Die Odessiten - wer sind sie?

Lilia Beloussowa

Zeitschrift "WOSTOK", Heft 1/2000.

Das Wort "Odessit” löst ein Schmunzeln aus. Man erwartet irgend etwas Ungewöhnliches. Der echte Odessit mit seiner unerklärlichen Ausstrahlung erfüllt diese Erwartung in der Regel. Kontaktfreude, Humor, Unternehmungslust und gesunder Egoismus gelten als Merkmale des Odessiten. Dieses Bild bliebe jedoch unvollständig, würde man nicht versuchen, das Phänomen zu verstehen. Ich lud einen Mann zum Gespräch ein, der nicht nur in Odessa geboren wurde und seine Heimatstadt leidenschaftlich liebt, sondern sich beruflich mit Anthropologie befaßt.
Mein Visavis ist Andrej Dobroljubski (s. foto), aus einer alten odessitischen Familie. Seit seiner Geburt lebt er in der gleichen Wohnung in der Pirogowskaja-Straße, aus der eine Vielzahl "Prototypen” der Odessaer Literatur kommen. Die wichtigsten Möbelstücke in seiner Wohnung sind Bücherregale: "In unserer Familie lesen alle ständig!” Er betrachtet das Buch je nachdem als Freund, Gesprächspartner, Menschen, schlechte Angewohnheit oder Droge.
Andrej ist Geschichtsprofessor, übrigens der dritte in der Familie.
Sein Großvater Konstantin Dobroljubski war Dekan der Historischen Fakultät der Staatlichen Universität Odessa und Redakteur der "Geschichte Odessas”, die zum 150. Gründungsjahr der Stadt vorbereitet, aber nicht herausgegeben wurde, da die Behörden den spezifischen Geist der Jubiläumsausgabe nicht verstanden. Sein Vater Oleg leitete an der Universität den Lehrstuhl für Geschichte der UdSSR. Andrej absolvierte ebenfalls die Universität in Odessa. Seine Dissertation verteidigte er in Petersburg.
Sein wissenschaftliches Interesse gilt vor allem der Geschichte Frankreichs des 17. Jahrhunderts und der Urgeschichte des Nördlichen Schwarzmeervorlandes. Er leitet heute den Lehrstuhl für Geschichte der Ukraine der Südukrainischen Pädagogischen Universität.
Dobroljubski ist ein echter Odessit, der in seine Stadt verliebt ist und sagt, er könne sich in einer anderen Stadt nicht wohl fühlen ("Ich bin ein kulturell begrenzter Mensch”). Eben aus Liebe zu Odessa begann er, sich mit deren Geschichte zu befassen. Er liebt es, Entdeckungen zu machen ("Das ist wie ein sexueller Trieb.”). Auf meine Frage nach dem Wesen der Odessiten antwortete er: Die Odessiten sind ein Volk.

Die ersten Odessiten. Wer sind sie und was haben sie den nachfolgenden Generationen vermittelt?
