“Kamen die Mongolen aus dem Westen nach Russland?” (Synesis Nr. 4/2001)
Im Dialog-Teil des Heftes Nr. 5/2001 wurde ein Brief von Walter Haug veröffentlicht, in dem er Lob und Rüge nach Belieben verteilt, als wäre er in der Geschichtskritik und Chronologierevision der Papst selbst. Dabei werden – leider nicht nur in diesem Brief, sondern in vielen seinen Schriften - einige vernünftige Überlegungen mit wirrem Zeug vermischt. Er spricht z. B. über die russischen Quellen, die er nie gelesen hat und nur vom Hörensagen oder durch meine Buchbesprechungen kennt und dabei falsch wiedergibt (also nicht zitiert, sondern nach dem wagen Erinnern wiederzugeben versucht).
Ich möchte wirklich wissen, aus welcher schriftlichen Quelle er das Datum 1095 für die Geburt Christi erfahren hat? Wie heisst das Werk von Morosov, in dem dieser “aufgrund astronomischer Kalkulationen des Sterns von Bethlehem” die Geburt Jesu in das Jahr 1095 datiert? Ich kenne kein solches Werk. Welchen meiner Artikel hatte er lückenhaft in Erinnerung? Und warum benutzt er nicht die englische Übersetzung des wichtigsten Buches von Fomenko und Nossovskij, in welchem die Daten um das Leben Christi ausführlich besprochen werden?
In Wirklichkeit gibt es solche Kalkulationen bei Morosov nicht. Und auch bei anderen Autoren nicht, weil man keine “Rückkalkulationen des Sterns von Bethlehem” machen kann. Welche astronomische Information hätte man denn dieser Berechnung zu Grunde legen können? Man kann nur den Stern von Bethlehem mit einem der bekannten – gut oder schlecht datierten - astronomischen Ereignisse identifizieren und dadurch ein Datum für die Beobachtung des Sterns von Bethlehem ableiten.
Und das tun Fomenko und Nossovskij und nicht Morosov (der gerade bei der Schilderung der Geschichte der katholischen Kirche überzeugt war, dass etwa ab 395 nach Chr. in dieser Geschichte alles stimmt): Sie identifizieren den Stern von Bethlehem mit der Supernova in der heutigen Crab-Nebel Galaxie. Aber die Supernovae gehören nicht zu regelmäßig vorkommenden und nach Gesetzen der Himmelsmechanik kalkulierbaren astronomischen Ereignissen. Sie stellen rein zufällige astronomische Phänomene dar. Man kann sie durch Berechnungen nicht datieren. Man kann nur versuchen, eine Datierung der Supernova in geschichtlichen Quellen zu finden, nicht aber das astronomische Ereignis retrokalkulieren.
Und die Supernova in der Galaxie Crab-Nebel – die berühmteste in der Menschheitsgeschichte, wird nicht mit dem Jahr 1095, sondern mit 1054 verbunden. Also keine Retrokalkulation und kein Geburt Christi im Jahre 1095.
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Wenn man von dem Kreuzigungsalter von 31 Jahre ausgeht, wie es von vielen Theologen angenommen wird, ergibt das ein Kreuzigungsdatum von 1085. Im Artikel “Von Morosov bis zum jüngsten Fomenko. Zwei neue russische Bücher von Chronologierevisionisten” (Zeitensprünge, 2/1997) schrieb ich
“Fomenko entdeckte einige sich oft wiederholende Zeitsprünge in der orthodoxen Geschichtsschreibung der Alten Welt:
[...]
Nach einer Version der kirchlichen Tradition wurde im Jahr des Auferstehen Christi, also ca. 31 Jahre nach der Supernova, ein vollständiges Sonnenfinsternis beobachtet. Die Sonnenfinsternisse gehören zu astronomischen Phänomenen, die - anders als Supernovae – himmelsmechanisch zurück kalkuliert werden können (Bei der von Fomenko unterstützten Annahme, dass man in der Zwischenzeit, also zwischen 1054 und heute keine Verwirrungen im Sonnensystem stattfanden, die eine solche rückwirkende Berechnung nicht mehr unternehmen darf.
Die astronomischen Berechnungen haben gezeigt, dass nur einmal in der Geschichte ein solches Paar von astronomischen Ereignissen (zuerst eine uns bekannte Nova und ca. 31 Jahre später eine vollständiges Sonnenfinsternis) - zustande kam. Die vollständige Sonnenfinsternis sollte am 16. Februar 1086 in Italien und Byzanz zu beobachten sein. Selbstverständlich, dabei wird die Datierung von Supernova Anno 1054 nicht angezweifelt
Man sollte noch bedenken, dass Anfang des Jahres am 1. März oder am 1. September eingesetzt war. Also liegen zwischen dem Jahr 1054, wenn es nach der byzantinischen Tradition am 1. September 1054 anfängt, und dem Datum 16. Februar 1086 etwa 31 Jahre. Dann kommt dieses Datum der Sonnenbedeckung durch den Mond wie eine Bestätigung der oben genannten Berechnungen mit 31 Jahren des irdischen Lebens Christi vor.
