Uwe Topper, Berlin

Rezension der Zeitensprünge 3/2001 (Oktober)

 

Wieder einmal sind „volle zweihundert Seiten“ vollgeschriebener Zeitensprünge in Umlauf gegangen, wahrlich eine Leistung. Bei näherem Hinsehen verblasst die Bewunderung etwas, denn die wirklich lesenswerten Körnchen werden immer seltener. Aber dennoch - insgesamt eine erstaunliche Fleißarbeit. Der Grund für diesen Aufwand wird auch gleich im „Editorial“ durch Illig selbst ausposaunt: Der Lektor hat keine Arbeit mehr, da alle Artikel in Diskettenform eingeschickt werden, sogleich wird die Druckerei aktiv, „während der Herausgeber (Illig) den erhofften Verdienst addiert.“

Im vorigen Heft hatte ich noch vermutet, dass der Herausgeber die Artikel vor der Drucklegung liest. Das hat sich wohl erübrigt.

Höchstes Lob verdient wieder der geniale Gunnar Heinsohn, (der immer noch als Mitherausgeber fungiert) dessen akribische Untersuchung der mittelalterlichen Besiedlungslücke in Danzig alle Kriterien der Forschung erfüllt und selbst hartnäckige Gegner zum Grübeln bringen sollte. Aber vermutlich ist das ein vergeblicher Kampf, und es bringt nichts Neues, sondern fügt nur ein weiteres Steinchen ins Mosaik der archäologischen Beweise für die fehlerhafte Chronologie. Zumindest sind in diesem geographischen Bereich die Minen nicht so dicht gelegt wie im orientalischen Kreuzfahrerland (in dem Heinsohn sich mutig vortastete), auch Polen können - abgesehen von einigen stereotypen Chimären - allmählich sich dazu durchringen, dass eine völlige Neusichtung des archäologischen Befundes in der Frage der Datierung nötig ist.

Zu den stereotypen Fantasien gehört die mehrmals wiederholte Aussage, die auch Heinsohn stehen lässt, dass die Besiedlung an der Weichselmündung schon im 6/7. Jh. als slawisch zu bezeichnen sei. Wie um alles in der akademischen Welt möchte man denn Gebäudeteile oder Keramik als „slawisch“ bezeichnen? Nur Münzen, Inschriften oder schriftliche Dokumente könnten etwas über die Sprache der damaligen Bewohner aussagen, und die fehlen. Falls aber der Begriff „slawisch“ für etwas anderes als sprachliche Kriterien stehen sollte - dann gute Nacht! Wir müssten noch einmal dort anfangen, wo wir vor einigen Jahrzehnten losmarschierten.

Insofern ist auch das Gerede von „ethnischen Deutschen“ dermaßen antiquiert, dass man sich bei diesem Rückfall in die Ausdrucksweise der Vorkriegszeit verwundert fragt, ob Heinsohn hier trotz aufmerksamer Mitarbeiterin nicht doch etwas über Weltanschauung sagen will. Hatten wir nicht längst geklärt, dass Deutsch im ausgehenden Mittelalter eine Sprache ist, wohl auch eine Kultur umschreibt, aber kein Volk und keine Rasse?

Im Fazit sagt Heinsohn, dass im gesamtslawischen Raum Texte aus der Zeit zwischen 7. und 10. Jh. gänzlich fehlen. Sicher ist man sich nur über die Stratigraphie bis zum Ende der Spätantike und dann wieder ab dem 10. Jh. Recht so! Da fragt sich der Leser dann noch einmal: Wo kommen dann Slawen im 6/7. Jh. her? Wohl doch aus den Geschichtsromanen der Kirche. Und die galt es ja gerade zu widerlegen.

Zum „Leitfossil“ Bernstein ist nun auch noch eine Anmerkung nötig. Wir hatten in der Schule gelernt, dass der Bernstein bei antiken Griechen und Nordafrikanern von den deutschen Küsten stammte. Leider ist das nicht mehr so sicher. Bernstein gab es auch am Atlantik und im Mittelmeer, steht in manchen Lexika. Hier wären genaue chemische Analysen sehr hilfreich. Wer sich in dieser Materie auskennt, möchte bitte weiterforschen und auf einem der nächsten Geschichtssalons vortragen!

