Prof. Dr. Anatolij Timofejewitsch Fomenko (Moskau)

 

 

Kritik traditioneller Chronologie

der Antike und des Mittelalters

(Welches Jh. n. Chr. haben wir?)

 

Übersetzt von Alexander Beierbach

Lektorat: Eugen Gabowitsch und Uwe Topper

Korrektur Uta Topper

 

 

Vorlesung 1

Zeitgeschichtliche Probleme alter Chronologie

 

1.2. Zur römischen Chronologie

Beschreiben wir einmal kurz die Situation der römischen Chronologie, da sie eine ausschlaggebende Rolle in der gesamten Chronologie spielt. Breite Kritik der "Tradition" begann schon im 18. Jh. in der 1701 in Paris begründeten "Akademie der Inschriften und schönen Künste", wo in den 20-er Jahren desselben Jh. die Diskussion über die Glaubwürdigkeit der römischen Geschichte im allgemeinen (Poillie (?), Fréret und andere) begann. Das angesammelte Material diente als Grundlage für eine vertiefte Kritik im 19. Jh.; einer der führenden Vertreter dieses wissenschaftlichen Zweiges, der den Namen Hyperkritizismus bekam, war Theodor Mommsen. Er schrieb z. B. folgendes:

"Obwohl Tarquinius der Zweite schon zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters volljährig war und erst neununddreißig Jahre danach zum König gekrönt wurde, sollte er als junger Mann den Thron bestiegen haben. Pythagoras, der eine Generation vor der Vertreibung der Könige (509 v.Chr.) nach Italien gekommen ist, gilt trotzdem von römischen Historikern als Freund des weisen Numa (starb etwa 673 v.Chr.; der Unterschied beträgt hier mindestens 100 Jahre - A.F.). Botschafter, die im Jahre 262 nach Gründung Roms nach Syrakus gesandt wurden, führten die Verhandlungen mit Dionysios dem Älteren, der die Macht erst sechsundachtzig Jahre später ergriff (348 v.Chr.)" [6, S. 76].

(Diese Stelle sieht im Original so aus [6a, Band I, S. 929]: "König Tarquinius der Zweite, obwohl bei den Tode seines Vaters schon erwachsen und neununddreissig Jahre nach demselben zur Regierung gelangend, besteigt nichtdestoweniger noch als Jüngling den Thron. Pythagoras, der etwa ein Menschenalter vor Vertreibung der Könige nach Italien kam, gilt den römischen Historikern darum nicht minder als Freund des weisen Numa. Die im Jahre 262 der Stadt nach Syrakus geschickten Staatsboten verhandeln dort mit dem älteren Dionysios, der sechsundachtzig Jahre nachher (348) den Thron bestieg." – Lekt.)

Die traditionelle Version der römischen Chronologie steht auf wackeligem Fundament. Zwischen den unterschiedlichen Jahreszahlen der Gründung Roms gibt es zum Beispiel die Differenz von 500 Jahren [6, S. 876]. Das Problem besteht darin, dass nach der Meinung von Hellanikos und Damastos (?) (die angeblich im 4. Jh. v. Chr. lebten), die Aristoteles später unterstützte, die Stadt Rom von Äneas und Odysseus gegründet wurde (und Roma nach dem Namen einer Trojanerin genannt wurde). Das bedeutet, dass die Stadt Rom gleich nach Beendigung des Trojanischen Krieges gegründet wurde, dessen Teilnehmer Äneas und Odysseus waren. Aber nach der heutigen Version der traditionellen Chronologie liegt der Trojanische Krieg (angeblich 13. Jh. v.Chr.) ca. 500 Jahre vor der Gründung Roms (angeblich 8. Jh. v.Chr.).

Entweder wurde Rom 500 Jahre früher gegründet oder

der Trojanische Krieg fand 500 Jahre später statt oder

die alten Chronisten berichten uns absichtlich falsch, dass Äneas und Odysseus Rom gegründet haben.

