Eugen Gabowitsch, Karlsruhe

 

Wieso und zu welchem Zweck entsteht überhaupt die Geschichtsschreibung?

 

Diese Frage von  Müller kann man als zweitwichtigste in ihrem Artikel betrachten (nach der positiv zu beantwortenden Frage, ob Indien geschichtslos gewesen ist). Und nun beginnt bei ihr wieder das Zitieren oder wiederholen des Klassikers Heinsohn. Und auch hier haben die Juden an allem Schuld: sie sollen sogar die Geschichte erfunden haben (und nicht die „antiken“ Griechen, die viele Namen eigener Historiker uns „geschenkt“ haben).

Das ist selbstverständlich nur ironisch gemeint, aber  Müller merkt nicht, dass sie in ihrer Interpretation für die Gründung der jüdischen Geschichtsschreibung keine Mechanismen präsentiert. Die angenommene jüdische Erfindung sieht eher wie ein Kopfprodukt – nicht als in Schritten nachvollziehbares Mechanismus - aus. Und es wird sowieso keine Brücke von dieser chronologielosen religiösen Geschichtsschreibung zu der von mir betrachteten europäischen, durchdatierten Geschichtsidee gebaut.

Angesichts des großen Zweifels an der Existenz eines Judentums in Palästina, lassen wir zuerst die armen Juden beiseite. Es ist nicht auszuschließen, dass Judentum eine rein europäische Erscheinung war und die Geschichte der – für die konstruierte europäische Geschichte - überflüssig gewordenen Juden in der Renaissancezeit nach Palästina verbannt wurde, wie auch die der Moslem nach Arabien. Warum gerade nach Palästina? Weil in diesen osmanischen Provinzen keine eigenen Herrscher imstande waren, dieser geistigen Verbannung laut zu widersprechen.

Und überhaupt, es geht nicht so sehr um die Religion der Leute, die angefangen haben, Chroniken zu schreiben. Wichtiger ist zu verstehen, wie die ersten Handlungen, die noch nicht als Geschichte schreibende verstanden wurden, wirklich unternommen wurden und wie und wann man auch zu datieren begann.

Was ist Geschichte? Diese „einfache“ Frage wird leider zu selten gestellt und fast nie klar beantwortet. Dadurch entstehen Verständigungsprobleme sogar unter Gleichgesinnten. Für mich ist Geschichte in erster Linie das, was man über die Vergangenheit weiss, nicht die geschichtliche Vergangenheit selbst. Und für mich ist Geschichte immer eine chronologisierte Geschichte (diese Chronologisierung kann für die frühesten Zeiten vielleicht etwas weniger eindeutig sein, aber sie muss mindestens versucht werden). Geschichten ohne Chronologie das sind Mythen, Legenden, oder auch ehrliche archäologische Berichte, keine Geschichte.

Andere Chronologiekritiker sehen das mal auch anders. So ist für Christoph Marx Geschichte „eine singuläre Kette singulärer Ereignisse“ (s. www.paf.li), also gerade die geschichtliche Vergangenheit und nicht unsere Kenntnisse über diese. Bei dieser Definition werden viele Fragen der Geschichtskritiker überflüssig, wie z. B.

Wozu all diese Fragen, wenn die Geschichte eine singuläre Kette singulärer Ereignisse ist?

Diese Definition beinhaltet auch weitere schwache Stellen: sie orientiert sich auf die schon überwundene Vorstellung von der Geschichte, als von einer Kette der Ereignisse oder einer adäquaten Beschreibung solcher Ketten. Geschichte im heutigen Sinne – nach der verdienstvollen Arbeit der französischen „Schule der Annalen“ – ist in erster Linie die an die historische Vergangenheit möglichst nah angelegte Beschreibung der historischen Prozesse und Relationen, wo die Ereignisse nur eine untergeordnete Rolle spielen. Für uns sind die Ereignisse in erster Linie als Orientierung für die Chronologie wichtig.

Wenn  Müller schreibt: „Was war davor, wo der Ausgräber nichts mehr findet?“, dann begeht sie einen der profansten Fehler, der mich an die Reaktion der Menschen erinnert, die zum ersten mal im Leben hören, dass die ganze Menschheitsgeschichte sich im zweiten Jahrtausend nach Christus abspielte. „Aber was war denn davor?!“ – fragen sie mit Nachdruck. Als wäre bei einer zehn mal längeren Geschichte diese Frage nicht mehr relevant!

