Baierns "dunkle Jahrhunderte"

Kann eine Verkürzung der früh-mittelalterlichen Chronologie Licht

auf zwei bislang ungeklärte Probleme der baierischen Anfänge werfen?

Dr. Horst Friedrich

Erstveröffentlichung in VFG 1-91


Die von H. Illig (1991a,b) vorgetragene kühne These, an der konventionellen abendländischen Geschichtsrechnung müßte eine mehrhundertjährige Verkürzung vorgenommen werden, mag auf den ersten Blick abwegig, bizarr, aussichtslos erscheinen. Allein - von der überstürzten Formulierung verwerfender Pauschalurteile ist abzuraten. Es ist eine alte Lebenserfahrung, und ein Studium der Geschichte der Wissenschaften bestätigt es: Wo Wissenschaft ist, da ist auch Irrtum. Die Liste wissenschaftlicher Irrtümer ist besorgniserregend lang und wird täglich länger. Auch die Geschichtsforschung ist eine Wissenschaft.

Dementsprechend können auch ihre Aussagen nur eine relative partielle und vorläufige Glaubwürdigkeit beanspruchen. Unsere Unwissenheit über die frühmittelalterliche europäische Geschichte ist auch heute noch so riesengroß, wie sich dies der Laie wohl kaum vorstellt, zumal ihm populäre Darstellungen listenreich eine intime Kenntnis der Völker, Personen und Verhältnisse jener Zelt vorgaukeln. Diese unsere riesengroße Unwissenheit sollte uns Anlaß genug sein, auch Illigs These zunächst einmal dankbar entgegenzunehmen und ihre problemlösende Potenz an ausgewählten Themenkomplexen einer Probe zu unterwerfen. Es wird sich dann schon zeigen, was sie wert ist.

Der Verfasser möchte vorschlagen, als einen hierfür besonders geeigneten Themenkomplex die baierischen "dunklen Jahrhunderte" heranzuziehen, jene kritische Phase der baierischen Ethnogenese, in der - nach dem konventionellen Szenario - parallel zum Merowingerreich, zum Reich Karls des Großen und zum "Helligen Römischen Reich Deutscher Nation" aus dem Dunkel der Völkerwanderungszeit das baierische Stammesherzogtum entsteht, das dann 1180 Friedrich Barbarossa den Wittelsbachern überträgt.

Sollte Illigs tentative These einer geschichtsverfälschend gedehnten frühmittelalterlichen Chronologie zu Recht formuliert worden sein, so würde für diese ganze verwickelte Metamorphosen-Reihe nur noch ein stark geschrumpfter Zeitraum zur Verfügung stehen. Die baierischen "dunklen Jahrhunderte", von der umstrittenen Einwanderung um 600 bis zum konsolidierten baierischen Stammesherzogtum, würden sich in einem solchen Szenario erheblich anders darstellen, als man bisher glaubte. Der Verfasser möchte mit diesem kurzen Beitrag dazu anregen, die Haltbarkeit der Illigschen Arbeitshypothese an zwei sich besonders aufdrängenden Teil-Themenkomplexen zu überprüfen: an den Problemen der baierischen Ethnogenese und der Christianisierung der Baiern.

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Probleme der baierischen Ethnogenese

Der Verfasser liebt es, die geschichtlich gewordene ethnische Zusammensetzung eines Volkes in Analogie zu einer geologischen Schichtenfolge darzustellen, mit "Ablagerungsdaten" für die verschiedenen ethnischen Schichten. Auch dieser Vergleich hinkt: Die ethnischen Schichten bleiben natürlich nicht - wie geologische Schichten - getrennt, sondern vermischen sich im Laufe der Zeit. Die Tabelle möge verdeutlichen, wie etwa eine solche "ethnische Schichtenfolge" für den baierischen Volksstamm auszusehen hätte:

"Ablagerungsdaten" in konventioneller Chronologie

1945 Sudetendeutsche, Schlesier, ...
ca. 800 Avaren-Reste
ca. 508 "Baiern" (= Sueben, Skiren, Heruler, Osen-Sadagen, Hunnen-, Sarmaten-.und Goten-Reste)
ca. 450 Alamannen-Sueben
ab -15 "Romanen"
ca. -500 Kelten
ca. -700 Räto-Berber (Ligurer)
        

In einer zukünftigen Arbeit beabsichtigt der Verfasser, eine kritische Betrachtung der bisherigen Vorstellungen über die baierische Ethnogenese vorzulegen und darin zu zeigen, wie wenig die bisherigen Vorstellungen befriedigen können, wenngleich gewisse Autoren (Eberl 1966, MItscha-Märheim 1960) wohl einen größeren Grad an Wahrscheinlichkeit für die von ihnen vorgelegten Szenarien beanspruchen können als andere. Es fängt schon damit an, daß die meisten Autoren - von den Barockgelehrten (etwa Einzinger v. Einzing 1777) bis zu Bosi (1990) - implizit den Eindruck erwecken, als hielten sie die Kelten für autochthon in Baiern. Als gäbe es autochthone Völker auf unserem Planeten!