Trotzdem bleibt hier eine gewisse Unsicherheit bestehen. Man sollte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Datierung 1054 fehlerhaft ist. Auch wenn die heutigen Vorstellungen der Astrophysiker über die Dynamik der explodierenden Sterne scheinhart diese Datierung unterstützen.
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Was hat das alles mit dem Jahr 1095 in der Chronologiekritik zu tun? Dieses Jahr wurde von Chronisten des angeblichen 13.-14. Jh. für die Auferstehung Christi angenommen. Genauer gesagt, sie hielten den 25. März 1095 für den genauen Tag der Auferstehung.
Um das Datum zu erreichen, sollten wir annehmen, dass Jesus Christus, der 1054 geboren wurde, nicht im Alter von 31 sondern von 41 Jahren gekreuzigt wurde. Bei der Ungenauigkeit der Überlieferung (Fehler im Geburtsdatum um 10,5 Jahrhunderte im Vergleich mit der traditioneller Datierung) kann eine solche Annahme durchaus akzeptabel sein.
Aber das Datum 1095, von dem man in den Büchern von Fomenko und Nossovskij spricht, kam eigentlich auf einem ganz anderen Wege zustande. So wurde von Nossovskij das mögliche Jahr für die Kreuzigung (also keinesfalls für Geburt) Jesu errechnet.
Dr. Gleb Wladimirowitsch Nosowskij (geb. 1958) ist Experte für mehrere Gebiete der mathematischen Stochastik und der modernen Geometrie. Mit Prof. Dr. A.T. Fomenko zusammen hat er mehrere Bücher sowie zahlreiche Artikel zur Geschichts- und Chronologiekritik veröffentlicht. In einer Anlage zu Fomenkos Buch aus dem Jahre 1993 bewies er auf Grund von vier aus der byzantinischen Tradition stammenden kalendarischen Angaben zur Auferstehung Christi, dass Christi Kreuzigung im Jahr 1095 stattfand. Und als Datum wurde auch so der 25. März 1095 ermittelt.
Dieses Datum der Kreuzigung ist auch in guter Übereinstimmung mit der traditionellen Datierung des ersten Kreuzzuges: 1096. Es wäre ziemlich schwierig zu begründen, wieso erst ca. 1065 Jahre nach der Kreuzigung ganz Europa sich plötzlich auf die Befreiung des Grabs des Herrn konzentrierte. Viel logischer wäre es, den ersten Kreuzzug praktisch sofort nach der Kreuzigung auszurufen. Und übrigens behaupteten die mittelalterlichen Chronisten, dass die Kreuzritter ca. ein Jahr nach der Kreuzigung ihren Zug gen Palästina starteten.
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Die Qualität der historischen “Fakten”, die Haug nennt, sollte nach diesen Erkläuterungen dem Leser klar sein. Und nun zu seinen Bewertungen und anderen Aussagen. Haug behauptet, dass ich mich endlich “von Fomenkos unsäglicher These, nämlich von der völlig ahistorischen These der Goldenen Horde, die im Mittelalter von Moskau aus Deutschland und den Rest Europas regiert haben sollen”, distanziert hätte. Dazu eine Frage an Herrn Haug: Wo, in welchem Artikel habe ich diese These zu meinem eigenen gemacht?
Selbstverständlich habe ich über das sehr interessante und nicht unumstrittene dicke Buch “Das Imperium. Rußland, Türkei, China, Europa, Ägypten. Neue mathematische Chronologie des Altertums. Verlag Faktorial, Moskau, 1996, 751 S. (Russisch)”.von Fomenko und Nossovskij in meinen Buchbesprechungen kurz berichtet. Das bedeutet aber nicht, dass ich die von Haug sehr ungenau präsentierte These für meine eigene erklärt hätte. Mit dieser Behauptung wiederholt Herr Haug den Fehler eines primitiv denkenden Menschen, der überzeugt ist, wenn man über etwas erzählt, dann versucht der Erzähler unbedingt damit seine eigene Position zu präsentieren, sie für die einzig wahre zu erklären und den Opponenten sofort im Sinne der neuen Theorie zu bekehren.
Ich habe schon im Artikel “Überzeugen oder informieren” (Zeitensprünge 1/1999) folgendes geschrieben: “Muß jede Veröffentlichung in “Zeitensprüngen”, jeder Vortrag während des Jahrestreffens unbedingt endgültig und sofort überzeugen? Gilt das auch für Vorträge, die zwei gegenseitige Positionen in einer wissenschaftlichen Diskussion präsentieren? Wissen wir schon alles? Haben wir kein Bedürfnis neues zu erfahren und die Geschichte der Chronologiekritik besser zu verstehen?”.
