Entstehung des Slawentums
Zeitraffung bei der Slawengenese
Uwe Topper
Zuerst veröffentlicht in Zeitensprünge 4/95
Zusammenfassung
Die klassischen (meist griechischen) Schriftsteller kennen nur vier große "Ethnien" als Bewohner des westlichen und nördlichen Europa: Iberer, Kelten, Wenden und Skythen.
Herodot sagt, daß sich Kelten und Veneter in den Sitten nicht unterschieden, jedoch hinsichtlich der Sprache. Wer von einer Sprache rückwärts auf ein Volk oder eine Kulturgruppe schließt, erliegt einem Trugschluß, selbst wenn in Einzelfällen - wie bei den Wandalen unter Geiserich - eine "Völker "-Wanderung historisch belegt ist.
Sprachkonvergenz. Diesen geschichtlichen Überlegungen zum Verhältnis der Begriffe Volk und Sprache möchte ich eine weitere Betrachtung vorausschicken, die zwar ebenfalls oft ausgesprochen wurde, aber immer wieder übergangen wird: Alle Sprachen konvergieren zueinander hin. Mit dem Fortschreiten des Zivilisationsprozesses verringert sich die Anzahl der Einzelsprachen, werden Sprachen raumübergreifend. Alte Sprachen sind zwar wortarm, haben dafür aber eine äußerst komplizierte Grammatik, während moderne Sprachen einfachste Regeln und ein fast unüberschaubares Vokabular aufweisen (man denke etwa an Englisch). Und weiter: Vor der artikulierten, genormten Sprache steht die Bilderschrift, sie erst macht die Sprache zu einem genormten Instrument. Die chinesischen Schriftzeichen sind älter als die chinesische Sprache, sie begründeten sie! Bilderschriften sind sehr kompliziert, erfordern viel Intelligenz, sind aber für verschiedene Sprecher benutzbar (Japaner und Chinesen verstehen dieselben Schriftzeichen, ohne ihre Sprachen wechselseitig zu verstehen). Wenden wir diese Gedanken nun auf das noch immer ungelöste Problem der Entstehung der slawischen Sprachen an.
Die sowjetisierte Slawistik. Carsten Goehrke [1992], Prof. für Slawistik in einem neutralen Land (Zürich), erlaubt sich darauf hinzuweisen, daß die in Rußland durchgeführte Slawenforschung mit Wissenschaft wenig zu tun hat, da sie von den Ansprüchen der Sowjetideologie geprägt ist. Die frühesten Nachrichten über die Slawen stammen von byzantinischen Schriftstellern aus dem 6. Jh.; reichen. Vom 6. bis späten 8. Jh., Im 9. Jh. Slawische Texte begegnen uns erst aus dem 10. Jh., als echte Dokumente zumeist erst aus dem 11.-12. Jh. Byzantinische Quellen
Die älteste Erwähnung der Slawen liegt bei Jordanes vor (um 550). Venedi (Wenden) wurde gerne von lat. vendere =- kaufen abgeleitet, also dem Begriff Sklave angepaßt. Erst im 10. Oder 11. Jh. Die Wenden sind lange in weitem Raum belegt, im 16. Jh. noch in Livland bei Riga, im 18. Jh.
Arabische Quellen. Frühe arabische Texte erwähnen die Slawen (Saqaliba) nur sporadisch, so etwa der Dichter al-Achtal, demzufolge slawinische Legionäre von den Arabern in Syrien Siedlungsraum angewiesen bekamen; oder Ibn A'tham aus Kufa (Ende 9. Jh.), der einen arabischen Feldzug gegen die Chasaren 737 erwähnt, wobei am Slawenfluß (Nähr as-Saqaliba) 20.000 slawische Familien gefangengenommen worden seien. sagt Kälin, sind die Ostslawen erst im Entstehen begriffen.
Die Rus wie auch die Goten allgemein heißen in arabischen Chroniken Magus (Madschus), das sind eigentlich Magos, Perser. Die Alanen, ein unbestritten iranischer Stamm, zählen bei Prokop [111,3,1] im 6. Jh. Als wichtige Bestandteile der Rus gelten gemäß Geograph. Nun fragt man sich, was diese Rus oder Goten oder Wandalen denn eigentlich für eine Sprache hatten. Die Behauptung, "Gotisch" sei die einzige ostgermanische Sprache [Marchand 121], ist demnach Unsinn. Auch von der Sprache der Wandalen kennen wir außer Eigennamen kaum ein Wort.
Nach Scardigli [1973] ist das Gotische nicht einer der vielen germanischen Dialekte, sondern die einzige uns bekannte germanische Sprache in jenem Zeitraum (4. Jh.), Da nun über die Slawen zwischen dem 7. und 10. Jh. Ende des 10. Jhs. ist die Slawisierung im Nordosten (d.h. hier: in Rußland) keineswegs abgeschlossen, so "daß man die Ausbildung eines nach Sprache, Kultur und Identitätsbewußtsein einigermaßen homogenen Ostslaventums spät ansetzen muß" [Goehrke 36]. Also später als das 10. Jh. Für die Assimilierung der Balten, Ostsee- und Wolgafinnen schufen die Fürsten von Kiew im 10. Jh. In lateinischen Texten werden alle Osteuropäer nach 900 als Rugii bezeichnet, das ist Plural von Rus. Im 10. Jh. werden die Rugier als Slawen geführt [Wolfram 353]; wann der Sprachwechsel erfolgte, bleibt offen.
Der Name Rus (finnisch rotsi = schwedische Wikinger) wird als Eigenbezeichnung aufzufassen sein, von rodhr = Ruderer. älteste Abschrift 10. Jh.), die als frühe slawische Dokumente präsentiert werden, sind offensichtlich späte Fälschungen.)
Ab 988 wird es allerdings ernst: Wir haben orthodoxe Christen, kyrillische Schrift und slawische Sprache in Osteuropa. Bulgarische Missionare treten in Kiew auf, die Liturgie wird in zwei Sprachen abgehalten, in Griechisch und Slawisch.
Die ältesten Texte der kyrillisch geschriebenen Literatur stammen aus dem 11. Jh. mit liturgischen Gebeten nach lateinischem Vorbild, durchsetzt mit lateinischen Wörtern und Gräzismen, ansonsten typisch für die slawische Premysl-Periode in Böhmen [Dostál 33f]. Die Glagolika, die älteste Form des Kyrillischen, ist die Schrift, die Method und Kyrill bei ihrer Mission in Mähren zum ersten Mal verwendeten. Die Freisinger Blätter sind allerdings in lateinischer Schrift abgefaßt, während der Text in althochdeutscher und alt-kirchenslawischer Sprache (mit slovenischen Vokalzügen, wohl in Kämten geschrieben) steht. belegt und war bis zum 16. Jh. Aus der Glagolika des Konstantin entstand das Kyrillisch, das mit seinem vermehrten Buchstabenschatz (43 Zeichen) sich der griechischen Unziale wieder annäherte.
Eigenartig ist auch der weitere Verlauf der byzantinischen Mission. Schon ein Jahr später, 864, läßt sich Chan Boris von Bulgarien in Konstantinopel taufen, aber erst 885 bringen Schüler von Method und Kyrill die glagolitischen Texte zum damals bulgarischen Ochridsee. Rom 1591] enthalten wäre. Wattenbach], das offensichtlich nach derselben Vorlage gefälscht wurde [Duthilleul 292], wird die "zwar sehr gelehrt erfundene Sprache der Slawen [...] Synthetisches Altslawisch
Was die Sprache anbetrifft, so werden Altkirchenslawisch, Altbulgarisch und Altslawisch miteinander gleichgesetzt. Es heißt, ohne daß Urkunden darüber vorlägen, daß dies die Sprache der Einwohner von Thessaloniki gewesen sei, verschieden von allen anderen Sprachen des heutigen Slawenbereichs. Die Lautänderungen erfolgten erst im 10. bis 12. Jh. Vokalismus, Betonung usw. zeigen uns an, welche Sprachen im jeweiligen Gebiet vorher üblich waren, also z.B. bei den Tschechen eine "germanische" Sprache, da das Tschechische wie die germanischen Sprachen auf der ersten Silbe betont wird [Dostäl 35; Hirt 123].