Der Verfasser hat deswegen in unsere Erinnerung zurückgerufen (Friedrich 1990), daß wir mit einer vorkeltischen, räto-ligurischen (berberischen) Vorbevölkerung zu rechnen haben. Darauf hatte bereits Wirth (1928) hingewiesen, und die Entdeckung von Obermayr (1971, zitiert bei Topper 1977, 211), daß bei den Norikern eine iberische Schrift verwendet wurde, bestätigt es.

Es muß mit aller Deutlichkeit unterstrichen werden, daß sich alle Völker auf unserem Planeten in einer derartigen "ethnischen Schichtenfolge", wie sie oben am Beispiel der Baiern verdeutlicht wurde, entwickelt haben. Es gibt nichts anderes. Alle Ethnien werden immer wieder überlagert durch andere Ethnien, und die daraus resultierende Vermischung führt zu einer abgewandelten Völkerpersönlichkeit. Ein Volk ist also nichts Statisches, sondern etwas gewissermaßen in einem nie endenden alchemistischen Evolutionsprozeß, mit immer wieder neu hinzugefügten Ingredienzen, Begriffenes.

Unter diesen Umständen muß es befremden, wie plötzlich eine paradigmatische Ideologie Anhänger gewinnen konnte, die allen Ernstes behauptet, bei der baierischen Ethnogenese habe es überhaupt keine Einwanderung oder Landnahme gegeben und die Baiern hätten sich - ein ans Rätselhaft-Wunderbare grenzender Vorgang! - an Ort und Stelle gebildet (Bosi 1990, 37; Reindel 1966. 199). Bemerkt denn niemand, daß sich hier der logische Faden verwickelt hat, daß ein Widerspruch in sich selbst vorliegt? Dazu gezwungen durch die inhärente Widersprüchlichkeit dieses Paradigmas, muß Bosi (1990, 38) schließlich sogar postulieren: "Daß die Baioarii aber zum Althochdeutsch sprechenden Stamm wurden, ist die Folge der Überlagerung durch die Franken ..." Das glaube, wer kann!

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Herkunft und Landnahme der Bajuwaren sind ein Problem

Entschieden gegen diese paradigmatische Ideologie spricht bereits der Baiern/Bajuwaren-Name, wie Reindel (1981, 465) selbst später bemerkt; ebenso die Existenz eines slowakisch-nordungarlschen Baiwaria (Mitscha-Märheim 1960, 219). Die noch von Menghin (1990, 76) vertretene Behauptung, "die populäre Vorstellung von der Einwanderung der Bajuwaren als sozusagen geschlossene Volksgruppe kann nach den Ergebnissen der jüngsten Forschung nicht mehr aufrechterhalten werden", muß daher umso verwunderlicher erscheinen, als dieser Autor selbst zugibt, daß "die archäologische Argumentation auf wackeligen Beinen steht" (Menghin 1990, 94).

Oberdeutlich zeigt auch die ausgezeichnete Zusammenfassung von M. Menke (1990, 123-220) über das 1986er Symposion auf Stift Zwettl, wo man sich mit den letzten 160 Jahren Forschungsgeschichte zu den Anfängen des Baiernstammes beschäftigte, daß wir im Grunde noch immer nicht viel weitergekommen sind als zu Zeiten des Spätbarock. Allen apodiktisch vorgetragenen Szenarien zum Trotz gilt unverändert Reindels (1981, 461) Urteil: "Herkunft und Landnahme der Bajuwaren sind ein Problem, das die Forschung bis heute nicht befriedigend gelöst hat", respektive die Feststellung Störmers (1988, 462), daß "das Problem der Entstehung des Baiernstammes sich der Forschung heute schwieriger denn je gestaltet".

Zurück zu Illigs stark zusammengeschobener Chronologie. In ihr stehen vielleicht nicht mehr als rd. 50 Jahre zur Verfügung, um die folgenden Phasen des Geschehens (konvent. datiert) unterzubringen:

Dies würde aber bedeuten, daß damals über eine Generation der oberflächlich romanisierten und christianisierten räto-keltischen Vorbevölkerung Vindeliciens wiederholt Katastrophen hereinbrachen, die man nur mit erdrutschartigen Naturkataklysmen vergleichen kann, die alles niederwalzen. Diese Ereignisse dürften die räto-keltische Vorbevölkerung derart demoralisiert, dezimiert und ihrer kulturellen Identität beraubt haben, daß sie sich widerstandslos - als weiteren Bestandteil der so heterogenen Bevölkerung - dem auf Homogenisierung zielenden Prozeß der Entstehung des baierischen Stammesherzogtums, seinem sozialen Gefüge und seiner allgemeinen Kultur einfügte.