Unsere Stadt hat unbestreitbar ein Häuflein sehr talentierter Menschen - Abenteurer und Außenseiter - mit allen daraus resultierenden Folgen hervorgebracht. Da mir Admiral Josef Deribas irgendwie nahe steht, möchte ich auf ihn als einen typischen Odessiten verweisen. Verallgemeinern wir die Eindrücke seiner Zeitgenossen, bekommen wir folgendes Bild: Er war ein sehr kluger und zugleich schlauer, geschickter, vorsichtiger, extrem bezaubernder Mann und ein glänzender Intrigant. Er besaß erstaunlicherweise Kühnheit, Tapferkeit, Edelmut und körperliche Kraft. Deribas identifizierte sich mit dem antiken Helden Odysseus, das heißt mit dessen Listigkeit, Geschicklichkeit und Kühnheit. Die typologische Ähnlichkeit der beiden Charaktere ist unbestreitbar. Deribas besaß die gleichen Eigenschaften wie Odysseus und war fraglos fähig, seinem Vorbild nachzueifern. Er besaß wie Odysseus, der "den Kampfeseifer der Krieger anregte”, die Fähigkeit, andere durch seinen Charme zu beeinflussen und mitzureißen. Deribas machte in Rußland eine für einen Einwanderer beneidenswerte Karriere: Er war Neapolitaner spanischen Ursprungs, wurde zum Admiral der Russischen Flotte, zum Favoriten Katharinas II. und zum Vater eines ihrer Kinder. In seinen Träumen wollte er wie Alexander der Große werden. Dies gilt auch für andere Väter des odessitischen Volkes, die aus allen Ecken und Enden der Welt gekommen waren und den Grundstein der Stadt gelegt haben. Die eigentlich unverträglichen Eigenschaften im Charakter unserer Vorfahren konzentrieren sich organisch und widerspruchsfrei im heutigen Odessiten, der sich merklich aus der Masse abhebt.
Du nennst die Odessiten ein Volk. Warum?
Sie weisen alle Merkmale eines Volkes auf: Die Odessiten haben ihre eigene Mythologie, Kultur, Sprache, Tradition, die keine Analogien kennt, und sie haben keinen Minderwertigkeitskomplex.
Wann entstanden die Legenden über Odessa, und wer sind ihre Helden?
1913 erschien ein bemerkenswertes Buch über die Odessiten und ihre Traditionen - "Altes Odessa” von Alexander Deribas, Großneffe des berühmten Admirals. Es war der erste Sammelband der alten Geschichte Odessas. Ein Buch, das die Odessiten kennen, lieben und heute noch lesen. Es wurde schon vorher versucht, die Besonderheiten, den Selbstwert und die Eigenart der Gemeinschaft der Odessiten literarisch festzuhalten. Dieses Interesse für die eigene Geschichte und die Erkenntnis des eigenen Charakters erklärt sich dadurch, daß Odessa bereits Ende des 19. Jahrhunderts seine Stellung als besonderes Phänomen verstanden hatte. Der Snobismus der Odessiten zeigte sich in klassischen Sätzen wie "Wir sind ein Wert an sich”, "Wir haben eine einzigartige Kultur”, "Odessa ahmt niemanden nach”, "Bei uns ist es nicht schlechter als in Moskau” (lies: "Wir sind keine Provinz”).
Odessa ist die einzige Stadt in der Ukraine, ja der ganzen GUS, die, ohne Hauptstadt zu sein, Anspruch auf Eigenständigkeit erhebt. Die Kultur Odessas weist wie die Kultur eines Volkes eine erstaunlich starke Resistenz auf. Sie existiert, trotz aller Versuche, sie zu vernichten. Es sei nur darauf verwiesen, daß die berühmte Deribassowskaja-Straße in der Sowjetzeit viermal umbenannt wurde! Doch die Odessiten blieben beim historischen Namen. Oder nehmen wir die Sektion "Odessica” beim Haus der Wissenschaftler. Wo findet sich noch eine so starke Gemeinschaft von Enthusiasten - Ingenieure, Seeleute, Offiziere, Juristen, Dozenten und Lehrer -, die sich für die "Geschichte” als zweiten Beruf entschieden, um die Kulturtraditionen der Stadt fortzusetzen?
Ich bin Archivarin. Daher liegt mir dieses Thema besonders nahe, und vom Wissen unserer Heimatkundler bin ich immer wieder beeindruckt: penible Arbeit mit historischen Quellen und viele Publikationen, Mitwirkung an Rundfunk- und Fernsehsendungen und Einbeziehung der Jugend. Ist das ein besonderer "Odessaer” Patriotismus?