Ich halte es für möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß Kyrill nicht nur die glagolithische Schrift erfunden hat - die übrigens mit der griechischen sehr wenig gemein hat, vom Schriftbild her eher armenisch oder koptisch anmutete, während das heutige Kyrillisch dem griechischen Alphabet recht nahesteht -, sondern mit der Schrift auch eine normierte Sprache schuf, die zwar dem Charakter der lingua franca Osteuropas (ähnlich dem von Wulfila geschaffenen Bibelgotisch) entsprach, aber doch neu und synthetisch war. Umgekehrt folgt die Syntax der altkirchenslawischen Texte wortwörtlich dem griechischen Vorbild, eine Eigenart, die bis heute erhalten blieb. Dies läßt nicht an eine natürlich gewachsene Sprache denken. Und schließlich sind die Wortzusammensetzungen derart häufig, daß hieraus allein schon der Gedanke an eine künstlich geschaffene Sprache aufkommt.
- für die Deklinations- und Konjugationsunterschiede gilt das 11. Jh.
Das heißt aber: die selbständige Entwicklung hat beim Ukrainischen istnicht viel später begonnen, als bei den anderen slawischen Sprachen auch" [ebd 53].
"Wie alle agglutinierenden Sprachen beachtet das Slawische die Gesetze der Vokalharmonie", schreibt der Ungar Csöke [Csöke 1979, 4] und beweist dies in aurwendiger Weise. Die Bezeichnung der Sprache, abgeleitet von slovo = Wort, habe nichts mit der Volksbezeichnung Sciaveni zu tun. zwischen Balkan und Ukraine gesprochenen Sprachen handelt, mithin um eine künstlich geschaffene Verkehrssprache (vergleichbar dem Urdu, das Kaiser Akbar im 16. Jh. An der Wahl des Vokabulars im Altkirchenslawisch wird dies ebenfalls deutlich: die Begriffe der religiösen Sphäre wie Gott, heilig, Paradies usw. entstammen dem Sarmatoskythischen, Wörter aus dem kulturellen Bereich wie Brot, Haus, Stall usw. entsprechen dem Gotischen; andere Wörter stehen den baltischen Sprachen so nahe, daß man auch von einer slawisch-baltischen Sprache spricht.
Agni eine Einheit bildet, und pyr, das zum Griechischen, Armenischen, Tocharischen und zum deutschen Wort Feuer zu stellen ist. Die von den beiden Missionaren eingeführte liturgische Sprache fungierte für viele Stämme als erste Schriftsprache und hatte bis ins 19. Jh. Slawische Entwicklung im frühen Mittelalter
Zur Vertiefung und Stützung noch einige weitere Daten: Im 6. Jh. Die ältesten Abschriften der Pannonischen Legenden stammen aus dem 12. und 15. Jh., Nicht nur für die Slawen bildet das 10. Jh. Wolfram [1987, 12] stellt lapidar fest:
"Vor dem Ende des 10. Jh.s geschah nirgendwo [...] eine österreichische Geschichte [...] Jedes Handbuch der deutschen Geschichte handelt vom frühmittelalterlichen Deutschland, obwohl es die Deutschen und ihr regnum Teutonicum vor dem 10. Jh. nicht gab"
usw. im selben Sinne, etwa: Im 6. Jh. als Germanen bezeichneten multikulturellen Stammesverbände ("Ethnien") der Goten, Rugier (= Rus), Wenden usw. gehen in Osteuropa durch die Christianisierung (ab dem 10. Jh.) in Slawen über, wobei die kulturelle Einigung mittels der von Method und Kyrill geschaffenen Liturgiesprache und -schrift erfolgte. Das "Gotische" des Wulfila (4. Jh.) erscheint in seiner nächsten Formstufe als Altkirchenslawisch (10. Jh.), Grundlage aller heutigen slawischen Sprachen. Ein Rückgriff auf die im 19. Jh.
(Diese Zusammenfassung wurde maschinell erzeugt)
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Laut bisher gültiger akademischer Anschauung, die vor allem von deutschen Indogermanisten im vorigen Jahrhundert aufgestellt und selbst von den Russen übernommen wurde, entstanden die Slawen als kleines, verachtetes Volk in den Pripjet-Sümpfen; es breitete sich von dort auf Grund seiner großen Tapferkeit und militärischen Fähigkeiten über ganz Osteuropa aus, wobei es die vorher dort ansässigen Germanen, Balten und Finnen vertrieb oder überlagerte. Dem Autor geht es weniger darum, diese romantisch-naive Theorie der Lächerlichkeit preiszugeben, als eine neue, an den Fakten orientierte These ihrer Entstehung vorzustellen, die als Modell auch für die Genese anderer Kulturgruppen brauchbar sein könnte, etwa für die Ethnogenese der Araber durch Kodifizierung des Koran.
Was heißt "Slawische Rasse"?
Untersucht man das europäische Schrifttum hinsichtlich der Entstehung der Begriffe Germanen, Kelten, Slawen u.a., die oft als "Rasse" geführt wurden, noch falscher als "Volk", so stellt sich heraus, daß es sich allemal um literarische Kunstprodukte handelt, die je nach soziologischem Zusammenhang oder geschichtlicher Situation die verschiedensten ideellen Einheiten beschreiben sollen. Die Arbeiten von Poliakov [1977] sowie speziell zum Germanen-Mythus von Klaus von See [1970] haben darüber Klarheit verschafft [Diese und weitere Literatur bei Kühn 1994].
Einer der frühesten Historiker, die sich gegen den Mißbrauch von Tacitus' Germanenbegriffs wandten, war Johann Gottlieb Radlof [1822], der zwar als brillanter Akademiker begann, aber in der allgemeinen Germanen-Romantik nur kurz beachtet wurde und so schnell in Vergessenheit geriet, daß niemand seinen Todestag kennt. Wegweisend zu neuen Gedanken ist immer noch Spenglers Nachlaß-Fragment [1969]. In unserem Kreis hat H. Friedrich [1992 u.a.o.] wiederholt auf die Problematik hingewiesen.
Die klassischen (meist griechischen) Schriftsteller kennen nur vier große "Ethnien" als Bewohner des westlichen und nördlichen Europa: Iberer, Kelten, Wenden und Skythen. Offensichtlich waren damit Sprachgruppen erfaßt, wie sie vergleichsweise in den heutigen, aus der Bibel entlehnten Begriffen "Semiten" oder "Hamiten" verwendet werden. Die Wenden oder Wandaler, auch Veneter, saßen an Elbe, Oder (Vineta) und Weichsel, am Schwarzen Meer, am Bodensee (lacus Venetus), in Kärnten, Norditalien (Venedig, zahlreiche Inschriften bei Padua, Vicenza etc), in Süditalien (Apulien und Kalabrien), laut Caesar am gallischen Atlantik, in Andalusien (das nach ihnen benannt sein soll), in Karthago, Sizilien...
Herodot sagt, daß sich Kelten und Veneter in den Sitten nicht unterschieden, jedoch hinsichtlich der Sprache. Dasselbe gilt für die Iberer. Keine dieser Gruppen bildete einen Staat, auch kein Volk, nicht einmal einen Stammesverband. Das einzige verbindende Element der weitverstreuten Iberer (und Kelten etc) war ihre Sprache, zugleich war es das Kriterium, das sie von den anderen genannten Gruppen absonderte.
Wer von einer Sprache rückwärts auf ein Volk oder eine Kulturgruppe schließt, erliegt einem Trugschluß, selbst wenn in Einzelfällen - wie bei den Wandalen unter Geiserich - eine "Völker "-Wanderung historisch belegt ist.
