschichtsschreibung im europäischen Sinne (Eine durchdatierte Herrscher- und – seltener – Ereignisbeschreibung). Also hätte ich der heutigen ceylonesischen Geschichtsschreibung für die Zeit vor 1500 a priori keinesfalls Vertrauen geschenkt.

Auch an der Geschichtsschreibung für Birma muss man zweifeln. Übrigens, aus all dem, was Müller zu Ceylon schreibt, kann man nur Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Geschichtsschreibung für Ceylon schöpfen. Von dem gleichen Zweifel kann ich im Falle eines anderen Landes am Rande des indischen Kulturkreises berichten: Miamar oder Birma.

Wie ich am 1. Dez. 2001 in Moskau auf der 3. Internationalen Tagung zu Problemen der Zivilisation berichtete; kann man die birmanische Geschichte des 1. Jahrtausends nach Chr. um mehrere Jahrhunderte kürzen (zu diesem Schluss kam der russische Historiker E.O. Berzin, der - von A.T. Fomenko total unabhängig - Vergleiche zwischen den Herrscherdynastien unternahm und einige als Phantome der späteren bewertete.).

Die nach der entsprechenden "Bereinigung" entstehende kürzere Geschichtsschreibung soll m. E. noch um ca. den Faktor 2 gekürzt werden, weil in ihr der mittlere Abstand zwischen den Generationen der miteinander verwandten Herrscher über 30 Jahre liegt. Das ist schlicht unmöglich und würde bedeuten, dass die birmanischen Herrscher durchschnittlich erst mit ca. 33 Jahren sexuelle Reife erlangten und Kinder kriegten. Die richtige Schätzung soll bei ca. 16-17 Jahren liegen.

Literatur

1. Gabowitsch, Eugen, Die Misere der indischen Chronologie, Synesis, Heft 6/2001

2. Müller, Angelika, Geschichtsloses Indien?, Synesis, Heft 1/2002

3. Bechert, H., Zum Ursprung des Geschichtsschreibung im indischen Kulturkreis, Göttingen, 1969.

4. Berzin, E.O., Südostasien seit ältesten Zeiten bis zum 13. Jh. (Russ.), Moskau, 1995.

5. Heinsohn, Gunnar, Die Sumerer gab es nicht: Von den Phantom-Imperien der Lehrbücher zur wirklichen Epochenabfolge in der "Zivilisationswiege" Südmesopotamien, Frankfurt am Main: Eichborn, 1988

6. Heinsohn, Gunnar, Was ist Antisemitismus? - Der Ursprung von Monotheismus und Judenhaß. - Warum Antizionismus?, Frankfurt am Main: Eichborn, 1988.

7. Heinsohn, Gunnar, Wer herrschte im Industal? Die wiedergefundenen Imperien der Meder und der Perser, Gräfelfing: Mantis, 1993.