Es handelt sich eher um das Streben der Gesellschaft, ihr reiches Potential optimal zu nutzen. Aus meiner Sicht ist Odessa keine Stadt. Odessa ist ein Land, eine Zivilisation, die eigene Schutzmechanismen hat. Es sind starke, dabei unpolitische Reflexe. Am besten kommen sie im Kulturbereich zur Geltung. Warum hat sich bei uns die ukrainische Nationalbewegung totgelaufen? Wir sind kosmopolitisch, wir leben an und für sich, wir sind uns selbst genug. Es gibt Begriffe wie "Odessaer Folklore”, "Odessaer Literatur”. Diese Folklore ist die Kultur der Vorstadt, die sich auf das elitäre Zentrum hin entwickelte und es ständig bereicherte. Was sind die Urquellen dieser Folklore? Das ist ein amerikanisches Phänomen. Mehr als hundert Nationalitäten leben zusammen und sind durch eine einzige Gemeinsamkeit miteinander verbunden: Sie empfinden sich als Odessiten. Die Folklore ist die saftige Gaunersprache von Moldowanka und Peresyp, der Jargon aus dem GULAG, die dichterisch bearbeitet und vertont sind. Nicht nur als populäre Couplets, sondern auch in der Operette "Weiße Akazie”. Oder der Vater des sowjetischen Jazz, der absolut populäre Leonid Utjossow. Er hatte keine Stimme, aber wer konnte besser die Hymne auf Odessa singen und den Traum des Odessiten, er selbst zu bleiben, ausdrücken? Die Folklore förderte in sehr hohem Maße die Entstehung der Odessaer Literatur. Neben den Kapazitäten, die Ende des 19. Jahrhunderts bis 1910 den Grundstein dieser Literatur gelegt und ein verallgemeinertes Bild des Odessiten geschaffen haben, entwickelte sich in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts eine neue literarische Schule. Sie hinterließ uns Vorbilder literarischer Helden - Benja Kriek ("Odessaer Erzählungen” von Babel) und Ostap Bender ("12 Stühle”, "Das Goldene Kalb” von Ilf und Petrow). Ausgesprochen odessitische Literaten sind Schabotinski, Olescha, Katajew und Paustowski, die das selbstgenügsame Milieu Odessas eingefangen und wiedergegeben haben. Hier müßten wir über die berüchtigte Sprache der Odessiten reden.
Ich erinnere mich, wie Wlas Doroschewitsch sie charakterisierte: "Das ist keine Sprache, das ist ein Sprachensalat. Zubereitet nach griechischer Art, mit polnischer So-ße. Sie erkennt weder Konjugationen noch Deklinationen noch Abstimmungen an, es ist die Sprache echter Schwätzer - frei wie der Wind.” Das war 1895. Lebt denn diese Sprache noch?
Jain. Die heutige Odessaer Sprache besteht aus Folkloreschablonen, dem Wortschatz der sowjetischen Kommunalkas, den literarischen Traditionen von Babel, Katajew, Ilf und Petrow, dem Einfluß der Ukrainisierung und der Dominanz von Fremdsprachen. Vieles hat sich verändert. Geblieben sind allerdings das Kolorit, die Eigenständigkeit und die Erkennbarkeit. Der beste Beweis hierfür ist die Nachahmung: Es gibt Hunderte Liedermacher, die angeblich Odessaer Lieder verfassen. Die Odessaer Sprache erlebt heute eine ganz eigenartige Renaissance. Die Zeitschrift "Odessa” spielt dabei die Rolle des Reanimators, hier ist die ständige Rubrik "Lexikon der halblebendigen Odessaer Sprache” zu finden.
Odessa ist die Hauptstadt des Humors. An jedem 1. April findet die Veranstaltung "Humorina” statt. Es ist ein Fest. Doch ist es auch ein Vergnügen, dem Gespräch von zwei Odessiten zu folgen: Wortspiele, Antworten auf Fragen mit Fragen, Wortschöpfungen, die sich in keinem Wörterbuch finden und nur den Odessiten verständlich sind, Jonglieren mit Präpositionen, Endungen und überhaupt die Mißachtung der Grammatik und der Intonation. Für Fremde ein Kuriosum. Die Odessiten bemerken dies nicht. Humor ist notwendiges, natürliches Lebensmilieu.