In seinem zweiten, viel kürzeren Artikel fragt Heinsohn humorvoll nach der Architektur der karolingischen Kaiserpfalz in Ingelheim am Rhein. Auch hier ist das Ergebnis entsprechend: Bauweise bis zur Spätantike, dann ein Traditionsloch, und schließlich ab dem 10. oder 11. Jh. wieder Gebäude, die nun einen anderen Geist verraten. Die Lücke ist ein weiteres Mal bewiesen, diesmal bautechnisch, und das ist mindestens so gut wie stratigraphische Befunde, die man leider nicht immer nachprüfen kann, wenn man nicht selbst zum Team der Ausgräber gehört.

Die Schlussfolgerung, die der geneigte Leser ziehen möchte, kommt jedoch nicht zur Sprache. Noch immer nicht? Zwischen Römern und den Staufern (übrigens 12. Jh., nicht 11., ein Druckfehler?) klafft eine immer größer werdende Besiedlungslücke, die mit einem fast totalen Überlieferungsverlust einhergeht. Hier nur einfach 614=911 zu rechnen, wie Illig vorschlägt, ist nicht wirklich problemlösend. Dennoch hat Heinsohn das im Sinn und betont es immer wieder. Wenn die Salier oder Sachsen direkt an die Spätantike anschließen, sind gerade die Sprünge im Überlieferungsgebäude, technisch wie geistig, unerklärlich. Ohne Katastrophe kommen wir nicht mehr aus. Gerade das müsste dem Altkatastrophisten Heinsohn doch klar sein!

Zu Ingelheim meldet sich auch Heribert Illig zu Wort, in Gemeinschaftsarbeit mit Günter Lelarge, doch ist diese ausgefeilte Untersuchung der berühmten Ausgrabung und dazugehöriger Literatur nur für Fachleute interessant. Den schon von Illig sehr detailliert publizierten Ergebnissen über die Karolinger-Erfindung fügt sie nichts neues hinzu.

Illig bringt auch eine Satire - das liest man ja immer wieder gern, besonders aus dieser scharfen Feder, denn im Verhöhnen der Fachwelt ist der Herausgeber einfach umwerfend witzig. Diesmal hat er den Ötzi aufs Korn genommen. Aber obgleich er den Bergsportler und „Yetologe(n) Reinhold Messner“ gleich zweimal erwähnt, kommt doch die Pointe nirgends; und gerade die hat doch den Ötzi endgültig ins Jenseits befördert (übermittelt durch Volker Dübbers): wie besagter Messmer, um einmal mehr in die Schlagzeilen der Presse zu kommen, eine indianische Trockenmumie aus den Anden mitbrachte und in Tirol im Schnee vergrub, um dann mit einem Reporter die Auffindung zu inszenieren, als durch einen dummen Zufall drei Bergwanderer das frisch zugeschüttete Loch aufgruben und den Ötzi eine halbe Stunde vor der Zeit entdeckten.

Mit Trockenmumien beschäftigt sich auch Meinhard Hoffmann, diesmal mit neun ägyptischen, wovon eine ein echter Pharao sein könnte. Diese medienwirksame Arbeit zog sich über Jahrzehnte hin und ist eigentlich immer noch nicht abgeschlossen, wobei man die Zähigkeit des Autors bewundern muss, er selbst bittet darum. Der für Amerika hohe Kaufpreis der Mumie von „2 Mio. $“ gilt ihm „fast so etwas wie der Ritterschlag für meine Bemühungen“, schreibt er (S. 379). Obgleich Fachleute die Mumien in die Spätzeit Ägyptens einordnen, wenn sie echt sein sollten (was durchaus in Zweifel gezogen wurde, eine der neun wurde als Fälschung erwiesen), die übrigen also kaum 2000 Jahre alt sein dürften, zieht Ritter Hoffmann doch die C14-Analyse als beweiskräftig heran, und die hatte ein Jahrtausend mehr ergeben. Leider kennt er die in dieser Zeitschrift vor einigen Jahren als beendet erklärte Untersuchung der C14-Methode offensichtlich nicht. Wer nach Blöss/Niemitz (C14-Crash) noch weiter solche Daten ernsthaft verwendet, sollte eigentlich woanders veröffentlichen.

