Prof. Dr. Anatolij Timofejewitsch Fomenko (Moskau)

 

 

Kritik traditioneller Chronologie

der Antike und des Mittelalters

(Welches Jh. n. Chr. haben wir?)

 

Übersetzt von Alexander Beierbach

Lektorat: Eugen Gabowitsch und Uwe Topper

Korrektur Uta Topper

 

 

Vorlesung 1

Zeitgeschichtliche Probleme alter Chronologie

 

    1. Über ägyptische Chronologie

Wesentliche Unstimmigkeiten zwischen chronologischen Daten alter Quellen und der im 16. Jh. angenommenen (und heute noch üblichen) Version der Chronologie wurden auch in ihren anderen Zweigen gefunden. So begleiten bedeutende Schwierigkeiten auch die Fixierung der ägyptischen Chronologie.

Zum Beispiel stellt Herodot (in seinen berühmten "Historien") bei folgerichtiger und konsequenter Darstellung ägyptischer Geschichte die Pharaonen Rhampsinitos und Cheops nebeneinander, indem er Cheops als Nachfolger von Rhampsinitos nennt.

Der moderne Kommentator weist Herodot energisch zurecht: "Herodot verwechselt die Chronologie Ägyptens: Rhampsinitos (Ramses II) war Pharao der 19. Dynastie (1345-1200 v.Chr.) und Cheops – Pharao der 4. Dynastie (2600-2480 v.Chr.)" [9, Kommentar 136, S. 513].

Hier beträgt der Unterschied zur heute angenommenen Version 1200 Jahre. Insgesamt stellt sich heraus, dass die "Chronologie der Pharaonen von Herodot nicht mit der Königsliste von Manetho übereinstimmt" [9, Kommentar 108, S. 512,]. Im allgemeinen ist die Chronologie von Herodot bedeutend kürzer als die heutige Version. Z.B. stellt er Anysis gleich nach Asychis , d.h. er "macht einen Sprung vom Ende der 4. Dynastie (ca. 2480 v.Chr.) zum Beginn der äthiopischen Herrschaft in Ägypten (ca. 715 v.Chr.)" [9, Kommentar 150, S. 516]. Und das ist ein Sprung von 1800 Jahren.

Wir hoffen, dass der Leser keine Zweifel daran hat, dass der moderne Historiker die alte Geschichte viel besser kennt als Herodot.

Leser: Der heutige Historiker ist mit modernen wissenschaftlichen Methoden ausgestattet, und Herodot musste sich, natürlich, auf unbestätigte Zeugnisse, Gerüchte etc, stützen. Daran ist nichts verwunderlich.

Autor: Zweifelsohne. Aber fahren wir fort.

Der berühmte Ägyptologe Heinrich Karl Brugsch schrieb: "Wenn der Wissensdurst des Lesers auf einer Frage stehen bleibt: kann man die Epochen und Geschichtsmomente der Pharaonen aus chronologischer Sicht als endgültig beständig erachten, und sich dabei zu den von unterschiedlichen Wissenschaftlern erstellten Tabellen zuwendet, bleibt er verwundert vor den absolut unterschiedlichen Meinungen in den Berechnungen der Pharaonenjahre stehen, die von Mitgliedern der modernen Schule gemacht wurden. Zum Beispiel, so wurde von deutschen Wissenschaftlern die Zeit der Thronbesteigung von Mena, dem ersten Pharao, bestimmt: Boeckh ordnet sie auf das Jahr 5702 v.Chr. ein, Unger - 5613, Brugsch - 4455, Lauth - 4257, Lepsius - 5702, Bunsen - 3623. Der Unterschied zwischen erstem und letztem Glied dieser Zahlenreihe ist verblüffend, denn er beträgt 2079 Jahre... Die gründlichsten Arbeiten und Forschungen, durchgeführt von kompetenten Wissenschaftlern zur Überprüfung der chronologischen Reihenfolge von Regierungszeiten der Pharaonen und die Reihung der ganzen Dynastien, haben die unabdingbare Notwendigkeit der Zulassung in der Liste von Manetho von zeitgleichen und parallelen Regierungen bewiesen, womit die Summe der Zeiten, die für die Regierung des Landes von dreißig Dynastien von Manetho benötigt wird, wesentlich verkürzt wird. Allen Entdeckungen auf diesem Gebiet zum Trotz bleiben die Zahlenangaben bis jetzt (d.h. Ende des 19. Jh. – A. F.) in einem äußerst unbefriedigenden Zustand" [10, S. 95-97].