Übrigens, was machen wir jetzt mit Romulus? Ob Romulus einfach der andere Name von Odysseus ist? Kurz gesagt, es tauchen viele Fragen auf. Und je weiter wir graben, desto mehr Fragen bekommen wir.

Nach einer anderen Version ist die Stadt nach Rom, dem Sohn von Odysseus und Kirke, benannt worden. Heißt es nicht, dass Rom (oder Rem, Bruder von Romulus) - Sohn von Odysseus ist? Aus dem Blickwinkel der modernen Chronologie ist das unmöglich.

Solche Unbeständigkeit des wichtigen Datums der "Gründung von Rom" wirkt sich wesentlich auf die Datierung einer großen Zahl von Dokumenten aus, die durch die Angabe der Jahre "seit der Gründung der Stadt Rom (AUC oder ab urbe condita – LEKT.) datiert sind (wie in der berühmten "Geschichte" von Titus Livius). Überhaupt ist "die traditionelle römische Geschichte durch Werke sehr weniger Autoren bekannt; das solideste von diesen ist zweifelsohne das historische Werk von Titus Livius" [7, S. 3].

Der berühmte Historiker Theodor Mommsen schrieb: "Bei der ... Weltchronologie war es noch schlechter... die Entwicklung der Archäologie ließ hoffen, dass die traditionelle Geschichte durch Dokumente und andere sichere Quellen überprüft wird, aber diese Hoffnung ging nicht auf. Je mehr Forschungen es gab und je tiefer sie gingen, desto deutlicher wurden die Schwierigkeiten beim Schreiben einer kritischen Geschichte Roms." [6, S. 512, eine Rückübersetzung aus dem Russischen – Lekt.].

(Das Zitat sieht im Original so aus [6a, Band III, S. 612]: "Dass es auf dem Gebiet der allgemeinen Stadt- und gar der Weltchronik noch weit erbärmlicher aussah, lag in der Natur der Sache. Die steigende Regsamkeit der antiquarischeb Forschung liess erwarten, dass aus Urkunden und sonstigen zuverlässigen Quellen die gangbare Erzählung rektufiziert wedeb würde; allein diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Je mehr und je tiefer man forschte, desto deutlicher traf es hervor, was es hiess eine kritische Geschichte Roms schreiben."– Lekt.)

Außerdem, weiter laut Mommsen: "Gelogen in Ziffereingaben wurde bei ihm (bei Valerius Antias. - A.F.) systematisch bis zur (für Antias – Lekt.) modernen Geschichtsperiode... Er (Alexandros Polyhistor. - A. F. Dieser "römische" Autor schrieb fünf Bücher zur römischen Geschichte, die lt. Mommsen, s. gleiche S. wie für das Hauptzitat, eine "scheussliche Mischung aus muffiger historischer Überlieferungen und trivialer, insbesondere erotischer, Erfindungen" darstellten – Lekt.) machte in einem Beispiel vor, wie man die fehlenden 500 Jahre vom Fall Trojas bis zur Gründung Roms chronologisch in Einklang bringt - (wir wiederholen an dieser Stelle die oben erwähnte Information darüber, dass laut einer anderen chronologischen Version, im Unterschied zu der heute gültigen,, Troja unmittelbar vor Gründung Roms, und nicht 500 Jahre davor fiel. - A.F.) ... und füllte diese Periode mit einer inhaltslosen Liste von Kaisern, die sich leider im Umlauf der ägyptischen und griechischen Chronisten befanden; allem Anschein nach war er derjenige, der von Kaiser Aventinus, und Tiberinus und albaner Geschlecht der Silvier ins Licht geholt hat, bei denen seine Nachkommen es nicht versäumt haben, sie mit eigentlichen Namen, bestimmten Regierungszeiten und sogar, für bessere Anschaulichkeit, mit Porträts, auszustatten." [6, S. 513-514].