Davor war das prähistorische Leben, das wir kaum je im Rahmen der Geschichte erfassen werden. Vielleicht werden wir mit der Zeit etwas mehr über dieses prähistorische Leben mit Hilfe der Archäologie erfahren, aber in nur wirklich sehr seltenen Fällen werden wir bei den künftigen Ausgrabungen historische Aufzeichnungen finden (insbesondere in Indien, wo sie nicht geführt wurden). Und die indische Hochkultur (bei aller Abhängigkeit von der entsprechenden Definition) begann viel später, als die Geschichtler sich das heute verstellen.

 Müller vergisst, dass die Datierung der Schichten keine primäre, sondern nur sekundäre Information liefert und so nur eine Relation der Schichten zu unseren historischen Basisvorstellungen produziert. Nicht die Schichten selbst, eher ein Vergleich der Schichten in verschiedenen Gegenden, kann neue Gedanken inspirieren. Aber darüber werden wir im Teil 3 etwas sagen.

LGR und die katastrophale postkatastrophale Situation. Versuchen wir eine etwas direktere Verbindung zwischen der letzten Katastrophe (LGR = der letzte große Ruck) Mitte des 14. Jh. und der Entstehung der europäischen Geschichtsidee auszumachen (s. www.paf.li für die Details zum LGR). Wir nehmen an, dass am Anfang des 14. Jh. schon die ersten – relativ kleinen – Städte existierten, die meisten um einen Marktplatz sich konzentrierten und dass man in diesen Städten schon klare Vorstellungen vom Immobilienbesitz und Erbschaftsrecht hatte.

Viele europäische Städte lagen nach dem LGR in Trümmern. Der Schwarze Tod hat zusätzlich noch viele Hausbesitzer eliminiert. Die übriggebliebenen wenigen Nachbarn, Diener etc. haben nun versucht, Briefkontakt zu den Erben oder einfach Verwandten der gestorbenen Immobilienbesitzer herzustellen. Dabei beschrieben sie, so gut, wie sie das konnten, die lokalen Ereignisse während und nach dem LGR.

Außer persönliche Briefe wurden in der Zeit bestimmt auch Briefe an Besitzer von größeren Immobilien, Latifundien, Schlösser etc. geschrieben, die durch den LGR zerstört oder stark beschädigt wurden. So ein Bericht sollte viele einzelne Details beinhalten, einige Namen nennen und überhaupt ziemlich viel sachliche Information beinhalten, um den weit in der Ferne lebenden Besitzern oder Erben zu helfen, eine richtige Entscheidung zu treffen.

Nach 10-20 und mehr Jahren haben diese Briefe ihre Aktualität verloren. Außerdem waren viele von diesen Briefen mit der Zeit verschwunden (Ratten haben oft noch größeres Interesse als die Erben und andere Menschen an diesen Berichten gezeigt), aber die wenigen noch übriggebliebenen konnten von den nächsten Generationen schon als eine Art Chronik gelesen werden.

Nach dem LGR wurden vermutlich auch andere Arten von Schriften zum ersten mal in der Geschichte notwendig:

v     Immobilienkataster um den später erscheinenden Erben zu ihrem Recht zu verhelfen (vor dem LGR und dem Schwarzen Tod reichte das Gedächtnis der Nachbarn, um diese Aufgabe zu erfüllen, nun waren die meisten Zeugen tot)

v     Standesregister für die Bevölkerung, die für die Aufzeichnung der Verwandtschaft, Eheschließungen, Geburt, Tod und weiteren Relationen (z. B. die Adoptionen) eingeführt wurden, um künftige Streitigkeiten in diesem Bereich beseitigen zu können

v     Aufzeichnungen zur Handwerkerkunst: wenn in einer Stadt nur noch ein alter Handwerker den LGR überlebte, sollte er seine Kenntnisse (z. B. für einen noch nicht volljährigen Enkel) aufschreiben, sonst hätten sie mit ihm sterben können, etc.

Die ersten zwei Gruppen der Relationen wurden nach dem LGR zuerst aufgeschrieben und später regelmäßig geführt. Es sind keine Bücher dieser Art bekannt, die früher, als in der Mitte des 14. Jh. eingeführt wurden.