(Dazu Originalton von H. Brugsch [10a, S. 34-35]: "Wenn des Lesers Wissbegier sich mit der Frage nach bereits festgestellten Zeitangaben in der Geschichte der Pharaonen beschäftigt, und er prüfende Umschau hält unter den vorhandenen, von den Gelehrten aufgestellten Zeittafeln: muß ihn seltsam der verschiedensten Meinungen Gegensatz in den Berechnungen der neuen Schule berühren. Wann Mena, der erste Pharao, den Thron bestieg, das haben des Beispiels halber die deutschen Forscher in folgenden Anfängen anzugeben gesucht:

Boeckh im Jahre 5702 von unserer Zeitrechnung

Unger " " 5613 " " "

Brugsch " " 4455 " " "

Lauth " " 4157 " " "

Lepsius " " 3892 " " "

Bunsen " " 3623 " " "

Der Unterschied zwischen den beiden äußersten Endpunkten dieser Reihe ist erschreckend groß, denn nicht weniger als 2079 Jahre beträgt die Zahl.

Um ihn vollkommen zu begreifen nehmen wir der Vergleichung halber an, daß sechszig Jahrhunderte nach unseren Tagen die gelehrte Welt sich in Streitfragen ergehen würde über des römischen Kaisers Augustus Regierungszeit, die, wie wir heute genau wissen, mit dem Jahre 30 vor des Herrn Geburt begann. An Stelle dieser richtigen Zeitbestimmung würden unsere gelehrten Weisen in ihren Meinungen so weit auseinander gehen, daß der eine als höchste Jahreszahl 207 vor unserer Zeitrechnung, der andere als niedrigste Zahl dagegen 1872 nach derselben Zeitrechnung für des Audustus Regierungsantritt in Ansatz brächte.»

Und weiter [10a, S. 36]: "Die gründlichsten Untersuchungen, welchen gelehrte Fachmänner die Reihenfolge der Pharaonen und die zeitliche Ordnung der Königshäuser unterzogen, bestätigtem zugleichdie unabweisliche Notwendigkeit in der Manethonischen Liste gleichzeitige und neben einander fortlaufende Regierungenanzusetzen und somit die Gesamtdauer der dreißig laufenden Regierungen anzusetzen und somit die Gesamtdauer der dreißig Königsgeschlechter um einen bedeutenden Maaß zu verringern. Ungeachtet aller Entdeckungen auf diesem Gebiete befinden sich dennoch die Zahlen in einem beklagenswertem Zustand ...Erst mit dem beginn des sechs und zwanziogsten Königshauses ist die Zeitrechnung auf Angaben begründet, welche an Zuverlässigkeit nur weenig zu wünschen übrig lassen.» - Lekt.)

Zu unserer Zeit hat sich dieser Zustand nicht verbessert. Die modernen Tabellen schätzen das Datum der Thronbesteigung von Mena auch ziemlich unterschiedlich ein, und zwar: ca. 3100 v.Chr. [11, S. 28-29] oder ca. 3000 [1, S. 176]. Der vollständige Unterschied beträgt also 2700 Jahre (vergl. mit der Datierung von Boeckh. – Lekt.). Falls wir aber noch die Meinung anderer (darunter auch der französischen) Ägyptologen in Betracht ziehen, dann verschärft sich die Situation zusehends: Champollion nennt 5867 v.Chr., Lesuer (?) - 5770, Mariette - 5004, Chabat (?) - 4000, Meyer - 3180, Andrzejewski - 2850, Wilkinson - 2320, Palmer - 2224 u.s.w.. Der Unterschied zwischen der "Datierung" von Champollion und der "Datierung" von Palmer beträgt 3643 Jahre!