(Das etwas vollere Zitat sieht im Original so aus [6a, Band III, S. 613-4]: "Die Zahlenlüge war hier systematisch bis auf die gleichzeitige Geschichte herab durchgeführt und die Urgeschichte Roms aus dem Platten abermals ins Platte gearbeitet; [...] In der Tat fehlte es auch nicht an griechischen Literaten, welche die römische Geschichte zu Romanen verarbeiteten: eine solche Schrift waren zum Beispiel die schon unter den in Rom lebenden griechischen Literaten erwähnte Polyhistors Alexandros (S. 583) fünf Bücher ‚über Rom‘, ein widerwärtiges Gemisch abgestandener historischer Überlieferung und trivialer, vorwiegend erotischer Erfindung. Er vermutlich hat den Anfang dazu gemacht das halbe Jahrtausend, welches mangelte um Troias Untergang und Roms Entstehung in den durch die beiderseitigen Fabeln geforderten chronologischen Zusammenhang zu bringen,, auszufüllen mit einer jener tatenlosen Königslisten, wie sie den ägyptischen und griechischen Chronisten leider geläufig waren; denn allem Anschein nach ist er es, der die Könige Aventinus und Tiberinus und das albanische Silviergeschlecht in die Welt gesetzt hat, welche dann im einzelnen mit Namen, Regierungszeit und mehrerer Anschaulichkeit wegen auch einem Konterfei auszustatten die Folgezeit nicht versäumte. – So dringt von verschiedenen Seiten her der historische Roman der Griechen in die römische Historiographie ein; und es ist mehr als wahrscheinlich, dass von dem, was man heute Tradition der römischen Urzeit zu nennen gewöhnt ist, nicht der kleinste Teil aus Quellen herrührt von dem Schlage der Amadis von Gallien und der Fouquéschen Ritterromane " – Lekt.)

Theodor Mommsen war längst nicht der einzige Wissenschaftler, der vorgeschlagen hat, die Revision der wichtigen Daten der Antike zu starten.

Die breite Darstellung des ultraskeptischen Standpunktes, welcher die Richtigkeit der Chronologie des kaiserlichen Rom sowie überhaupt die Glaubwürdigkeit unseres Wissens von den ersten fünf (!) Jh. römischer Geschichte anzweifelte, s. z. B. in den Werken von Louis de Beaufour und G. K. Lewis.

Der russische Autor N. Radtsig schrieb: "Das Problem besteht darin, dass die römischen Chroniken uns nicht erhalten geblieben sind und deswegen müssen wir alle unsere Annahmen auf die Meinungen der römischen Annalenschreiber stützen. Aber auch da... stoßen wir auf große Schwierigkeiten, und die größte davon ist, dass wir diese Annalen in ziemlich schlechtem Zustand haben..." [7, S. 23].

Es wird angenommen, dass in römischen Fasten eine jährliche Erfassung aller Amtsträger des antiken Rom unternommen wurde. Diese Tabellen könnten natürlich als ein stabiles Skelett für eine Chronologie dienen.

Aber G. Martynow berichtet: "Wie kann man denn die ständigen Diskrepanzen in Einklang bringen, die wir bei Livius auf Schritt und Tritt in den Namen der Konsuln antreffen, sowie öfters Lücken und absolute Willkür in der Auswahl der Namen? Die Angaben sind so mit Unrichtigkeiten übersät, dass man sich darin oft nicht zurechtfindet. Schon Livius erkannte die Unsicherheit seiner Chronologiebasis." [8, S. 6-7, 14].

Aus dem Resümee von G. Martynow folgt: "Man muss erkennen, dass weder Diodor noch Livius eine richtige Chronologie haben... Wir dürfen nicht den Geschichtsbildern Leinenbücher trauen, von denen ausgehend Licinius Macrus (?) und Tuberonus (?) völlig widersprüchliche Aussagen machen. Die glaubwürdigsten Dokumente erweisen sich bei sorgfältiger Untersuchung als unecht und viel später fabriziert." [8, S. 20, 27-28].