Geschichte wurde erdichtet. Bald kamen die ersten gedruckten Bücher. Obwohl schon 100-150 und mehr Jahre verstrichen waren, konnte man noch mit Mühe und Fehlern die Zeit des LGR und der darauffolgenden Aufbauzeit mit vielen weiteren katastrophalen Erscheinungen ausrechnen. Und als einige wenige der die Zeit überlebenden Berichte aus dem 14. Jh. gedruckt wurden (das muss nicht bedeuten, dass diese Bücher noch heute existieren: Ratten! Bücherverbrennungen! Nasse Aufbewahrungsräume! Etc.), konnte man schnell feststellen, dass gerade solche Berichte gern gekauft und gelesen werden: Horrorgeschichten hatten auch damals die Hochkonjunktur.

Aber der Vorrat an den die Zeit überlebenden ersten Chroniken war schnell erschöpft. So begannen die Schriftsteller sie nachzuahmen. Bald entdeckten sie, dass auch andere spannende Geschichten (über Kriege, Schlachten, Könige etc.) regen Absatz finden. Man hat auch darüber Quasi-Chroniken oder historische Romane angefangen zu schreiben. So bewegte sich die europäische Geschichtsidee schnell in die Richtung der reinen Literatur. Es musste spannend sein! Es musste auf den Verleger überzeugend wirken: nicht im historischen, sondern im „kapitalistischen“ Sinne (Ja, so ein Buch werde ich gut verkaufen können). Der Inhalt der Romane musste nicht unbedingt der reellen Vergangenheit entsprechen.

Erst etwas später entdeckten die Herrschenden, Kirchenhäupter etc. die Geschichte für sich. Noch mehr als bei vielen Lesern der Romane, wurde in diesem Fall zwischen einem historischen Roman und einer wahren Beschreibung der Vergangenheit nicht unterschieden. Man wusste ja, dass es keine geschichtliche Vergangenheit gab. Gerade das wurde in Auftrag gegeben: eine relativ glaubwürdig klingende virtuelle Vergangenheit zu kreieren. Die neue Quasi-Chronik sollte nur den schon vorhandenen historischen Romanen nicht widersprechen.

Mindestens sollte ein Roman als eine epische Literaturgattung am Anfang, also in der Renaissancezeit, seinen Namen von der verwendeten Sprache ableiten: die romanischen Sprachen und nicht die lateinische wurden als Romansprache benützt.Bemerkung: Wiederherrstellen: Uwe meint, dass Roman von der Romanze kommt. Ich bin überzeugt, dass es umgekehrt war: Romanze als etwas, was man in Romanen schon beschrieben hat.

So begannen die Kirche und der Staat kistenweise historische Romane (= eigene Geschichte) zu bestellen und haben dafür auch kistenweise Gold und Silber bezahlt. Auch die „historischen“ Werke der Schreibenden fanden immer mehr reissenden Absatz. Das goldene Zeitalter der Geschichtsschöpfung begann. Und wo viel Geld fließt, kann man ohne psychoanalytische Kopfkonstruktionen für phantastische Länder auskommen.

Noch eine Schwäche der klassischen Vorstellungen von der Entstehung der Geschichte. Die vermeintliche Erfindung der Geschichte durch die legendären Juden des märchenhaften Palästina in sagenhaften alten Zeiten erklärt keinesfalls, warum die Geschichtsschreibung von Anfang an zu einer Gattung der Literatur wurde und sofort begann, eine erdichtete Welt zu beschreiben. Hätte man wirklich Tausende Jahre vor Druckerfindung Zeit gehabt, um historische Chroniken unter den strengen Augen der mächtigsten Herrscher der Welt zu schreiben, hätten wir wirklich Geschichte – auch wenn politisch motivierte und subjektive - und nicht Dichtung erhalten.

Und nun kommen wir zu den schon kurz erwähnten Basismodellen der alten Geschichte, ohne welche auch die Chronologiekritiker nicht auskommen können (über das Basismodell der Geschichtler reden wir hier nicht: es ist uns seit der Schule mehr oder weniger bekannt als die von Joseph Scaliger erfundene lange alte Geschichte, die schon 400 Jahre mit weiteren Anachronismen, Phantasien und Dichtungen gefüllt wird).

