EINE KATAKLYSMISCH-ARCHETYPISCHE DIMENSION IN DER GESCHICHTE ?

Dr. Horst Friedrich, Wörthsee

Erstveröffentlichung in VFG 1-90

Im Kapitel A Collective Amnesia seines so hochinteressanten, Aufruhr im akademischen Establishment hervorrufenden Erstlingswerkes sagt Velikovsky (I960): "Es ist eine psychologische Erscheinung im Leben einzelner Individuen wie auch ganzer Völker, daß die allerschrecklichsten Erlebnisse der Vergangenheit vergessen oder in das Unterbewußtsein verdrängt werden", und man müßte aus einer vorangehenden Textstelle hier anfügen "wo sie weiterleben und in seltsamen Angstvorstellungen zum Ausdruck kommen".

Mag nun Greenberg (1976) recht haben, der behauptet, Velikovsky habe als erster dieses Konzept als ernstzunehmende Arbeitshypothese präsentiert, oder Ferté (1981), demzufolge Velikovsky hier Vorläufer hatte (insbesondere Giambattista Vico und Ignatius Donnelly), Jedenfalls ist seit Velikovsky ein Szenario diskussionsfähig geworden, wonach verdrängte und unbewältigte Ereignisse aus einer Zeit furchtbarer Kataklysmen damals der Völkerpsyche eingeprägt wurden, von wo aus sie bis zum heutigen Tage die Völker zu zwanghaften Handlungen - bis hin zur "Neuinszenierung" der Kataklysmen in Form des nuklearen Holokaust - drängen. Im Bewußtmachen der prä- und protohistorischen Katastrophen und der durch sie verursachten traumatischen Erlebnisse sah Velikovsky offenbar die einzige erfolgversprechende Therapie.

Der Verfasser hat andernorts (Friedrich 1982, 1984) darauf aufmerksam gemacht, daß Völkerwanderungen, Kriegs- und Eroberungszüge, ethno-geographische und politische Konstellationen das zunächst unerwartete Charakteristikum zu besitzen scheinen, daß sie sich seit vorgeschichtlichen Zeiten und die ganze bekannte Geschichte hindurch immer wieder einmal in quasi-identischer Erscheinungsform wiederholen. Es sollen hier nur einige Beispiele für dieses Phänomen gegeben werden.

So sind etwa immer wieder nordwesteuropäische Völker die Küsten Frankreichs und der Iberischen Halbinsel entlanggesegelt, um via Gibraltar und Malta In das östliche Mittelmeer vorzustoßen: die "Seevölker Ramses' III. (Jedenfalls nach dem Szenario des Verfassers: Friedrich 1988, 1989), die Normannen (hierzu etwa Heyerdahl 1979, Kap. 6), die Kreuzfahrer, die Briten - die unter anderem Gibraltar, Malta, Zypern, Ägypten, Palästina dem Britischen Empire einverleibten - und schließlich noch 1966 die anglo-französische Suez-Intervention. Eine Parallelbewegung zu Lande quer durch Europa nach Südosten ist ebenso zu beobachten, wobei der Kelteneinfall von -279, der große Kimbern-, Teutonen- und Ambronenzug ab -114 und die Wanderungen der Bastarnen, Skiren und Goten offensichtlich nur Nachfolger ähnlicher vorgeschichtlicher Völkerverschiebungen (Dorer, Phryger) sind. Nicht zu vergessen die ständigen Züge über die Alpen nach Italien:

Italische Volksstämme, Kelten (erstmals -390), die 20.000 Sachsen, die den Langobarden zu Hilfe eilten (Eberl 1966), die Italienzüge der deutschen Kaiser des Mittelalters, Hitlers Wehrmacht. Die Invasionen Europas durch asiatische Reitervölker wie Skythen, Awaren, Hunnen, Magyaren, Petschenegen und Mongolen verlaufen nach ähnlichem Schema. Die Karthager, Wandalen, Araber und maurische Piraten attackieren Italien von der tunesischen Küste her. Der Versuch der spanischen Armada 1688, England zu erobern, dürfte eine Neuauflage ähnlicher vorgeschichtlicher Unternehmungen der Phönizier und Ibero-Tartessier von Spanien aus darstellen.

Was ethno-geographlsche Konstellationen betrifft, so ist vielleicht eines der auffälligsten Beispiele die Quasi-Identität zwischen dem byzantinischen und dem ottomanisch-türkischen Reich. Ins Auge fällt auch die offensichtliche Ähnlichkeit zwischen der Verbreitung der vorgeschichtlichen atlanto-europäischen Zivilisation und der heutigen westeuropäischen Völkergemeinschaft (wobei man das zeitlich dazwischenliegende Reich Karls des Großen als Teil-Wiederspiegelung des Archetypus verstehen könnte). Palästina-Libanon haben durch die Zeiten immer wieder eine ähnliche Rolle gegenüber Ihren Nachbarn gespielt: In biblischen Zeiten, während der Kreuzzüge und Im Zusammenhang mit dem modernen Staat Israel und der chaotisch-explosiven Situation im Libanon von heute.