Die Toleranz der beiden Herausgeber hat in letzter Zeit deutlich zugenommen, was möglicherweise mit dem Mangel an Mitarbeitern zusammenhängt. Es sind aber durchaus einige bewährte Kämpen treu geblieben und haben ordentliche Artikel abgeliefert. So kann man nur dankbar sein für die Besprechung von Lynn Roses Buch über die ägyptischen Kalender, die Andreas Birken nicht nur präzis und konzentriert vorlegt, sondern auch noch um beachtenswerte eigene Gedanken bereichert. Bei der Nennung von Manetho und Berosos hatte ich aber erwartet, dass auch Birken  zugibt, dass diese beiden schon von den Humanisten als zu ihrer eigenen Zeit gefälschte Texte erkannt worden waren. Damit würden sich sämtliche den Ägyptern zugeschriebenen Kalenderbezüge als später rückerrechnete Daten erweisen, was sie auch tatsächlich sein müssen, wie Birken selbst andeutet:

„Zu fragen wäre auch, wie sich die ‚Trefferquote‘ (der zufällig passenden Monatsangaben, UT) ändert, wenn man annimmt, dass Illig mit seiner Mittelalterthese Recht hat, oder dass die hellenistische Zeit gekürzt werden muss. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn die Unterstützung Roses für Heinsohn nur unter den Annahmen der konventionellen Chronologie greifen würden.“

Ironie ? Eher Blamage, vor allem wenn in einer Zeitschrift, die sich gerade diesen beiden Punkten verschrieben hat, jemand so tut, als wären diese Thesen noch in Frage gestellt. Da aber die Chronologie tatsächlich in Unordnung ist - daran geht wohl kein Schritt mehr vorbei - sind Roses Überlegungen hinfällig und sein Buch, so klug es auch aufgebaut sein mag, überflüssig. Schade um Birkens schöne Rezensionsarbeit.

Eine weiterer ebenfalls beachtenswerter Beitrag ist Ulrich Beckers Untersuchung: „Drei Sonnen“ - wirklich im Neolithikum?

Der Rezensent freut sich, dass Tollmann einmal mehr abgekanzelt wird, nicht nur wegen seiner Ausschlachtung des guten alten Otto Muck, die schon Illig zu Recht anprangerte, sondern auch wegen dessen Nichtbeachtung der inzwischen erfolgten Chronologiekritik, die Tollmanns taggenaues Datum der letzten Katastrophe im 8. Jt. v. Chr. lächerlich oder naiv erscheinen lässt.

Dann ist der „literarische Zufallsfund“ ein kleiner Leckerbissen, wie man ihn sich wünscht. Leider wird nicht erwähnt, dass der berühmte Trithemius, dessen Chronik Becker hier auswertet, ein Gauner und Erzfälscher war, der als Abt mit besonderen Befugnissen kuriose Werke zuwege brachte, die z.T. bis heute durch die Geschichtsschreibung geistern. Dabei hat er nicht nur die Vergangenheit zurechtgezaubert, sondern sogar Zukunftsvisionen vorgestellt. Becker spricht nur von Trittheims Erfindungsgabe und scheint nicht zu wissen, dass seine Zeitgenossen ihm den Hunibald nicht abnahmen, sondern schlicht als Machwerk belächelten. Die von Hunibald erwähnte Katastrophe  im Jahre 50 nach Christi Geburt  ist nichts weiter als ein Topos, der in vielen erfundenen Chroniken vorkommt und nur soviel erkennen lässt: irgendwann muss eine Katastrophe stattgefunden haben, die in der Überlieferung mit dem Begriff „drei Sonnen“ vage überlebt hat. Einen „wahrheitsgetreuen Bericht“, für den Becker plädiert, kann man nicht darin sehen. Hunibalds Begriff „der welt dritten theil“, den Trittheim mit Europa gleichsetzt, stammt zweifelsfrei aus der Apokalypse des Johannes, und gerade in dieser Deutung, dass damit „unsere landen, ... lateinisch Europa genannt“, gemeint seien, zeigt sich Trittheims Eigenart bzw. Autorität. Auf diese Art schleuste man damals Bibelinterpretationen ein. Das spricht nicht gegen die Möglichkeit von „drei Sonnen“, aber eben auch nicht für diese Möglichkeit. Es bleibt ein Sagenstoff, der tausenderlei Deutungen zulässt. Die Dreizahl ist so durchgehend indoeuropäisch heilig, dass hier keine Präzisierung erwartet werden kann.

Da nun das Hunibald-Jahr 50 n.Chr. gewiss keine Beachtung verdient, beharrt Becker auf der Annahme einer hypothetischen Katastrophe in der Völkerwanderungszeit („um 450“), die ja auch schon seit Altheim und Spengler im Gespräch ist, und hier möchte ich ihm Recht geben, nur dass wir damit immer noch nicht wissen, vor wie vielen realen Jahren das Ereignis stattfand.

Becker versucht sich dann an der Datierung der Tangzeit in China, wobei er viele neue Hinweise gefunden hat und sogar - welch ein Wagnis in dieser Zeitschrift - erwähnt, dass hier Topper im Kontrast zu Illig steht (S.405), kommt aber dennoch zu keinem verwertbaren Ergebnis.