Sprachkonvergenz
Diesen geschichtlichen Überlegungen zum Verhältnis der Begriffe Volk und Sprache möchte ich eine weitere Betrachtung vorausschicken, die zwar ebenfalls oft ausgesprochen wurde, aber immer wieder übergangen wird: Alle Sprachen konvergieren zueinander hin. "Im Anfang" gab es sehr viele Einzelsprachen (Familien-, Horden-, Stammessprachen), wie man es heute noch bei schriftlosen Völkern in unzugänglichen Gebieten (Amazonas, Hindukusch) beobachten kann. Mit dem Fortschreiten des Zivilisationsprozesses verringert sich die Anzahl der Einzelsprachen, werden Sprachen raumübergreifend. Alte Sprachen sind zwar wortarm, haben dafür aber eine äußerst komplizierte Grammatik, während moderne Sprachen einfachste Regeln und ein fast unüberschaubares Vokabular aufweisen (man denke etwa an Englisch). Und weiter: Vor der artikulierten, genormten Sprache steht die Bilderschrift, sie erst macht die Sprache zu einem genormten Instrument. Vorher wird die Sprache durch Gestik und Aussprache bestimmt, danach erst zum Vehikel für Kommunikation mit Fremden. Die chinesischen Schriftzeichen sind älter als die chinesische Sprache, sie begründeten sie! Bilderschriften sind sehr kompliziert, erfordern viel Intelligenz, sind aber für verschiedene Sprecher benutzbar (Japaner und Chinesen verstehen dieselben Schriftzeichen, ohne ihre Sprachen wechselseitig zu verstehen). Buchstabenschriften engen den Gebrauch ein, sind leichter zu handhaben (nach vorheriger Einweihung) und legen die Sprache fest [Diese Gedanken teilweise in Anlehnung an O.K. Maerth 1971, Kap. VI].
Noch einmal die beiden Grundgedanken: Sprachliche Einheit bedeutet keine völkische, rassische oder soziale Gemeinsamkeit, selten kulturelle Gleichheit, höchstens hin und wieder religiöse Einheit (Hebräisch, Kirchenlatein). Und Sprachen sind nicht Ausdruck einer gemeinsamen Vergangenheit oder gar biologischer Verwandtschaft, sondern im Gegenteil: Sie erzeugen Gemeinsamkeit völlig fremder Elemente. Im engeren Sinne werden diese Verkehrssprachen durch Schrift erst geformt, ohne sie sind sie undenkbar.
Wenden wir diese Gedanken nun auf das noch immer ungelöste Problem der Entstehung der slawischen Sprachen an.
Die sowjetisierte Slawistik
Carsten Goehrke [1992], Prof. für Slawistik in einem neutralen Land (Zürich), erlaubt sich darauf hinzuweisen, daß die in Rußland durchgeführte Slawenforschung mit Wissenschaft wenig zu tun hat, da sie von den Ansprüchen der Sowjetideologie geprägt ist. Zu Recht. Dennoch ist auch seine umfangreiche Arbeit nicht frei von unwissenschaftlichen Ideologien und Prämissen ("Indogermanistik").
Die sowjetrussischen Historiographen standen vor einer ungeheuer schwierigen Aufgabe: Sie mußten hinsichtlich der Ethnogenese der Russen nicht nur die Primitivismen des marxistischen Geschichtsmodells einhalten, sondern auch noch die Entstehung von Mütterchen Rußland aus den skandinavischen Rus und dem byzantinischen Christentum widerlegen und an die leere Stelle ein heidnisches slawisches Urvolk setzen, von dem es bis dato keine Anzeichen gegeben hatte. Aberwitzige Theorien und linguistisch wie anthropologisch unhaltbare, oft völlig frei erfundene "Ableitungen" mußten herhalten, um Stalins Forderungen zu erfüllen. Da auch die archäologischen Befunde und Grabungsberichte von vielfachen Fälschungen zu diesem Zweck durchsetzt sind, fehlt der heutigen Forschung der Überblick, dieses Konstrukt zu sichten. Es bliebe eigentlich nur übrig, sämtliche Veröffentlichungen - damit meist auch die davon abhängigen westeuropäischen in Bausch und Bogen abzulehnen und noch einmal bei der Situation vor 1900, also vor der Geburt des Panslawismus anzufangen.
Diese Aufgabe kann ich hier keineswegs durchführen, ich möchte nur ein paar große Linien anzeigen, wobei ich mich notgedrungen auf die neuesten Ergebnisse der Slawistik stütze, vor allem auf Goehrke, der als offener und weitblickender Fachmann viele auffällige Probleme schon angesprochen hat.
Die frühesten Nachrichten über die Slawen stammen von byzantinischen Schriftstellern aus dem 6. Jh.; insgesamt sind es aber nur drei Quellen, die bis Anfang des 7. Jhs. reichen. Vom 6. bis späten 8. Jh., die "weitgehend fundleer" sind [Goehrke 122], haben wir nur einige Fernhandelsfunde, nämlich byzantinische Münzen und Silbergefäße, die aber auch als Beutestücke der Reiternomaden in späterer Zeit dorthin verschleppt sein können. Im 9. Jh. tritt als Leitfossil arabisches Silbergeld auf, mit kufischen Schriftzügen, meist aus nordafrikanischen und iraqischen Prägestätten, von Transkaukasien über die Wolga bis zur Ostsee, in zwei Wellen, die auch geographisch getrennt liegen: zwischen 800-833 und um 850. Dazu kommen Nachrichten arabischer Schriftsteller. Von 905 bis 960 haben wir fast nur iranische Münzen (der Samaniden). Slawische Texte begegnen uns erst aus dem 10. Jh., als echte Dokumente zumeist erst aus dem 11.-12. Jh. Wenn der Vertrag Olegs mit Byzanz in der Altrussischen Chronik keine Fiktion ist, dann ist er "ein vom Vertrag von 911 losgelöstes und auf 907 zurückdatiertes Teilstück" (Goehrke 166; er belegt ein weiteres Mal das kritische Jahr 911, das Illig als Grenze der Historizität erkannt hat). Soweit der Überblick, nun einige Einzelheiten.
Byzantinische Quellen
Die älteste Erwähnung der Slawen liegt bei Jordanes vor (um 550). In seiner lateinisch geschriebenen Gotengeschichte zählt er die Gepiden (an der mittleren Donau) und Daker auf, dann im Nordwesten am Quellgebiet der Weichsel über unermeßliche Strecken die Venethi, deren wichtigste Unterstämme die Sciaveni und Antes sind. Die Sciaveni lebten in den Sümpfen und Wäldern von der Stadt Novietunum und dem Mursianischen See bis zum Dnjester und zur Weichsel. Die Anten, die Tapfersten der Veneter, wohnten zwischen Dnjepr und Dnjester am Schwarzen Meer. Um 350 wurden die Veneter durch die Goten unterworfen, um 375 durch die Hunnen.
Prokop (gest. 562) kennt in seinem griechisch verfaßten Kriegsbericht keine Venedi, aber Sklavinen und Antai, die oft mit den Hunnen verbündet seien. Sie hießen früher gemeinsam Spori, sprachen dieselbe Sprache, trugen dieselbe Kleidung und Waffen, verfeindeten sich aber später.
Theophylakt (gest. 628) schrieb auf Griechisch, die Sklavinen seien Bundesgenossen der Awaren, die Anten jedoch mit diesen verfeindet und Bundesgenossen der Romäer (= Byzantiner).