Es stellte sich heraus, dass "die Ägyptologie, dank welcher sich die Dunkelheit, unter der sich das ägyptische Altertum verbarg, zum ersten Mal verzog, erst vor 80 Jahren entstanden ist" - schrieb Ende des 19. Jh. Chantepie de La-Saussaye [12, S. 95]. Er fährt fort: "Die Forschungsergebnise wurden schnell popularisiert, man kann sagen, zu schnell... Dadurch kamen viele falsche Ansichten in Umlauf.... Es ist noch nicht möglich, die ägyptische Chronologie zusammenzustellen" [12, S. 95].

Eine noch merkwürdigere Situation entstand bei den Königslisten, die von sumerischen Priestern verfasst wurden. "Es war eine Art Rückgrat der Geschichte, unseren chronologischen Tabellen ähnlich ... Leider hatten diese Listen wenig Sinn ... Die Chronologie der Königslisten - schrieb der berühmte Archäologe L. Woolley - war im allgemeinen sinnlos" [13, S. 15] Außerdem "wurde die Reihenfolge der Dynastien willkürlich gewählt" [13, S. 107].

Es stellt sich heraus, dass das heute den Königslisten a priori zugeschriebene Alter den modernen archäologischen Daten widerspricht. Führen wir ein stichhaltig gutes Beispiel auf:

Woolley berichtet über die Ausgrabungen der Königsgräber in Mesopotamien und erzählt über eine Serie von Funden goldener Toilettenartikel. Und dann behauptete plötzlich "einer der besten Experten, dass diese Gegenstände arabische Erzeugnisse des 13. Jh. sind (! - A.F.). Und er darf dafür nicht gerügt werden", schreibt Woolley wohlwollend weiter "es hat doch keiner geahnt, dass solch hohe Kunst im 3. Jahrtausend vor Christus existieren könnte!" [13, S. 61]. Man möge sich wieder an das Anfangszitat unserer ersten Vorlesung erinnern.

Leser: Ich hoffe, Sie werden nicht vorschlagen, die alten Sumerer aus der fernen Antike ins 13. Jh. n. Chr. zu versetzen?

Autor: Das werde ich nicht machen. Aber später, nachdem wir gemeinsam alle Kreise der alten Chronologie durchwandert haben, werde ich Sie vor dem Verabschieden fragen, ob sich Ihre Meinung zu den heute gebräuchlichen Datierungen des Altertums geändert hat oder nicht. Jetzt fahren wir aber weiter fort.

(Zu diesem kleinen Dialog muss man folgendes bemerken. 1993 wusste Prof. Dr. A. T. Fomenko noch nicht, dass Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn von der Universität Bremen sehr streng bewies, dass die Datierung der Sumerer-Zivilisation in das dritte vorchristliche Jahrtausend falsch ist. (s. sein Buch Die Sumerer gab es nicht: Von den Phantom-Imperien der Lehrbücher zur wirklichen Epochenabfolge in der "Zivilisationswiege" Südmesopotamien, Frankfurt am Main, Eichborn, 1988). Er zeigt in dem Buch, dass im Rahmen der traditionellen Chronologie die Sumerer eher in die ca. zweitausend Jahre spätere Epoche der Chaldäer zu datieren sind. – Lekt.)

Leider wurde die Entwicklung dieser kritischen Konzeption des 19. - Anfang des 20. Jh. wegen fehlender objektiver statistischer Methoden nicht zu Ende geführt, die es erlauben würden, die früheren chronologischen Versionen zu überprüfen und die Daten objektiv zu bestimmen.