Humor ist ein Paradox. In Odessa ist es der Scharfsinn vieler Völker. Viele Paradoxe bedeuten viel Humor. Ein breiter Informationsstrom verzehnfacht die Möglichkeiten schöpferischer Kreativität. Der Informationsaustausch findet ständig statt. Die kulturellen Gepflogenheiten werden vor allem natürlich in der Familie gepflegt. Familie bedeutet bei uns mehr als nur die Kleinfamilie, sie schließt Verwandte und Nachbarn ein. Die von den italienischen Architekten erfundenen Kleinhöfe in Odessa, Wohnungen, die auf kreisförmig geschlossene Veranden hinausgehen, mit einem gemeinsamen Garten und einem Brunnen, mit nur einem Eingang - das ist eben die multinationale Familie, in der alle einander ergänzen. Nehmen wir als Beispiel meinen Freund Schurik Friedman. An seinem Geburtstag deckt er die Tische im Hof. Eingeladen sind alle! Die Gäste kommen von selbst. Das Fest ist die Fortführung der Kommunalka. Die Freunde aus der Kindheit sind die zuverlässigsten Freunde: Diese Gemeinschaft existiert das ganze Leben. Die Höfe bewirkten eine positive Stadtkultur.
Die Stadtgemeinschaft verändert sich. Die Migration ist hoch. Deutsche, Juden, Russen reisen aus, Menschen aus der Provinz und dem Kaukasus kommen. Immer häufiger hört man: Das ist ein "anderes” Odessa, das sind "andere” Odessiten. Heute sei Odessa nur noch Mythos, ein anziehender Mythos zwar, den es in seiner "klassischen” Variante jedoch nicht mehr gibt. Ist der Odessite in der Masse erkennbar?
Natürlich. Ich erkenne ihn nicht nur, ich fühle ihn - nach dem Verhalten, der Kombination unverträglicher Merkmale, der kulturellen Aufnahmefähigkeit. Zudem verraten ihn äußere Merkmale - Kleidung, Intonation, Gesten und der Gang. Der Odessit ist bezaubernd, er kann geistreich erzählen. Er kleidet sich eigenartig - putzsüchtig ist er, und greift die neusten Trends der Mode auf, vermischt jedoch die Stile und mißachtet das Alter. Für ihn gibt es keine Tabus: "Alles ist möglich, ich bin frei.” In Odessa sind die Menschen optisch sehr schön, besonders die Frauen. Wir haben keine Autoritäten. Das Leben bei uns ist durch Öffentlichkeit gekennzeichnet. In Odessa kennt jeder jeden, obwohl über eine Million Menschen in der Stadt leben. Sogar Alexander Puschkin ist ein öffentlicher Schriftsteller. Sein Denkmal steht ohne Podest direkt auf der Straße. Er wird begrüßt, mit ihm wird gesprochen, und es ist völlig belanglos, was andere davon halten. Unsere Regisseure haben diese Besonderheit bemerkt: Kira Muratowa nimmt für die Hauptrollen einfache Odessiten - Laien, wodurch die Filme nur besser werden! Es ist kein Zufall, daß das erste Filmstudio der Ukraine in Odessa gegründet wurde. Der Odessite ist von Natur aus ein großer Schauspieler und liebt es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Haben Odessa und die Odessiten einen Traum?
Odessa ist eine Stadt, in der der Gedanke der antiken Polis fortlebt. Odessa ist ein Korridor der Geschichte, alles bewegt sich, nichts ist beständig. Darin bestehen Schönheit und Harmonie der Stadt. Odessa entstand als eine freie Stadt, und der Traum ist, frei zu bleiben.

Lilia Beloussowa,
Mitarbeiterin des Staatlichen
Archivs des Gebiets Odessa, Odessa