Die drei Textstellen stimmen also in etwa miteinander überein. Der geschichtlich orientierte Jordanes (= Jornandes) nennt als einziger den Oberbegriff der Veneti (= Wenden), der etwa wie Skythen oder Sarmaten einen politischen Stämmebund beschreibt, von denen einer, die Anten, vermutlich aus derselben Wortwurzel wie Veneti gebildet ist (es gibt auch die Zwischenform Heneti), während der andere, Sciaveni, oft mit dem Begriff Wenden gleichgesetzt, oft aber von diesem scharf getrennt wird [Zedler 1743 unter Slaven]. Der von Prokop für die beiden Unterstämme verwendete Obergriff Spori dürfte Verschreibung für Sorbi sein, die ja bei uns ebenfalls mit den Wenden gleichgesetzt werden. Interessant ist nun, daß alle drei Begriffe dieselbe Bedeutung haben sollen. "Wende von Wandalern, auch gleich Knecht, Leibeigner" [Zedler, 1.c.], "daß noch vor weniger Zeit, alle die welche ein Handwerk haben lernen wollen, in ihre Geburtsbriefe haben müssen einrücken lassen, daß sie von Geburt Deutsche und keine Wenden wären". Venedi (Wenden) wurde gerne von lat. vendere =- kaufen abgeleitet, also dem Begriff Sklave angepaßt.
Die Sorben oder Serben sind ebenfalls Diener, servii [ebd] , und die Sciaveni sind geradezu synonym mit Knechten, Sklaven. Erst im 10. Oder 11. Jh. trennt sich Slovene als Eigenname von dem Begriff Sklave ab.
Die Wenden sind lange in weitem Raum belegt, im 16. Jh. noch in Livland bei Riga, im 18. Jh. noch in Pommern und Mecklenburg, heute noch in der Lausitz. Die nach Westen und bis Nordafrika gewanderten Wandalen, die teils auch wieder nach Mitteleuropa zurückgekehrt sind [Pischel 1980], können kulturhistorisch gut belegt werden, nur ihre Sprache bleibt eine große Unbekannte. Sie wird allgemein als "germanisch" eingestuft, im Näheren als dem Gotischen und Althochdeutschen verwandt, wobei im Wandalischen die "zweite Lautverschiebung" eher als bei den Goten und viel eher als bei Alemannen oder Langobarden eingetreten sei, also wohl tonangebend war [Höfler zit. in Pischel l26f]. Dies dürfte mit der weiten Verbreitung und Macht der Veneti zu erklären sein.
Wenn Anten und Slawen ihre Unterstämme waren, haben sie Wendisch gesprochen, denn nur darin liegt ja die Zusammenfassung der beiden Stämme begründet, wie dies Prokop explizit sagt. Im Gegensatz zu Theophylakt erwähnt aber Meander, der gegen 583 über die Awareneinfälle schrieb, keine Sklaveni, sondern nur den Überfall auf die Anten, 560. Dies könnte auf die geringe Bedeutung der Sklaveni hinweisen.
Arabische Quellen
Frühe arabische Texte erwähnen die Slawen (Saqaliba) nur sporadisch, so etwa der Dichter al-Achtal, demzufolge slawinische Legionäre von den Arabern in Syrien Siedlungsraum angewiesen bekamen; oder Ibn A'tham aus Kufa (Ende 9. Jh.), der einen arabischen Feldzug gegen die Chasaren 737 erwähnt, wobei am Slawenfluß (Nähr as-Saqaliba) 20.000 slawische Familien gefangengenommen worden seien. Alle anderen frühen Texte sind noch unsicherer, etwa der des Chwarizmi, dessen Saqaliba nach Goehrke [22] möglicherweise Nichtslawen, nämlich Kama- oder Wolgavölker oder Germanen sind.
Der Antwortbrief des Chasaren Josef nach Córdoba (angeblich um 960, tatsächlich jedoch eine spätere Fiktion) nennt neben anderen Völkern auch die Slwiyun (Slawen) als Vasallen der Chasaren. Allein schon die Orthographie des Namens weist auf spätere Abfassung hin, ganz abgesehen vom Inhalt des Briefes, der hochmittelalterlich wirkt.
Aber wie steht es mit Córdoba? Dort treten in arabischen Texten die Saqaliba recht häufig auf. Nach den Berbern, Arabern und Negern bilden sie die viertwichtigste Ethnie der herrschenden Moslems in Andalusien. Als Söldner und Palasteunuchen hatten sie Einfluß auf die Emire und übten als Leibwachen sogar gewisse Macht aus. Sie wurden angeblich in Mitteleuropa gefangen, oder an den Grenzen von Andalusien, während der zweiten Chalifatsperiode auch in Norditalien und Frankreich, von Juden aufgekauft und nach Spanien gebracht [Enzyklopädie des Islam]. Daß diese Sklaven Slawen waren, steht für die Orientalisten außer Frage. Ich möchte mir aber lieber nicht bildlich ausmalen, wie die Juden im Frankenreich schwunghaften Handel mit slawischen Gefangenen trieben. Eher denkbar scheint mir, daß hier wieder Saqaliba (= Sciaveni) mit Veneti (Wandalen) gleichgesetzt wurden, wie so häufig, und daß es sich bei den einflußreichen Palastwachen eher um Wandalen (Alanen, Goten) handelte, die in Andalusien seßhaft oder gleichzeitig mit den Arabern nach Andalusien gezogen waren.
Östliche Sprachwurzeln
Die Sprachwissenschaftlerin Ursel Kälin [in Goehrke 87f] zitiert J. Udolph,der seit 1979 Untersuchungen über die Gewässernamen der Ukraine veröffentlicht und - in Anwendung von Krahes Hydronomie-Hypothese - feststellt, daß die Flüsse dort nie slawische Namen tragen, sondern baltische oder iranische; selbst die großen Flußnamen Osteuropas, wie Oder, Weichsel, Dnjepr, Don usw. sind unslawisch. Noch im 10. Jh., sagt Kälin, sind die Ostslawen erst im Entstehen begriffen.
Der iranische Anteil an der Bildung des Slawischen ist auffällig, sowohl in der Hydronomie (Danzig aus Dan-siyag = schwarzer Fluß; Dnjestr aus Dan-Hastr = Pferdefluß usw.) als auch in der religiösen Sphäre: Die Bezeichnungen für Sonnengott, Chors (entspricht Horus und Helios) und den Teufel, Diw, im Igorlied (11. Jh.) sind typisch iranisch [Müller 1989]. Die Rus wie auch die Goten allgemein heißen in arabischen Chroniken Magus (Madschus), das sind eigentlich Magos, Perser. Die Alanen, ein unbestritten iranischer Stamm, zählen bei Prokop [111,3,1] im 6. Jh. schon zu den Goten [Sinz 80]. Als wichtige Bestandteile der Rus gelten gemäß Geograph. Bavarus die Zeriuane (wohl gleich Serben) und die Eptaradici, "die sieben Völker". Die Severjane der Novgoroder Chronik und Nestor-Chronik lebten am Fluß Sem (d.h. Sieben), und die Eptaradici sind unschwer als die Hephthaliden, die sogenannten "Weißen Hunnen", ein iranischer Stämmebund, wiederzuerkennen [vgl. Zeller 1993].
Nun fragt man sich, was diese Rus oder Goten oder Wandalen denn eigentlich für eine Sprache hatten. Die Bezeichnung "ostgermanisch" ist ein nachträgliches, nichtssagendes Etikett. Zwar lebte "das Gotische" auf der Krim bis 1560 fort, bei den Inguschen im Kaukasus soll es sich sogar bis heute erhalten haben, aber "Ostgotisch ist heute unbekannt, [...] über das Westgotische wissen wir noch viel weniger" [Marchand 96]. Eine Ausnahme bildet Wulfilas Bibelübersetzung, die als westgotisch gilt, allerdings sind die wenigen weltlichen Dokumente, die gotische Wörter enthalten, von dieser Bibelsprache völlig verschieden. Die Behauptung, "Gotisch" sei die einzige ostgermanische Sprache [Marchand 121], ist demnach Unsinn. Auch von der Sprache der Wandalen kennen wir außer Eigennamen kaum ein Wort.