So könnte der für die "Bojerfabel" (Quitzmann 1873. 8) so abträgliche, sonst - angesichts der zahlreichen räto-keltischen Vorbevölkerung - unverständlich bleibende Befund plausibel gemacht werden, daß nämlich im ganzen altbaierischen Raum nach dem so gründlich arbeitenden Quitzmann (ebd., 11 f.) keine einzige Erinnerung an keltische Tradition oder an die keltischen Götternamen aufgefunden werden kann. Im Gegenteil zeigen alle derartigen Forschungen, daß der tonangebende Bestandteil der um (konventionell) 600 einwandernden Baiern ursprünglich zu den Wanen-Verehrern um die Deutsche Bucht gehört haben muß, der allerdings - obwohl zu den Westgermanen gehörig und im Gegensatz zu allen anderen deutschen Volksstämmen - auf seinen Wanderungen weit in den Südosten Europas (Heruler etc. am Schwarzen Meer!) hinunter kam, bis an die Grenzen Asiens womöglich.

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Probleme der Christianisierung der Baiern

Könnte Illigs stark komprimierte frühmittelalterliche Chronologie auch zu einem besseren Verständnis der uns heute noch sehr dunklen Vorgänge bei der Christianisierung der Baiern verhelfen? "Das Volk der Bajuwaren hat sein Christentum von merkwürdig vielen Völkern erworben", sagt ein so großer Kenner der Materie wie Pater Romuald Bauerreiß, O.S.B. (1924, 43). ein offenes Wort von einem Gottesmann jener römisch-katholischen Kirche, die auch heute noch - aussichtslos, weil dem Zeitgeist entgegen - bemüht erscheint, die missionarischen Leistungen ihrer großen Vorgänger und Konkurrenten, der arianischen Kirche und der irischen Culdeer-Kirche, zu verdunkeln.

Es soll hier nicht von dem zweifellos meist nur oberflächlichen römischen Staats-Kirchenchrlstentum der räto-keltischen Vorbevölkerung Altbaierns die Rede sein. Kaum bezweifelt kann werden, daß bei den im slowakisch-nordungarischen Baiwaria sitzenden Baiern arianische Sendboten mit mehr oder minder großem Erfolg versucht haben werden, ihre Richtung des Christentums - bis heute für die römisch-katholische Kirche eine gefährliche Irrlehre - zu verbreiten. Dafür spricht, daß, lange vor Rom, die arianische Kirche ausgedehnte und generell erfolgreiche Missionierungsaktivitäten unter den keltisch-germanischen Völkern Mittel- und Westeuropas verfolgte. Bald nach der Übersiedelung der Baiern von Baiwaria ins heutige Baiern begannen die Sendboten der irischen Culdeer-Kirche auch Im altbaierischen Raum mit ihren Aktivitäten, die in der Bevölkerung sehr gut ankamen (Bauerreiß 1924, passim). Erst nachdem, mit Hilfe des "weltlichen Armes", der arianische und irische Einfluß unterdrückt worden war, gelang es der römisch-katholischen Kirche, im baierischen Raum bleibend Fuß zu fassen.

Wiederum soll auch hier gefragt werden: Welche Auswirkungen hätte die Illigsche Verkürzung der frühmittelalterlichen Chronologie auf unsere Vorstellungen darüber, wie die verschiedenen Wellen der Christianisierung der Baiern verlaufen sein könnten? Bedenkt man den nachhaltigen und bleibenden Eindruck, den die irische Mission in der altbaierischen Bevölkerung hinterlassen hat, was sich in mancherlei Brauchtum bis zum heutigen Tage erhalten hat (Bauerreiß 1924, passim), so will es gänzlich unmöglich erscheinen, den Iren für diese Leistung nur die überaus kurze Zeit zuzubilligen, die ihnen in der Illigschen Chronologie dafür verbleiben würde, sofern das konventionelle Szenario einer frühzeitigen Einbeziehung des fränkisch-deutschen Reichsgebietes in eine römische Kirchenorganisation stimmt.

Der Verfasser sieht in dieser Unmöglichkeit aber keineswegs automatisch ein "Killer-Argument" gegen die Illigsche Chronologieverkürzung. Er möchte im Gegenteil daran erinnern, daß, wie wir eben sahen, das singuläre baierische Phänomen eines totalen Verlustes aller Erinnerung an keltische Tradition und Glaubensvorstellungen - und dies nota bene trotz einer zahlreichen räto-keltischen, in den Baiern aufgegangenen Vorbevölkerung - doch zweifellos eine Deutung im Illigschen Sinne als durchaus nicht abwegig erscheinen läßt. Sollte nun aber die illigsche Chronologieverkürzung zu Recht postuliert worden sein, so würde in der Tatsache der bleibenden und starken Erinnerung an das Wirken der culdeischen Glaubensboten ein starkes Verdachtsmoment dafür vorliegen, daß die Einbeziehung des baierischen Stammesherzogtums in die römische Kirchenorganisation kaum vor 1000 erfolgt sein kann.


Bibliographie: