ZWEI FRÜHE KIRCHTÜRME
DES BREMER BISTUMS

Heinz B. Maass (Sept.l993)


Die Kirche in Neuenkirchen und die Kirche in Berne sind sehr schwer erklärbare Sonderfälle im Kirchenbau, weil zuerst der Turm allein gebaut wurde und später erst das Kirchenschiff daran gesetzt wurde.

Um hier eine Erklärung zu finden, sei erst einmal aus der Arbeit Schmid (1989) in Ausschnitten zitiert, die die Grundlage für die weiteren Betrachtungen liefert:

S.92:
"Mit dem Abschluß der Sachsenkriege 804 war auch das Ende der eigentlichen angelsächsisch-friesischen Missionierung erreicht. Dennoch konnte von einer durchgreifenden Christianisierung der Bevölkerung bei weitem noch nicht die Rede sein."

S.94/95/96:
"Ein Spiegelbild dieser Entwicklung sind die frühmittelalterlichen Gräberfelder im friesischen und sächsischen Stammesgebiet. Die planmäßigen Untersuchungen solcher Fundplätze, sowie Grabungen im Bereich alter Kirchen haben gezeigt, daß die Bestattungsplätze vor der Zeit der Christianisierung im allgemeinen außerhalb der Siedlungen lagen. Nur in Ausnahmefällen schlossen spätere Kirchenbauten mit ihren christlichen Friedhöfen topographisch an heidnische Gräberfelder an. In solchen Fällen wurde mit der Errichtung der Kirche im Bereich des älteren heidnischen Gräberfeldes nun auf geweihtem Boden christlich bestattet. Durch die systematische Freilegung frühmittelalterlicher Gräberfelder wurde jedoch auch der Nachweis erbracht, daß die Übergangszeit vom Heidentum zur Christianisierung in den einzelnen Regionen erheblich schwankte, ferner waren Rückschläge in der Verbreitung des Christentums erkennbar.
Die Anlage der Gräberfelder erfolgte mit Beginn der frühmittelalterlichen Landnahme von Marschgebieten und dem Anfang des Landesausbaus auf der Geest seit dem 7. Jahrhundert.... In diesem nordwestdeutschen Küstengebieten bildeten Urnengräber...die ältesten Bestattungsformen.... Die Hügelgräber mit Urnenbeisetzungen sind auf den Fundplätzen meistens gruppenweise angeordnet.... Ihre Datierung reicht im allgemeinen vom späten 7. bis in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts. Vereinzelt ist die Fortdauer der Brandbestattung bis in das hohe Mittelalter nachgewiesen.
Die Gliederung in Grabhügelgruppen einzelner Familienverbände bestimmte auch die weitere Belegung mit den nachfolgenden unverbrannten Bestattungen in Körpergräbern, die bereits im 8. Jahrhundert einsetzt und bis in das 10. Jahrhundert fortgeführt wurde.... Erst in der jüngsten Belegungsphase beigabenloser Körpergräber wurden diese.... in einheitlicher West-Ost-Orientierung angelegt."

S.104:
"Der Übergangsprozeß vom Heiden- zum Christentum vollzog sich nach den archäologischen Befunden aus den frühmittelalterlichen Gräberfeldern allmählich und war in den einzelnen Regionen erheblichen Schwankungen unterworfen.... Offensichtlich wurde auf den außerhalb der Siedlungen gelegenen frühmittelalterlichen Gräberfeldern so lange weiterbestattet, bis nach vielerorts festgestellten Siedlungsverlagerungen die Errichtung der Kirche im Ortskern erfolgte. Damit kommt der archäologischen Erschließung der ältesten Kirchengrundrisse zur Klärung des Einsetzens einer durchgreifenden kirchlichen Organisation und damit erfolgreicher Christianisierung im Küstengebiet eine besondere Bedeutung zu."

S.105:
"Zu den ältesten kirchenähnlichen Sakralbauten des 7./8. Jahrhunderts außerhalb der Gebiete des spätantiken Christentums gehörten kleine Holzbauten in der Form rechteckiger Pfostensetzungen mit zum Teil eingezogenem Rechteckchor. Sie finden sich gelegentlich am Rande der Reihengräberfelder, sind also offensichtlich in einer fortgeschrittenen, bereits christlichen Belegungsphase als Friedhofskapellen auf spätmerowingerzeitlichen süd- und westdeutschen ehemals heidnischen Friedhöfen errichtet worden. Oft standen solche "Kapellen" auf denjenigen Teilen der Gräberfelder, deren Bestattungen sich aufgrund reicher Beigaben als sozial herausgehobene Gruppe von Toten kennzeichnen ließ.
Auch für den friesisch-sächsischen Küstenbereich haben einige Untersuchungen in den Niederlanden den Nachweis erbracht, daß kirchenähnliche Sakralbauten an den Bereich eines heidnischen oder frühchristlichen Gräberfeldes angrenzen oder auf diesen Plätzen erbaut wurden."