Nach Scardigli [1973] ist das Gotische nicht einer der vielen germanischen Dialekte, sondern die einzige uns bekannte germanische Sprache in jenem Zeitraum (4. Jh.), wobei unsere Kenntnisse sehr lückenhaft sind: Wir wissen nicht einmal, wie die Goten "Pferd" sagten! Wulfilas Bibelsprache ist ein Rückgriff auf eine alte Priestersprache, die zunächst nur von wenigen verstanden wurde, neu gestaltet zum Zwecke der Mission, absichtlich archaisierend und mit zahlreichen Kunstwörtern aufgefüllt. Möglicherweise wurde diese Kultsprache von niemandem und zu keiner Zeit wirklich gesprochen, und deswegen können wir auch keine Einflüsse des Gotischen in heute lebenden Sprachen entdecken [Scardigli 232f].
Wer nun diesen Befund nicht vor dem "indogermanischen" Hintergrund [etwa eines J.P. Mallory 1989, 76ff] sieht, bei dem die Ausbildung der slawischen Grundsprache mehrere Jahrtausende vor ihrer dokumentarischen Erfaßbarkeit erfolgt sein muß, dem wird das bisher Dargestellte einleuchten. Da nun über die Slawen zwischen dem 7. und 10. Jh. die Dokumente 'blaß' sind, "treten für die Ausbreitung der Ostslawen die Forschungsergebnisse der Mittelalterarchäologie in den Vordergrund" [Goehrke 23].Wie will man aber aus Tonscherben oder Gräbern auf die Sprache der Leute schließen? Slawisch ist doch ein rein sprachlicher Begriff, er beschrieb keine Rasse oder Nation oder Kultur. Ende des 10. Jhs. ist die Slawisierung im Nordosten (d.h. hier: in Rußland) keineswegs abgeschlossen, so "daß man die Ausbildung eines nach Sprache, Kultur und Identitätsbewußtsein einigermaßen homogenen Ostslaventums spät ansetzen muß" [Goehrke 36]. Also später als das 10. Jh. Und dabei spielte die Kirche und der Staat neben dem Handel die Hauptrolle [ebd 37]. Für die Assimilierung der Balten, Ostsee- und Wolgafinnen schufen die Fürsten von Kiew im 10. Jh. die Rahmenbedingungen [ebd 38]. Wir merken uns diese klugen Beobachtungen Goehrkes für später. Das Bild verdichtet sich noch mehr, wenn wir die Fürsten von Kiew und ihre Gefolgsleute betrachten, die diese Slawisierung ermöglichten (wie ich vorhin mit Goehrke zeigte), und nach denen die Russen und Ruthenen ihre Namen tragen: die Rus oder Waräger.
Slawen und Waräger
Über diese bootsfahrenden Händler und Abenteurer, die wohl in den (ebenfalls multiethnischen) Kosaken ein modernes Pendant haben, erfahren wir aus den altisländischen Sagas einiges, das sie den Wikingern annähert. Unter dem Namen "Rhos" tauchen sie erstmals in den Annalen Bertiniani (angeblich 839 verfaßt) auf. Auch der früheste arabische Text mit Erwähnung der Rus, bei Ibn Hurdadhbeh, wird in diesem Zeitraum datiert (846). Dort treiben die Rus unter den Saqaliba Handel mit Schwertern gegen Biber- und Schwarzfuchsfelle, reisen zuweilen auch nach Baghdad, wo Saqaliba-Eunuchen als Dolmetscher für sie eingesetzt werden. AI Mas'udi (956), der wie Ibn Rusteh zwischen Saqaliba und Rus einen Unterschied macht, berichtet auch von einem Raub- oder Kriegszug der Waräger im Jahre 912/13. Goehrke [127] merkt hier noch einmal an, daß der arabische Begriff Saqaliba für alle hellhäutigen Osteuropäer, also auch Bulgaren, Finnen oder Skythen, verwendet wird.
In Ibn Fadlans Bericht von seiner Reise an die Wolga (921) kommen die Rus ebenfalls vor, neben den Juden als die einzigen Händler zwischen Spanien und China im 10. Jh. Andererseits heißt es auch hier wieder, das Haupthandelsgut seien Sklaven, die Händler generell Juden [Goehrke 129].
In lateinischen Texten werden alle Osteuropäer nach 900 als Rugii bezeichnet, das ist Plural von Rus. Als Rugier bekannt sind kriegerische, nach Wolfram [52] "gotisch sprechende" Stammesverbände im östlichen Alpenraum, die 487 von Odaker besiegt wurden. Häufig mit den heute noch im Gebiet von Lemberg ansässigen Ruthenen gleichgesetzt, zuweilen sogar mit den Rutulem (= "Rötlichen", ihrer Haare wegen), die Aeneas besiegt haben soll, als er Latium besetzte, stammen die Rugii ebensowenig von der Ostseeinsel Rügen her wie die Goten aus Gotland. Im 10. Jh. werden die Rugier als Slawen geführt [Wolfram 353]; wann der Sprachwechsel erfolgte, bleibt offen.
Die Herrschaft von Oleg und seinem Nachfolger Igor (913-945) wird allerdings als despotischer Handel und Raub bezeichnet, von einem Staat kann noch keine Rede sein [Goehrke 156]. Der Wojwode (voevody = Walwärter) ist ein Kriegsherr.
Der Name Rus (finnisch rotsi = schwedische Wikinger) wird als Eigenbezeichnung aufzufassen sein, von rodhr = Ruderer. Laut Leo Diakonos führte Fürst Syjatoslav (= "heiliger Slawe") von Kiew selbst das Ruder, als er zu Verhandlungen mit dem byzantinischen Kaiser am Donau-Ufer erscheint. Das Ruder zu führen wurde als Ehrenamt angesehen.
Die Waräger (= Schwertbrüder) tauchen ab 960 in byzantinischen Quellen auf, und zwar als Baraggoi mit der Bedeutung: skandinavische Söldner.
Ibn Chauqal berichtet für das Jahr 968/69, die Rus hätten das Chasarenreich vernichtet. Hierzu paßt, daß in der schon erwähnten Allrussischen Chronik zwar Byzanz, die Bulgaren und einige Stämme im Osten genannt werden, aber die beiden großen Chasarenstädte Sarkel und Itil nicht vorkommen. Doch erst unter Wladimir I. (980-1015) ist das machtpolitisch geeinte und offiziell christianisierte Kiewer Reich ein politischer Faktor für seine Nachbarn geworden [Goehrke 169].
Mit der Übernahme des Christentums 988, Einführung der kyrillischen Schrift und Ausbildung eines ersten Staatswesens wird die byzantinische Kirche zum Träger des Einheitsgedankens in Rußland, das nun diesen Namen erhält.
(Ein kleiner Anachronismus am Rande: Im Jahre 839, also ein Jahrhundert zu früh, soll ein Chacanus {türkischer Großchan} als Herr der Rhos König Ludwig den Frommen in Ingelheim besucht haben. Derartige Quellen, wie etwa die Conversio Bagoariorum et Carantanorum - Salzburg 871 - keine Chronik, wie man denken könnte, sondern eine Streitschrift zur Wahrung der Rechte Salzburgs, oder die Freisinger Beichtformel (8. Jh., älteste Abschrift 10. Jh.), die als frühe slawische Dokumente präsentiert werden, sind offensichtlich späte Fälschungen.)
Ab 988 wird es allerdings ernst: Wir haben orthodoxe Christen, kyrillische Schrift und slawische Sprache in Osteuropa. Wie kam es dazu?
Glagolitische und kyrillische Schrift
(Übersicht siehe Anhang)
Der Rus oder Waräger Wladimir von Kiew läßt sich gegen 988 taufen, um eine Tochter des Kaisers Basileos II. heiraten zu können und damit seine Herrschaft zu stabilisieren. Bulgarische Missionare treten in Kiew auf, die Liturgie wird in zwei Sprachen abgehalten, in Griechisch und Slawisch. Aber auch der westliche (lateinische) Ritus, der vom Kloster Sazawa in Böhmen ausgegangen war, wird beibehalten.