(Die Sache mit den Leinenbüchern soll kommentiert werden. Vermutlich schrieben die oben von Mommsen und hier von Martynow gerügten "römischen" Autoren in Wirklichkeit in der frühen Renaissancezeit, in der die aus Papier gefertigten Bücher - gleich Leinenbücher, weil das Papier aus Stofffetzen, einschliesslich Leinenstoffe, hergestellt wurde - noch eine gewisse Novität darstellten und als solche bezeichnet wurden, um von den aus Papirus oder Pergament hergestellten älteren Büchern zu unterscheiden. Damit waren diese Schriftsteller vermutlich näher an die "römische" Zeit als die meisten "römischen" Schriftsteller der Renaissance. Sie schrieben über die "Römer" ohne zu viel Pietät und nicht im perfekten künstlerischen Stiel der späteren Renaissanceautoren, die die meisten Apokryphen produzierten, die heute fast die ganze Bibliothek der "römischen" Autoren ausmacht. Im 19. Jh. war der "klassische römische" Stiel der letzteren Autoren und nicht der vulgäre der früheren Schriftsteller kanonisiert worden. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass auch die gerügten Autoren ohne der schriftstellerischen Phantasie gearbeitet haben. Das könnte durchaus die "völlig widersprüchlichen Aussagen" erklären – Lekt.)

 

Literatur

Bemerkung: Autor benutzt und zitiert hauptsächlich Quellen in Russisch. In der vorliegenden Übersetzung wurden auch im Falle der ins Russische übersetzten Bücher Zitate aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt. Bei deutschen Originalquellen oder falls die Quelle ins Deutsche schon früher übersetzt wurde, wurde asserdem angestrebt, das Originalzitat zusätzlich zu bringen.

In der vorliegenden Liste wurden die russischen Titel zuerst in deutscher Transkription wiedergegeben. Wo es möglich war, wurden unter der gleichen Nummer mit zusätzlichen Buchstaben "a", "b" etc. auch der Titel des Originals und/oder die Übersetzung in eine der westeuropäischen Sprachen der Literaturliste beigefügt. Wo das unmöglich war, wurden die Übersetzungen der Titel in Klammern gegeben.

Wir bitten jeden Leser diese Liste aufmerksam zu prüfen und zu überlegen, ob er weitere Informationen über die westlichen Herausgaben der entsprechenden Quellen besitzt. Für solche Angaben wären wir den Lesern sehr dankbar.– Lekt.

1. Bikerman, E. J., Chronologija drevnego mira. Moskau, Nauka, 1976. (Russ.)

1a. Bickerman, E. J., Chronology of the Ancient World. London, 1968 (auch 1980).

1b. Bickerman, Elias, Chronologie. Teubner, Leipzig, 1963.

2. Gurewitsch, Ja., Kategorii srednevekovoj kul’tury. Moskau, 1972 (Die Kategorien der mittelalterlichen Kultur, Russ.).

3. Jewsebij Pamfil (Eusebios Pamphili), Tserkovnaja istorija. St-Peterburg, 1848. (Russ.)

3a. Eusebius <Caesariensis>, Kirchengeschichte. Studienausg., unveränd. Nachdr. der 3. Aufl. 1989. - Darmstadt: Wiss. Buchges., 1997.

4. Bler, G. Chronologicheskie tablitsy, Bände 1-2. Moskau, 1808-1809 (Chronologische Tabellen, Russ. Ob das Buch eine Übersetzung ist und wie der Familienname des Autors im Originalbuch geschrieben wurde ist uns leider nicht bekannt – Lekt.).

5. Kympan, F., Istorija chisla π. Moskau, 1971. (Russ.)

6. Momsen, T., Istorija Rima. Moskau, 1936 (Russ.).

6a. Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin, 1931, Bänder I, II, III und V.

7. Radtsig, N., Natschalo rimskoj letopisi, Moskau, 1903 (Anfang der römischen Chronographie. Russ.)

8. Martynow, G., O natschale rimskoj letopisi. Moskau, 1903 (Zum Anfang der römischen Chronographie. Russ.)