S.108:
"Die bisherigen Kichengrabungen haben gezeigt, daß mit den ältesten christlichen Sakralbauten in der Form der Holzkirche nicht vor dem 10. Jahrhundert zu rechnen ist. Alle sicheren Datierungen beginnen um 1000 und zeigen außerdem, daß sich die Tradition des Holzkirchenbaues in einigen Fällen sogar bis an das Ende des 14. Jahrhunderts gehalten hat. Im allgemeinen lösten jedoch die aus Tuff-, Feld- oder Sandstein errichteten Kirchen im 12. Jahrhundert ihre hölzernen Vorgängerbauten ab."

S.110:
"Wurden somit zunächst in der Zeit Liudgers und Willehads nur dort erste Kirchen gegründet, wo von Bremen oder Münster aus kirchlicher beziehungsweise klösterlicher Besitz vorhanden war, so dominierte das Heidentum im allgemeinen bis in das frühe 11. Jahrhundert in den bäuerlichen Gemeinschaften des friesisch-sächsischen Küstengebietes. Ein bekanntes Zeugnis sind die von Adam von Bremen überlieferten heidnischen Gebräuche zur Zeit des Erzbischofs Unwan (1013 - 1029) in den Marschen der Bremer Diözese. Erst seit dieser Zeit verdichtet sich das Netz des ländlichen Kirchenbaues, wie uns die zahlreichen archäologischen Hinweise auf Holzkirchen in den Ortskernen deutlich machen. Getragen wird diese zweite und nun erfolgreiche Welle der Christianisierung von neuen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen im Küstengebiet.
Neulanderschließung und erster Deichbau kennzeichnen an der Küste die genossenschaftlichen Organisationsformen bäuerlicher Landesgemeinden. Wohlhabende Höfe aktivierten in diesen weitgehend autonomen Gemeinschaften Landwirtschaft, Handwerk und Handel und waren gleichzeitig Initiatoren für den verstärkt einsetzenden Kirchenbau."

Soweit das Zitat. Weitere unruhige Zeiten werden nach 1305 (Papst in Avignon) und besonders nach 1409 (Schisma) gewesen sein, weil von da an die strenge Katholisierung durch den Papst einsetzte.


Und jetzt zu dem Problem der beiden Kirchtürme, die Ende der 30er Jahre als "Wehrtürme" eingestuft wurden:

Der Turm in Neuenkirchen ist, nach Berendt (1988), etwa 150 Jahre früher als das Kirchenschiff nach dem Untergang der alten Kirche in Elsfleth erbaut worden. Sie enthält im ersten Stock eine eingewölbte Kapelle mit einer Apsidiole im Osten, die dem hl. Michael geweiht ist. Die Kapelle ist durch einen Mauerdurchgang von der Orgelempore der Kirche zu erreichen. Der Turm ist ein romanischer Porto(???)sandstein- und Feldsteinbau und wird nach Berendt auf spätestens 1050 datiert. Nach Dehio ist die Kirche Ende des 12. Jahrhunderts entstanden. Friedrich Kühlken schreibt (WO???): St. Michael ist 1192 geweiht worden, erbaut anstelle einer älteren Kirche, die zu Nedderwarden auf einer flachen, von der Weser weggeräumten Wurt in der Marsch lag.

Der Turm in Berne ist nach Jörg Richter, "St. Aegidius zu Berne", (1981), und "Archäologische Mitteilungen" 3/1980, (WAS IST DAS??? Titel? Zeitschrift? Welcher Autor wird zitiert? Auch Richter? Welcher Artikel?) auf einer vorgeschichtlichen Wurt, die von der vorrömischen Eisenzeit bis zur Völkerwanderung durchgehend und dicht besiedelt war, nachweislich eher als das Kirchenschiff erbaut worden. Der romanische Turm wurde um 1160 aus eisenhaltigen Sandsteinquadern der Porta Westfalica erbaut und war vermutlich zunächst zum Schiff hin verschlossen. Im ersten Stockwerk des Turmes, das durch eine Treppe in der südlichen Turmmauer zu erreichen ist, sieht man eine 2,60 m breite gewölbte Tonnenische zur Kirche hin, die jetzt vermauert ist. Über ihre ursprüngliche Funktion liegen für die Berner Kirche keine Nachrichten vor.

Das könnte die irgendwann einmal durchgebrochene Apsidiole oder sogar der Rest einer äußerlich sichtbaren ehemaligen Apsis einer Turmkapelle gewesen sein, die bei Anbau des Kirchenschiffes abgebrochen wurde. Eine ledigliche Öffnung dort oben ist höchst unwahrscheinlich, weil der Turm ja zunächst allein gestanden hat. Nach dem Ausgrabungs-Bericht ist das dritte Turmgeschoss mehrfach eingestürzt, wobei es zu erheblichen Beschädigungen kam.

Es sei hier der Vollständigkeit halber noch kurz der Turm der Kirche in Blexen erwähnt, der an den Turm der Kirche in Berne erinnert und aus Porta(oder Porto ???)sandstein und Backstein erbaut ist, und in dem, laut Runge, "Die St. Hippolyt-Kirche in Blexen", vom Erdgeschoß eine schmale Stiege in den 2,25 m dicken Füllmauern nach oben geht und in einen Raum mit einer Ostnische (Apsidiole) führt, der offenbar als Kapelle diente. Nach archäologischer Untersuchung ist der Turm jünger als das Schiff, sein Baudatum wird auf das Ende des 13. Jahrhunderts geschätzt.

Zu diesem Befund gesellt sich jetzt eine im Sommer 1993 gemachte Entdeckung von "Türmen" auf Friedhöfen in Kärnten, die neben den Kirchen standen. Diese "Karner" (Beinhäuser) genannten zweistöckigen Rundtürme, haben im Oberstock eine Kapelle mit einer ausgeprägten Ostapsis nur im ersten Stock.
Im großen Brockhaus (JAHR?) steht unter "Karner":

"Zweigeschossiges Bauwerk mit Kapelle über dem eigentlichen Beinhaus seit dem 12. Jahrhundert besonders in den Alpenländern manchmal mit Altar für Totenmessen."

Im Textheft der Kirche "Maria Saal" bei Klagenfurt, wo auf dem Domplatz neben dem Dom auch so ein Karner steht, ist ausgesagt,

"daß in die Wehranlagen vom Ende des 15. Jahrhunderts ein schon vorhandener zweigeschossiger kreisrunder Bau einbezogen wurde, nämlich eine romanische Taufkapelle, dem heiligen Johannes den Täufer geweiht, später auch als Karner (Beinhaus) verwendet, mit einer weiteren Kapelle im Obergeschoß, dem hl. Erzengel Michael geweiht. Ende des 15. Jahrhunderts erhöhte man den alten Rundbau, umgab ihn mit einem neuneckigen, zweigeschossigen, offenen Arkadengang und setzte über das ganze ein gedrücktes Glockendach. Das Gebäude wird 'Oktogon' (Achteck) genannt, obwohl es neun Ecken hat. Das Oktogon wird auch als 'Heidentempel' bezeichnet. Vielleicht befand sich auf dem Hügel von Maria Saal bereits in vorchristlicher Zeit eine Siedlung mit einem heidnischen Heiligtum. Möglicherweise könnte die Benennung entstanden sein, weil in der alten Taufkapelle manchmal Heiden getauft wurden."

Ein im ursprünglichem Zustande erhaltener, eindrucksvoller Karner befindet sich in Maria Wörth (WAS SOLL DER KREIS???) am Wörther See und ein weiterer in Tigrin in Kärnten.

Es hat auch in Bremen ein "Oktogon" gegeben, ein kleines Gebäude mit achteckigem Grundriß, das "Glocke" benannt wurde, seitlich des Domes stand und im ersten Stock den
Kapitelsaal des Domkapitels enthielt. Diese Glocke war im Jahre 1737 an Stelle der ursprünglichen, baufällig gewordenen Glocke neu aufgeführt worden, die auch ein Oktogon war und schon vor der Reformation dort gestanden haben soll. (s. Buchenau, 1934, S. 298; Grundriß in Dehio, 5.7; Abb. in Dietsch, 5.156 u.239).

Das führt zu einem Blick auf das Leben der Apostel: Treffpunkt der zwölf Apostel in Jerusalem (Apostelgeschichte 1.13) war im Abendmahlsaal, dem Obergemach (coenaculum), von Luther "Söller" genannt (Bibel-Enzyklopädie, S. 394). Das bringt die Schlußfolge, daß ein christliches Kapitel sich traditionell in einem Saal im Obergeschoß eines kleinen turmartigen Bauwerkes versammelte um das Abendmahl zu feiern oder ihr Kapitel zu lesen.

Kapellen im ersten Stock eines Turmes bilden also das "coenaculum" aus der Urchristenzeit nach und dem Missionspriester-Kapitel bietet sich der Söller für ihr Abendmahl und ihre Kapitelversammlungen. Die beiden Bänke an der Wand im jeweiligen Halbrund zwischen Apsis und Tür sind im Obergeschoß des Karners von Maria Saal noch heute zu sehen. Unten wurde getauft und wurden die Leichen aufgebahrt, ehe sie beerdigt wurden. Die Aufbahrung hat für die Menschen immer eine hochwichtige Rolle gespielt. Deshalb hat der Karner auch mit dem Kirchhof zu tun, auch schon, als noch keine Kirche da war, weil ja die Germanen keinen Raum zur Gottesverehrung gewohnt waren.

Das Erdgeschoß des Turmes hat hier im Norden wohl weniger zum Taufen gedient, weil der Mensch, der sich der Taufe stellte, ganz untergetaucht wurde und das machte man im Fluß. Der Name "Auf der Tiefer" Flurname des Grundstücks in Bremen, wo in der unterhalb fließenden Weser getauft wurde, und der Name "Tiefer" in Berne für den Flußabschnitt der Berne, der am Friedhof vorbei läuft, sprechen für sich.

"Taufen" ist eigentlich "tief machen" von althochdeutsch DIP - tief, gotisch DIUPS- tief und wurde im 5./6. Jahrhundert durch die arianische Mission eingeführt. TIEFER ist also der uralte Flurname für den Ort, an dem man "tief gemacht", getauft wurde. Taufsteine mit Becken kamen erst für die Kindertaufe auf.

Man muß also die ganz frühe reine Totenaufbahrungskapelle auf den Friedhöfen von der späteren zweistöckigen Aufbahrungs- und Missionskapelle mit dem Kapitelsaal für das Missionskapitel trennen, die dann schon im Ort oder an seinem Rande auf dem Friedhof stehen und später durch ein Kirchenschiff und den Chor ergänzt wurden. Manchmal wurde, wie in Blexen, der Turm mit der Missionskapelle auch später an das schon bestehende Kirchenschiff angebaut. Damit ist einmal erwiesen, daß die christlichen Missionare oft für ihre Arbeit ein Kapitel bildeten und zum anderen, daß sie noch spät am Werke waren.

Außerdem wird jetzt auch eine vorher schwer faßbare oktogonale Kapelle, die Ägidienkapelle, im ersten Stock eines romanischen, quadratischen Gebäudes mit Ostapsis nur im ersten Stock, nördlich neben dem Naumburger Dom, erklärbar: Es ist der erhalten gebliebene Kapitelsaal des frühen Stiftes in Naumburg, die dann später, als das Propsteikapitel in das Domkapitel integriert war, an die Ägidienkurie als Andachtsraum für einen Domkapitular gekommen ist.

Missionskapitel, Stiftkapitel und Domkapitel haben ihre Kapitelsääle gern entweder rund oder achteckig oder quadratisch gehabt, weil sie so während des Abendmahles oder ihrer Kapitellesungen in der Runde sitzen konnten.

Damit sind die Kapellen in den Kirchtürmen erklärt. "Wehrtürme" waren sie von der Bauidee her nicht, wenn auch die Kapelle in Neuenkirchen und die in Naumburg ihre Eingänge im ersten Stock hatten, was für eine frühe Errichtung in feindlicher Umgebung spricht.


Literatur:

Karl Heinz Berendt, "Chronik der St. Michaelis-Kirche in Neuenkirchen", (1988), (VERLAG; STADT???)
Buchenau, "Bremen", 1934 (VERLAG; STADT???)
Dehio, "Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler" (VERLAG; JAHR???)
Dietsch, "Der Dom St. Petri zu Bremen",(VERLAG; JAHR???)
Jörg Richter, "St. Aegidius zu Berne", (1981), (VERLAG; STADT???) und "Archäologische Mitteilungen" 3/1980, (ARTIKEL; AUTOR???)
Peter Schmid, "Archäologische Quellen zur frühen Christianisierung im friesisch-sächsischen Küstenraum", in "Bremen - 1200 Jahre Mission", 1989. (VERLAG; STADT???)



Heinz B. Maass, Oberhofer Str. 34, 28205 Bremen.