 

Literatur

Bemerkung: Autor benutzt und zitiert hauptsächlich Quellen in Russisch. In der vorliegenden Übersetzung wurden auch im Falle der ins Russische übersetzten Bücher Zitate aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt. Bei deutschen Originalquellen oder falls die Quelle ins Deutsche schon früher übersetzt wurde, wurde asserdem angestrebt, das Originalzitat zusätzlich zu bringen.

In der vorliegenden Liste wurden die russischen Titel zuerst in deutscher Transkription wiedergegeben. Wo es möglich war, wurden unter der gleichen Nummer mit zusätzlichen Buchstaben "a", "b" etc. auch der Titel des Originals und/oder die Übersetzung in eine der westeuropäischen Sprachen der Literaturliste beigefügt. Wo das unmöglich war, wurden die Übersetzungen der Titel in Klammern gegeben.

Wir bitten jeden Leser diese Liste aufmerksam zu prüfen und zu überlegen, ob er weitere Informationen über die westlichen Herausgaben der entsprechenden Quellen besitzt. Für solche Angaben wären wir den Lesern sehr dankbar.– Lekt.

1. Bikerman, E. J., Chronologija drevnego mira. Moskau, Nauka, 1976. (Russ.)

1a. Bickerman, E. J., Chronology of the Ancient World. London, 1968 (auch 1980).

1b. Bickerman, Elias, Chronologie. Teubner, Leipzig, 1963.

2. Gurewitsch, Ja., Kategorii srednevekovoj kul’tury. Moskau, 1972 (Die Kategorien der mittelalterlichen Kultur, Russ.).

3. Jewsebij Pamfil (Eusebios Pamphili), Tserkovnaja istorija. St-Peterburg, 1848. (Russ.)

3a. Eusebius <Caesariensis>, Kirchengeschichte. Studienausg., unveränd. Nachdr. der 3. Aufl. 1989. - Darmstadt: Wiss. Buchges., 1997.

4. Bler, G. Chronologicheskie tablitsy, Bände 1-2. Moskau, 1808-1809 (Chronologische Tabellen, Russ. Ob das Buch eine Übersetzung ist und wie der Familienname des Autors im Originalbuch geschrieben wurde ist uns leider nicht bekannt – Lekt.).

5. Kympan, F., Istorija chisla π. Moskau, 1971. (Russ.)

6. Momsen, T., Istorija Rima. Moskau, 1936 (Russ.).

6a. Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin, 1931, Bänder I, II, III und V.

7. Radtsig, N., Natschalo rimskoj letopisi, Moskau, 1903 (Anfang der römischen Chronographie. Russ.)

8. Martynow, G., O natschale rimskoj letopisi. Moskau, 1903 (Zum Anfang der römischen Chronographie. Russ.)

9. Gerodot, Istorija. Leningrad, 1972.

9a. Herodot, Historien. Alfred Kröner, Stuttgard, 1971.

10. Brugsch, H, Istorija faraonow. Letopisi i pamjatniki drewnich narodow. Egipet. St.-Peterburg, 1880 (Russ.)

10a. Brugsch, Heinrich, Geschichte Ägypten’s unter den Pharaonen, Leipzig, 1877 (auch Wiesbaden, 1981).

11. Kusischtschina, W.I. (Redaktion), Istorija drewnego Wostoka, Moskau, 1979 (Geschichte des Alten Orients. Russ.).

12. Schantepi-de-la-Sossej, Illjustrirowannaja istorija religij. Moskau, 1899

12a. Chantepie de La-Saussaye, Pierre Daniel, Manual of the science of religion, London, 1891

12b. Chantepie de La-Saussaye, Pierre D., Lehrbuch der Religionsgeschichte, Tübingen (auch Freiburg)

13. Wulli, I., Ur haldeew., Moskau, 1961.

13a. Woolley, Charles L., Ur "of the Chaldees". Ithaca, NY, 1982 (auch London. 1982)

13b. Woolley, Charles L., Ur of the Chaldees. London, 1930. (auch Harmondsworth, 1938, 1940 und 1952)