Die ältesten Texte der kyrillisch geschriebenen Literatur stammen aus dem 11. Jh. und sind formal gesehen byzantinisch. Davor liegen nur die Kiewer Blätter, sieben glagolitische Pergamente vom Ende des 10. Jhs., mit liturgischen Gebeten nach lateinischem Vorbild, durchsetzt mit lateinischen Wörtern und Gräzismen, ansonsten typisch für die slawische Premysl-Periode in Böhmen [Dostál 33f]. Die Glagolika, die älteste Form des Kyrillischen, ist die Schrift, die Method und Kyrill bei ihrer Mission in Mähren zum ersten Mal verwendeten. Die Freisinger Blätter sind allerdings in lateinischer Schrift abgefaßt, während der Text in althochdeutscher und alt-kirchenslawischer Sprache (mit slovenischen Vokalzügen, wohl in Kämten geschrieben) steht. Zagiba [1968] datiert die Blätter auf 968, andere nennen 972-1039.
Die Glagolika (von glagol = Wort) kommt in zwei leicht verschiedenen Schriftstilen vor: dem bulgarischen und dem kroatischen. Letzterer ist in Dalmatien und Istrien ab dem 11. Jh. belegt und war bis zum 16. Jh. weit verbreitet, danach nur noch stellenweise (vor allem in Agram und Montenegro), in römisch-katholischen Gemeinden bis ins 20. Jh. [Jensen 462f].
Die Mission Großmährens wurde zum Wettstreit zwischen zwei Kultformen: Einerseits wurde sie durch Salzburger Missionare vorgenommen, die den irisch-schottischen Ritus verbreiteten, andererseits von Method und Kyrill mit byzantinischem Ritus. Um Ansprüche geltend zu machen, wurden wohl auf beiden Seiten später die Dokumente gefälscht oder zumindest vordatiert. Da gibt es z.B. ein Vaterunser und Glaubensbekenntnis in Slawisch in einer Abschrift des 15. Jhs., deren Original 870 verfaßt sein soll...
Konstantin, der kurz vor seinem Tode den Mönchsnamen Kyrill annahm, und sein Bruder Method treffen - nach den Pannonischen Legenden - 863 als Vertreter der Kirche von Byzanz in Mähren ein und beginnen ihre Predigttätigkeit, durch die Fürst Rostislav (ein slawischer Rus?), der von den Franken unabhängig sein wollte, mit seinen Leuten zum orthodoxen Glauben übertrat. Die von Konstantin eigens dafür geschaffene Liturgie- und Rechtssprache mit der ebenfalls neugeschaffenen glagolitischen Schrift werden dabei erstmals eingesetzt. Die Glagolika, die aus 36 bis 40 Buchstaben besteht, baut vermutlich auf die griechische Minuskelschrift auf, lehnt sich zumindest stellenweise an sie an, hat aber auch Runencharakter und enthält offensichtlich völlig eigene Zeichen, um gewisse Laute, die dem Altkirchenslawisch eigen sind, wiederzugeben.
Möglicherweise hat Konstantin die Bibelschrift des Wulfila als Muster benützt, aber doch in seinem Sinne fortentwickelt. Es gibt einige verräterische Gleichheiten in beiden Schrifttypen [Scardigli 232]. Wir wissen allerdings nicht, wie Wulfilas Schrift tatsächlich aussah, denn die ältesten Handschriften sind erst 200 Jahre später angefertigt worden und können sich dem griechischen Schreibstil so stark angenähert haben, daß sie den Eindruck machen, "beste Unziale des 6. Jh." zu sein. Von den 27 Zeichen sind 19 der griechischen Unziale gleich, 6 sind lateinisch und 2 sind Runen.
Aus der Glagolika des Konstantin entstand das Kyrillisch, das mit seinem vermehrten Buchstabenschatz (43 Zeichen) sich der griechischen Unziale wieder annäherte.
Eigenartig ist auch der weitere Verlauf der byzantinischen Mission. Schon ein Jahr später, 864, läßt sich Chan Boris von Bulgarien in Konstantinopel taufen, aber erst 885 bringen Schüler von Method und Kyrill die glagolitischen Texte zum damals bulgarischen Ochridsee. Die Mission verläuft also umgekehrt, von Mähren über Pannonien nach Bulgarien bis zur Haustür von Byzanz, nach Thessaloniki, dem Geburtsort der beiden Brüder. 870 wird schon die neue Schrift durch eine Bulle aus Rom, "Gloria in excelsis Deo", abgesegnet, und nach erneutem Streit wird 880 auch das Slawische als Liturgiesprache von Rom durch die Bulle "Industriae tuae" genehmigt. Beide Bullen dürften spätere Erfindungen sein.
Die zweite Bulle - angeblich von Papst Johannes VIII. - wäre in jeder Hinsicht als Fälschung entlarvt, schreibt Duthilleul, wenn sie nicht im Register der Vatikanbriefe [ed. Rom 1591] enthalten wäre. Im Commonitorium [ed. Wattenbach], das offensichtlich nach derselben Vorlage gefälscht wurde [Duthilleul 292], wird die "zwar sehr gelehrt erfundene Sprache der Slawen [...] nur zur Erbauung der einfachen Leute bei der Predigt zugelassen", und in der Streitschrift über die Bekehrung der Bayern und Kärntner heißt es ebenfalls: "Method, der die slawischen Buchstaben erfunden hat und die Messe in Slawisch zelebrierte und das Lateinische verächtlich machte..."
So könnte auch der einzige Hinweis auf Kyrill außerhalb der Pannonischen Legenden, nämlich seine Erwähnung im Bericht des Anastasius über den zweiten Teil des 8. (damals noch 6.) Ökumenischen Konzils von Konstantinopel (869-70), der allerdings nur in lateinischer Version vorliegt - nämlich als Brief an Gauderich, Bischof von Velletri, [ed. Friedrich, München 1893] -, als Fälschung, die eine Entscheidung im Philosophenstreit des Photius anstrebte, ausgeschieden werden. Damit fällt aber auch die Vita des Kyrill und die Legenda italica über Clemens ins selbe Loch, da beide nach demselben Muster erfunden wurden [Duthilleul]. Die Vita des Method ist ohnehin später abgefaßt.
Eher vertretbar sind die folgenden beiden Jahreszahlen: 924 fand eine Synode in Split statt, auf der erstmals ein slawischer Bischof für die neue Liturgiesprache eintrat, und 929 starb Wenzeslaus den Märtyrertod in Böhmen, weil er offen für die slawische Kirchensprache stritt.
Die Serben blieben noch lange lateinische Christen und haben erst ab 1219 unter Erzbischo Sava eine eigenständige Kirche bekommen, geformt nach bulgarischem Vorbild.
Synthetisches Altslawisch
Was die Sprache anbetrifft, so werden Altkirchenslawisch, Altbulgarisch und Altslawisch miteinander gleichgesetzt. Es heißt, ohne daß Urkunden darüber vorlägen, daß dies die Sprache der Einwohner von Thessaloniki gewesen sei, verschieden von allen anderen Sprachen des heutigen Slawenbereichs. Slowenisch z.B. war nicht Vorbild, sondern Ergebnis regionaler Ausbildung nach Übernahme der Liturgiesprache. Die Lautänderungen erfolgten erst im 10. bis 12. Jh. entsprechend den vorher gesprochenen Regionalsprachen. Vokalismus, Betonung usw. zeigen uns an, welche Sprachen im jeweiligen Gebiet vorher üblich waren, also z.B. bei den Tschechen eine "germanische" Sprache, da das Tschechische wie die germanischen Sprachen auf der ersten Silbe betont wird [Dostäl 35; Hirt 123].
Ich halte es für möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß Kyrill nicht nur die glagolithische Schrift erfunden hat - die übrigens mit der griechischen sehr wenig gemein hat, vom Schriftbild her eher armenisch oder koptisch anmutete, während das heutige Kyrillisch dem griechischen Alphabet recht nahesteht -, sondern mit der Schrift auch eine normierte Sprache schuf, die zwar dem Charakter der lingua franca Osteuropas (ähnlich dem von Wulfila geschaffenen Bibelgotisch) entsprach, aber doch neu und synthetisch war. Ivan Galabov [1971] wies darauf hin, daß das Altbulgarische, also die Kirchensprache, hinsichtlich der Übernahme griechischer termini technici im christlichen Bereich sehr viel zurückhaltender war als das Lateinische, ja daß das Kirchenslawisch eine durchaus neue Terminologie schuf, in der sogar Eigennamen wie Jesus Christus auch grammatikalisch eingemeindet wurden (was ja nicht einmal im Deutschen heute als korrekt gilt). Bei der Nähe zum griechischen Sprachraum, aus dem das Christentum übernommen wurde, muß das verwundem. Umgekehrt folgt die Syntax der altkirchenslawischen Texte wortwörtlich dem griechischen Vorbild, eine Eigenart, die bis heute erhalten blieb. Dies läßt nicht an eine natürlich gewachsene Sprache denken. Und schließlich sind die Wortzusammensetzungen derart häufig, daß hieraus allein schon der Gedanke an eine künstlich geschaffene Sprache aufkommt.
M. Braun schreibt in Grundzüge der slawischen Sprachen: Bei der Suche nach dem Urslawischen oder Gemeinslawischen
"hat es sich nun herausgestellt, daß das Altkirchenslawische dieser gemeinslawischen Ursprache noch ganz außerordentlich nahesteht; in zahllosen Fällen können die tatsächlich vorliegenden altkirchenslawischen Formen ohne weiteres den vermutlichen gemeinslawischen gleichgesetzt werden" [Braun 1947, 13].
Und weiter über die Verwandtschaftsverhältnisse der slawischen Sprachen:
"Das Verschwinden der Halbvokale kann in keiner slawischen Sprache weiter als etwa ins 11. Jh. zurückdatiert werden, der Vorgang ist also viel zu jung, um für urdialektale Untersuchungen in Frage zu kommen. Dasselbe gilt auch für die Entwicklung der Nasalvokale [...] Auch die Betonung kommt nicht in Frage" [ebd 46].
- über das Ukrainische in Abgrenzung gegenüber dem Russischen schreibt er:
"Die meisten Eigentümlichkeiten, die für das heutige Ukrainisch typisch sind, lassen sich schon für das 11. Jahrhundert aus Schreibfehlern und orthographischen Besonderheiten der südrussischen Handschriften nachweisen" [ebd 53].
- für die Deklinations- und Konjugationsunterschiede gilt das 11. Jh. als
- Entwicklungsmoment."Das heißt aber: die selbständige Entwicklung hat beim Ukrainischen nicht viel später begonnen, als bei den anderen slawischen Sprachen auch" [ebd 53].
Hierzu noch zwei Sätze von Fürst Trubetzkoj:
"Das 'Urkirchenslavische', d.h. jener slavische Dialekt, für welchen der heilige Konstantin-Kyrill das glagolitische Alphabet erfunden hat, ist uns direkt nicht überliefert. Überliefert sind nur zwei Umgestaltungen dieser Literatursprache, die großmährische und die bulgarische, und dabei sind die ältesten unserer Denkmäler hundert Jahre jünger als das Urkirchenslavisch" [Trubetzkoj 1936, 88f].
- meisten altkirchenslawischen Denkmäler sind noch um ein Jahrhundert jünger.
Nach Trubetzkoj sind also nur zwei Herde für die Entstehung des Slawischen erkennbar, die beiden Missionszentren Mähren und Bulgarien. Dies entspricht dem philologischen Befund von Mares [1965, 83], der die bisher übliche Dreiteilung (Ost-, West- und Südslawisch) in Frage stellt und statt dessen zwei Gruppen einführt: die nordslawische (also vom Russischen bis zum Tschechischen zusammengefaßt) und die südslawische (Serbisch, Bulgarisch, Makedonisch).
Die Vokalentwicklung, die Mares analysiert, sei nur am Rande erwähnt. Andere haben hier finnisch-ugrische Wesenszüge, sogar die typisch türkische Vokalharmonie entdecken wollen. "Wie alle agglutinierenden Sprachen beachtet das Slawische die Gesetze der Vokalharmonie", schreibt der Ungar Csöke [Csöke 1979, 4] und beweist dies in aurwendiger Weise. Er kommt schließlich [l32f] zu dem Ergebnis - anfechtbar, aber doch beachtenswert -, Altkirchenslawisch sei eine agglutinierende Sprache, deren Wortschatz zu 70 % nicht indoeuropäisch sei, sondern verwandt mit dem sumerisch-uralaltaischen Bereich. Die Bezeichnung der Sprache, abgeleitet von slovo = Wort, habe nichts mit der Volksbezeichnung Sciaveni zu tun. Man muß nun nicht mit Csöke sagen, Altkirchenslawisch sei aus einer ungarischen Stammessprache zur Zeit von Arpad entwickelt, gewinnt aber den Eindruck, den ich hier insgesamt vertrete: daß es sich um eine collagenartige Zusammenfügung einander fremder Bestandteile der im 7./10. Jh. zwischen Balkan und Ukraine gesprochenen Sprachen handelt, mithin um eine künstlich geschaffene Verkehrssprache (vergleichbar dem Urdu, das Kaiser Akbar im 16. Jh. in Indien für sein Heer schuf).
An der Wahl des Vokabulars im Altkirchenslawisch wird dies ebenfalls deutlich: die Begriffe der religiösen Sphäre wie Gott, heilig, Paradies usw. entstammen dem Sarmatoskythischen, Wörter aus dem kulturellen Bereich wie Brot, Haus, Stall usw. entsprechen dem Gotischen; andere Wörter stehen den baltischen Sprachen so nahe, daß man auch von einer slawisch-baltischen Sprache spricht.
So gibt es z.B. für Feuer zwei Wortwurzeln im Slawischen [Pohl 1977. 10f]: ogn, das mit latein. ignis, balt. ugnis und altind. Agni eine Einheit bildet, und pyr, das zum Griechischen, Armenischen, Tocharischen und zum deutschen Wort Feuer zu stellen ist. Der Gebrauch von zwei verschiedenen Wortwurzeln ist typisch für eine Mischsprache.
Die von den beiden Missionaren eingeführte liturgische Sprache fungierte für viele Stämme als erste Schriftsprache und hatte bis ins 19. Jh. Gültigkeit als Rechtssprache. Die Verschiebung des Akzents (im obigen Beispiel beim Tschechischen) ist nur denkbar, wenn die neue Sprache nur durch die Schrift (statt übers Gehör) eingeführt wurde, woraus zu schließen wäre, daß Böhmen nicht an der osteuropäischen Handelssprache beteiligt war, sondern eine Art Fränkisch ("Deutsch") sprach, bevor es die kyrillische Mission annahm. Die Abgrenzung gegen Rom und die "Franken" wird dabei wohl das politische Motiv abgegeben haben.
Sprachliche Abgrenzung
Slava, d.h. Lob, Ruhm (zur Ehre Gottes) wurde zum sprachlichen Ausdruck dieser Abgrenzung, die nichts mit Sciaveni zu tun hat [SavIi/Bor passim]. Die neue Liturgie erlaubte es den osteuropäischen Völkern, eine ältere "orthodoxe" Form des Christentums einzuhalten, die ihren Vorstellungen, durch die Gotenmission des Wulfila vorgeprägt, besser entsprach. Der geopolitische Schutz des byzantinischen Reiches, das weitaus toleranter war als das römisch-fränkische, erlaubte noch lange Zeit die Beibehaltung "heidnischer", d.h. traditioneller Bräuche. In diesen Zusammenhang gehört die Bewegung der Pauliniker und der Bogomilen, die von Thrakien und Bulgarien aus bis nach Frankreich ausstrahlte und im Balkan viele Jahrhunderte hindurch bestimmend war [Topper 1988, 175f]. Zum Gegensatz von Slava, das als Lob oder sogar allgemein "Sprache" das Selbstverständnis der osteuropäischen Christen ausdrückte, wurde die uralte Bezeichnung der westlichen Nachbarstämme, der Deutschen nämlich, Nemetsch, fortan mit der Bedeutung die Stummen belegt. Dies entspricht etwa dem Vorgang bei den Hellenen, die den Eigenbegriff der Berber zu Barbaroi, die Brabbelnden, unverständlich Sprechenden, umformte, oder den anfangs erwähnten Interpretationen der drei "Stämme" Wenden, Serben und Sciaven als Diener, Knechte.
Slawische Entwicklung im frühen Mittelalter
Zur Vertiefung und Stützung noch einige weitere Daten: Im 6. Jh. (nach Palacky), vielleicht auch noch etwas später, drangen die Tschechen in Böhmen ein und mußten sich in den nächsten Jahrzehnten gegen Awaren und Franken wehren. Dabei war ihnen ein 'deutscher' Heerführer namens Samo behilflich, der das erste Königreich in jenem Gebiet gründete und bis zu seinem Tod 658 halten konnte. Weder sein Name, der baltisch oder finnisch ist, noch seine militärische Stoßrichtung, die von der Slowakei ausging, haben etwas mit den Franken zu tun. Diese Überlieferung gehört zum
"tschechischen Mythus, der um so mythischer erscheint, als Böhmen zwischen Samos Tod und dem Beginn des 9. Jhs. ohne artikulierte Geschichte ist",
wie Urzidil [1960, 115] sich treffend ausdrückt. Genau genommen ist auch "Beginn des 9. Jhs." noch um hundert Jahre zu früh angesetzt, denn die ersten Daten, 862 und 869, die die Wirksamkeit von Method und Kyrill anzeigen, wurden ja vorhin als Fälschungen erkannt. Möglicherweise betreten wir erst mit dem Todesdatum des ersten christlichen Böhmenfürsten (Borivoj f 910) geschichtliche Zeit.
Was Kroatien anbetrifft, so verlassen wir ebenfalls um 910 die Sagenzeit: ein gewisser Tomislav (auch dieser frisch getaufte Herrscher legte sich also einen auf Slav endenden Namen zu) errichtete das erste kroatische Königreich (910-928), das sogar 924 den römischen Segen erhielt.
Der Eintritt Bulgariens in die Welt der geschriebenen Historie erfolgte etwas eher mit dem schon erwähnten Chan Boris, der sich 864 mit vielen seiner türkischen Gefolgsleute taufen ließ. Der damals recht mächtige Nachbar von Byzanz nahm allerdings den griechischen Ritus an, vom slawisch-kyrillischen war wohl noch nicht die Rede. Boris hieß fortan Michael. Sein Sohn Simeon wurde in Byzanz griechisch erzogen und schuf dann den ersten zivilisierten bulgarischen Staat (893-927). Neben dem griechischen Erzbistum von Groß-Preslav entstand in seiner Regierungszeit das erste kirchenslawische Bistum, am Ochrid-See, durch Kliment (= Clemens), einen Schüler des Method. Die Annalen geben 893 als Gründungsjahr an. Es wurde 1019 durch Byzanz als autokephal, also von Preslav unabhängig, anerkannt, später jedoch stark gräzisiert und erst nach Jahrhunderten zum Mittelpunkt slawischen Christentums auf dem südlichen Balkan.
Die Gründung der autokephalen serbischen Kirche erfolgte erst 1219, bis dahin hatten weströmische und byzantinische Patriarchen versucht, Einfluß auf das bergige Binnenland geltend zu machen. Mit der Durchsetzung der kyrillischen Schrift und slawischen Liturgiesprache in Serbien ist ein eigenständiger Machtblock zwischen Dalmatiem und Albanern im Westen, Ungarn im Norden und Rumänen im Osten entstanden, der zum Kern von Südslawien geworden ist. Wie aus dem bisher Ausgerührten hervorgeht, hat diese Slawisierung nichts mit einem indogermanischen Urslawenvolk zu tun, sondern ist Ergebnis der Christianisierung.
Wie die Slawisierung Polens zu verstehen sei, habe ich hier mangels fehlender Kenntnisse nicht erläutert. Aber wenn man Sätze führender Wissenschaftler liest wie diesen:
"In der Welt der Slawen nahmen die Polen seit jeher eine Sonderstellung ein. [...] Dies hängt aufs engste mit der Frage der Urheimat der Polen zusammen, die mitten in der Urheimat der Slawen überhaupt gelegen zu sein scheint. [...] so ist es doch heute als sicher anzunehmen, daß die Polen seit undenklichen Zeiten die autochthone Bevölkerung ihrer frühgeschichtlichen Wohnsitze im Flußgebiete der Oder und der Weichsel bildeten" [Halecki 1960,23],
dann bleibt einem wohl nur der Kommentar, den ein anonymer Leser in das von mir benutzte Bibliotheksexemplar geschrieben hat: "Aha!" Oder wie Goehrke sich ausdrückte: Die kommunistischen Slawisten sind das Geld wert, das der Staat in sie investiert hat [Goehrke 11], wobei noch die einzelnen slawischen Nationalitäten gegeneinander um ihre "Ursitze" streiten.
Eine wichtige Frage, die ich notwendigerweise offen lassen muß, ist die nach den tatsächlichen Lebensdaten der Slawenapostel Method und Konstantin. Die ältesten Abschriften der Pannonischen Legenden stammen aus dem 12. und 15. Jh., die Originale sollen noch vor Ablauf des 9. Jhs. [Randow 64f] abgefaßt sein, was aber allein schon aus stilistischen Gründen unwahrscheinlich klingt. Wann die beiden Missionare "historisch" nachweisbar sind, wäre also eine der nächsten Forschungsaufgaben der Slawistik. Vielleicht bilden die Waldkirchen der slowakischen Karpathen, die bis heute als Sonderform orthodoxen Glaubens erhalten sind, einen Rest der ersten Slawenmission.
Nicht nur für die Slawen bildet das 10. Jh. die Startlinie für eine Volksentstehung, die eher nach einer durch die Geschichtsschreibung verursachten Grenzlinie aussieht. Wolfram [1987, 12] stellt lapidar fest:
- dem Ende des 10. Jh.s geschah nirgendwo [...] eine österreichische Geschichte [...] Mit anderen Worten: Es gibt keine frühmittelalterliche Geschichte Österreichs. [...] Dieses Problem ist freilich keine österreichische Besonderheit [...] Jedes Handbuch der deutschen Geschichte handelt vom frühmittelalterlichen Deutschland, obwohl es die Deutschen und ihr regnum Teutonicum vor dem 10. Jh. nicht gab"
usw. im selben Sinne, etwa: Im 6. Jh. zogen die Langobarden aus Ostnorikum-Westpannonien ab nach Italien, aber "zumindest bis ins 9. Jh. gab Konstantinopel seinen Anspruch auf Pannonien nicht auf" [ebd 21]. Dann allerdings rücken die "Ungarn" dort ein. Lag dieses fruchtbare Land drei Jahrhunderte lang brach?
Fazit
Abschließend kurzgefaßt der Befund als Modellgedanke: Die in der Völkerwanderungszeit (bis ins 6. Jh.) als Germanen bezeichneten multikulturellen Stammesverbände ("Ethnien") der Goten, Rugier (= Rus), Wenden usw. gehen in Osteuropa durch die Christianisierung (ab dem 10. Jh.) in Slawen über, wobei die kulturelle Einigung mittels der von Method und Kyrill geschaffenen Liturgiesprache und -schrift erfolgte. Das "Gotische" des Wulfila (4. Jh.) erscheint in seiner nächsten Formstufe als Altkirchenslawisch (10. Jh.), Grundlage aller heutigen slawischen Sprachen. Die Umwandlung - eine terminologische Funktion - ist Ergebnis viel jüngerer politischer Auseinandersetzungen. Ein Rückgriff auf die im 19. Jh. erfundenen Indogermanen ("Indoeuropeans") erübrigt sich.
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