Haug hat das erwähnte Buch von Fomenko und Nossovskij (nur in Russisch vorhanden) nicht gelesen. Er kennt die Fülle der Argumente, Beweise, Berechnungen nicht, mit welchen die Autoren ihre Thesen (es geht nicht um eine, sondern um viele originelle Thesen) begründen. Er widerlegt keins dieser Argumente, er analysiert keine Beweise, er berichtigt keine der Berechnungen der Autoren.
Wie urteilt er also über das dicke Buch? Nur nach einem Kriterium: nämlich dem engstirnig nationalistischen. Laut Haug kann ein deutscher Leser jedes Buch nach nur einem Prinzip für falsch oder richtig erklären: wenn die Vorfahren der Deutschen erfolgreich vorrückten, ist das entsprechende Buch vertrauenswürdig, haben sich irgendwelche andere Völker in Richtung Deutschland bewegt, ist das ganze Buch eine einzige Lüge.
Laut Haug kann ein deutscher Leser nicht nach Argumenten, Fakten, Beweisen, logischen Konstruktionen urteilen, sondern nach der Tatsache, welches Volk als siegreicher Angreifer dargestellt wird. Die Vorfahren der Russen (oder Tartaren und Mongolen) haben Europa aus dem Osten angegriffen? Nein, O-Ton Haug: “damit sind in Deutschland keinerlei Anhänger für die Chronologie-Revision zu finden.” Aber gerade das ist heute in Deutschland das herrschende historische Modell: die “Mongolen” kommen aus dem Osten und versuchen ganz Europa zu unterwerfen.
Greifen die Deutschen Osteuropa an, dann hat der Autor, der über die entsprechende wissenschaftliche Hypothese berichtet, “Mut zum Realismus”, dann ist man “dem mühseligen Projekt Geschichtsrekonstruktion” förderlich. Also eine primitiv-nationalistische oberflächliche Bewertung von ernsthaften und komplexen Interpretationen der bekannten historischen und historiographischen Gegebenheiten! Entsprechend dieser “Logik” sind mit der Beschreibung der Wehrmacht - Feldzugs bis zum Nordkaukasus und zur Wolga Plusspunkte zu verdienen, mit der Präsentation des Vorstoßes der Roten Armee bis zur Elbe – nur Minuspunkte.
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Bekanntlich lebt heute die Geschichte nicht von solchen primitiven Vorstellungen, sondern von der Interpretation von komplexen historischen Quellensystemen, vom Versuch, aus einem chaotischen Geflecht von historischen Fakten, literarischen Phantasien, Fälschungen, Historikerfehlern, schlechten Übersetzungen, oft falscher historischer Tradition etc. Etwas brauchbares zu entwickeln. Man versucht eine vernünftige Hypothese zu formulieren, die mit genügend vielen historischen “Fakten” im Einklang steht. Diese Hypothese wird - nach einer längeren sachlichen (nicht primitiv-ideologischen) Diskussion – verschwinden oder als eine neue historische Theorie mehr oder weniger breite Anerkennung finden.
Auch wenn wir imstande wären, alle gedichteten, falsch interpretierten und aus anderen Gründen unwahrhaften Quellen zu beseitigen, wäre eine eindeutige Interpretation der restlichen, mehr oder weniger glaubwürdigen historischen Überlieferungen nur sehr selten möglich. Eine Mehrwertigkeit der Geschichte, ihre Multivariabilität, ist damit vorprogrammiert. Mehrere parallelen geschichtlichen Interpretationen, Varianten der Geschichtsschreibung, gehören damit zu der modernen geschichtlichen Realität.
Ich möchte noch einmal betonen: beide hier besprochenen Hypothesen bezüglich der Tartaren und Mongolen sind nur Hypothesen. Und ich bin für keine der Hypothesen verantwortlich. Ich will niemanden missionieren und ihm eine oder andere der Hypothesen aufzwingen. Meine Aufgabe ist die eines Kulturträgers oder –vermittlers: ich erzähle gerne über interessante Entwicklungen in der Geschichtskritik, insbesondere über solche aus dem russischen Sprachraum.
Dabei bitte ich keine die wissenschaftlichen Hypothesen von russischen Autoren für ideologische Zwecke zu missbrauchen (mindestens nicht in der primitiven Art und Weise, wie es Haug versucht zu tun). Im besten Fall können diese wissenschaftlichen Hypothesen als Denkanstöße, als Ausgangspunkte für weitere Forschung dienen. Im schlimmsten Fall werden meine Besprechungen dieser Hypothesen einfach eine kurze und vereinfachte Darstellung von originellen Ideen darstellen, die nur zu Informationszwecken dienlich sind.
Vielleicht werden meine Artikel über diese originelle Forschung auch dazu beitragen, dass mit der Zeit das eine oder andere russische Buch zur Geschichtsrekonstruktion in die deutsche Sprache übersetzt wird. Dann wird jeder selbst urteilen können, ob die Beweisführung der Autoren ernst zu nehmen ist. Jede Argumentation, die nur von dem russischen oder deutschen Bedürfnis ausgeht, das eigene nationalistische Ego zu pflegen, lehne ich entschieden ab.

Eugen Gabowitsch, Karlsruhe