Auch die Geschichte Okzitaniens (Südwestfrankreichs) ist am besten als archetypisches Phänomen zu verstehen: Obwohl diese Region von ausgeprägt ibero-ligurischem Charakter Jahrhundertelang in das Imperium Romanum integriert war, akzeptierte sie ohne großen Widerstand die verwandten arabisierten Berber (Mauren). Die maurischen Heere wurden "zufällig" gerade dort zurückgeschlagen, wo der ibero-ligurische Charakter nachließ und der keltisch-germanische Einfluß überwog. In unserer Zelt schließlich zeigte sich der Archetypus noch einmal als Vichy-Frankreich.

Der Verfasser ist gerne bereit zuzugestehen, daß in den hier vorgetragenen Betrachtungen ein spekulatives Element enthalten ist. Er ist aber davon überzeugt, daß es sich hier um echte ethno-archetypische Phänomene handelt, die zu ihrem wirklichen Verständnis einer tieferschürfenden Erklärung bedürfen. Mit billigen oberflächlichen "Erklärungen" - etwa nach dem Schema: "Die nördlichen Völker kamen über die Alpen, weil sie in den schönen Süden wollten" - ist es mit Sicherheit nicht getan.

Um zu Velikovsky und der Frage einer "collective amnesia" zurückzukehren: Es soll hier die These beigesteuert werden, daß das Ur-Muster dieser ethno-archetypischen Verhaltensmuster während der und durch die prä- und protohistorischen Naturkatastrophen dem "kollektiven Unbewußten" oder der "Völkerpsyche" (die vedanto-buddhistische Psychologie könnte das vielleicht klarer ausdrücken) eingeprägt wurde, d.h. daß diesen damals eingebrannten" Verhaltensmustern tatsächliche, erstmalige Völkerverschiebungen, Wanderungen, Kriegszüge, Seefahrten und ethno-geographische Konstellationen zugrundeliegen, die im Augenblick der überwältigenden Kataklysmen, oder in ihrem unmittelbaren Gefolge, stattgefunden hatten beziehungsweise existierten.

Der Verfasser möchte mit diesem kleinen Beitrag zu weiteren Forschungen in dieser Richtung anregen. Er glaubt, daß derartige Betrachtungen eine nicht zu verachtende Hilfe sein könnten bei dem Versuch, die Verhältnisse im Augenblick der letzten Katastrophen zu rekonstruieren. Hierbei denkt er nicht zuletzt auch an die archetypischen Verbindungen zwischen der Alten und der Neuen Welt. Um ein Beispiel zu geben, das gewisse semitische Aspekte Alt-Südamerikas (etwa bei Heyerdahl 1952, Homet 1958) mit dem hamito-semitischen Charakter der atlanto-europäischen, "Iberischen" Zivilisation (hierzu Friedrich 1989) in Verbindung bringt: Waren etwa die Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen im 15./16. Jahrhundert nur archetypisch bedingte "Neuinszenierungen" vorgeschichtlicher iberischer Seefahrten? Fand, als die Kataklysmen losbrachen oder in ihrem Gefolge, eine iberische Kolonisation Südamerikas statt?


Literatur:

Eberl, BarthoIomäus (1966): Die Bajuwaren, Augsburg

Ferté, Thomas L. (1981): "Collective Amnesia: A Brief History of the Concept", in: KRONOS. vol. VIII/No.1

Friedrich, Horst (1982): "De la prehistoire archétypique?" in Méditerranéa Nr. 9, Carcassonne

Friedrich, Horst (1984): archetypical Patterns in History and Prehistory". in STONEWATCH; Newsletter of the Gungywamp Society, Noank/Connecticut

Friedrich, Horst (1988): Velikovsky, Spanuth und die Seevölker-Diskussion: Argumente für eine Abwanderung atlanto-europäischer spätbronzezeitlicher Megalith-Völker gegen 700 v. Chr. in den Mittelmeerraum; Wörthsee

Friedrich, Horst (1989): "Velikovsky, Spanuth und die Seevölker", in VFG-Bulletin 5-89, Gräfelfing

Greenberg, L. (1975): "Phobia, Amnesia, and the Psyche", in KRONOS Vol.I/l

Heyerdahl, Thor (1952): American Indians in the Pacific, London

Heyerdahl, Thor (1979): Early Man and the Ocean, Garden City/New York

Homet, Marcel F. (1958): Die Söhne der Sonne, Olten/Freiburg

Velikovsky, Immanuel (1950): Worlds in Collision, New York, deutsch 1951