Es gibt mehrere Strömungen und Basismodelle in der Chronologiekritik. Die wichtigsten zwei könnte man grob durch folgende Thesenmengen beschreiben:

A)    Geschichte beginnt heute. Die Idee der Geschichte entstand spät (vermutlich nach dem Letzten großen Ruck = LGR = Die Katastrophe der Mitte des 14. Jh.). Bis in unsere Tage ist alte Geschichte reine Literatur. Sie hat sehr wenig mit einer reellen geschichtlichen Vergangenheit zu tun. Die Zeitperioden der Geschichte müssen neu verstanden werden. Die Kreierung der Geschichte dauerte bis ins 19. Jh. Unser historischer Blick (in die wahre historische Vergangenheit) reicht nur selten hinter 1648. Die alte Zeit bis 1350 überblicken wir nur sehr vage. Von den wahren historischen Prozessen vor 1350 (etwa bis 1000 nach Chr.) haben wir kaum Ahnung. Für diese uralte Zeit haben wir nur verschwindend wenige Anhaltspunke. Vor 1000 n. Chr. beginnt die vorhistorische Vergangenheit der Menschheit (an den meisten Stellen auch viel später). Wir sind keine Historiker, sondern Geschichtskritiker.

B)     Wir müssen uns in erster Linie an die traditionelle Geschichtsschreibung halten. Wenn die Historiker meinen, dass die Idee der Geschichte eine Lappalie ist, die ohne fremde Einwirkung überall in der Welt entstehen kann, dann übernehmen wir auch diesen Blödsinn. Jede Dummheit der Historiker akzeptieren wir (oft nur scheinbar) solange  wir nicht imstande sind, aus der Position der Historiker heraus etwas Besseres zu begründen. Wir übernehmen die Periodisierung der Vergangenheit, die die Historiker entwickelt haben. Wir lassen ihnen ihre heiligen Kühe (die Antike, zum Beispiel, die zurückdatierte Bibel; die Entstehung der jüdischen Religion in der Wüste und einiges mehr) und suchen die eine oder andere Schwachstelle (sonst werden sie uns nie akzeptieren). Wir sind bessere Historiker als die traditionellen Historiker.

Man könnte die Position A als radikale Chronologiekritik betrachten. Die Thesen B entsprechen dem Basismodell der vorsichtigen Chronologiekritiker. Die meisten Kritiker der Geschichtsschreibung basteln sich ihr Basismodel irgendwo zwischen den Modellen A und B. Aus der etwas ironisch ausgefallenen Beschreibung des Modells B kann man schließen, dass der Autor sich in der Nähe von A und nicht B zu befinden glaubt.

 

Literatur

1. Gabowitsch, Eugen, Die Misere der indischen Chronologie, Synesis, Heft 6/2001

2. Müller, Angelika, Geschichtsloses Indien?, Synesis, Heft 1/2002

3. Bechert, H., Zum Ursprung des Geschichtsschreibung im indischen Kulturkreis, Göttingen, 1969.

4. Berzin, E.O., Südostasien seit ältesten Zeiten bis zum 13. Jh. (Russ.), Moskau, 1995.

5. Heinsohn, Gunnar, Die Sumerer gab es nicht: Von den Phantom-Imperien der Lehrbücher zur wirklichen Epochenabfolge in der "Zivilisationswiege" Südmesopotamien, Frankfurt am Main: Eichborn, 1988

6. Heinsohn, Gunnar, Was ist Antisemitismus? - Der Ursprung von Monotheismus und Judenhaß. - Warum Antizionismus?, Frankfurt am Main: Eichborn, 1988.

7. Heinsohn, Gunnar,  Wer herrschte im Industal? Die wiedergefundenen Imperien der Meder und der Perser, Gräfelfing: Mantis, 1993.

8. Heinsohn, Gunnar, Wie alt ist das Menschengeschlecht?, MANTIS, Gräfelfing, 1996.

9. Illig, Heribert, Die veraltete Vorzeit. Eine neue Chronologie der Prähistorie von Altamira, Alt-Europa, Atlantis über Malta, Menhire, Mykene bis Stelen, Stonehenge, Zypern; Scarabäus bei Eichborn Verlag, Frankfurt/M, 1988.

10. Illig, Heribert,  Chronologie und Katastrophismus. Vom ersten Menschen bis zum drohenden Asteroideneinschlag; Mantis Verlag, Gräfelfing, 1992.