Nur dem Schluss-Satz, der im Artikel zu wenig besprochen wurde, kann man Beifall spenden: „Gegen einen ‚Mudur-/Drei Sonnen‘ -Impakt im Mesolithikum, selbst im Neolithikum stehen nach wie vor die Tradierungsprobleme mündlicher Überlieferung.“

Lesenswert ist dieser Beitrag jedenfalls, auch beispielhaft für ineinandergreifende Weiterarbeit an Themen, die von mehreren Autoren der Zeitschrift aufgegriffen worden waren.

Der fleißige und ungemein belesene Klaus Weissgerber führt mit seinen Untersuchungen zur osteuropäischen Phantomzeit, die von Thüringen bis zum Kaukasus reicht, diesmal nach Ungarn, wo er ebenfalls den von Illig ausgearbeiteten Zeitsprung deutlich macht.

Illigs Lagebericht von der Mittelalterfront (S. 513-523) ist witzig und scharf wie gewohnt. Hierzu zwei Anmerkungen: Zwar hatte ich schon vor Jahren (Erfundene Geschichte, 1999) dargestellt, dass der Geburtstag von Kaiser Augustus am 23.9. die Herbsttagundnachtgleiche gewesen sein muss und damit die Einfügung von etwa drei Jahrhunderten ins Zeitschema erkennbar wurde. Illig interessiert diese Möglichkeit jetzt auch, er ist aber noch nicht überzeugt, dass dieser Beweis gelungen sei. „Bei Identität wäre die Kalenderfrage zu Gunsten der Phantomzeit geklärt - so bleibt weiterhin Unsicherheit.“ (S. 519)

In der Argumentation gegen Lülings „Beweis“ mithilfe der Sonnenfinsternis kurz vor Mohammeds Tod folgt Illig genau der von mir veröffentlichten Linie, da sind wir uns wieder einmal einig, was in letzter Zeit seltener wurde.

Schreiten wir fort zu einem weiteren bemerkenswerten Artikel. Nachdem ich in meinem Buch „Die Große Aktion“ (1998) der Roswitha von Gandersheim den ersten Teil des dritten Kapitels gewidmet und Joseph Aschbachs Technik (19. Jh.) zur Aufdeckung von Fälschungen als vorbildlich hingestellt hatte, schlug Alfred Tamerl ein Jahr später in dieselbe Kerbe und „entmystifizierte“ Hrosvith von Gandersheim, ohne leider die Methodik Aschbachs besonders hervorzukehren. Dem ging es damals nicht darum, ein einzelnes Werk zu demaskieren, sondern beispielhaft das Problem aufzuzeigen, damit wir nicht dauernd jedes einzelne Schriftstück untersuchen müssen. Tamerl hat das wohl nicht ganz durchschaut und gibt jetzt ein weiteres Beispiel von Fälschungsentlarvung. Dieses ist durchaus glänzend recherchiert, doch scheint der Autor selbst nicht ganz gemerkt zu haben, wie gut er eigentlich ist. In seiner Schlussfolgerung lässt er vermissen, was er gerade ausdrücklich erkundet hat. Oder hat ihm jemand die klaren Schlussfolgerungen abgerungen? Vielleicht sogar der Herausgeber? Jener warnt nämlich immer vor Zitaten aus Schriften ehemaliger Mitarbeiter, die in Ungnade fielen. Diesmal jedenfalls konnte Tamerl nicht ganz drumrumreden und musste einen Aufsatz von Topper, zum Glück mit gleichzeitiger Erwähnung von Jurisch, seinem Kontrahenten, anmerken.

Es geht diesmal um den Beowulf, aber bevor ich Tamerls einzigartige Forschungsarbeit betrachte, muss ich zunächst kurz skizzieren, was der Beowulf ist und bedeutet.

Es handelt sich um ein in England aufbewahrtes Manuskript einer alten Sage, „christianisiert und etwa zu Anfang des 8. Jh.s aufgezeichnet; die einzige Handschrift indes stammt erst aus dem 10. Jh. Der Beowulf ist demnach das älteste größere Denkmal deutscher volkstümlicher Poesie ...“ (Meyers Konv. Lexikon, 4. Aufl., Leipzig 1885, 2. Bd., S. 707). Statt deutsch wird in manchen späteren Lexika auch germanisch gesagt, zuweilen auch angelsächsisch. Die Handlung spielt in Skandinavien, zu England besteht keine Beziehung. Nach Felix Genzmer (im Vorwort zur Übersetzung, 1953 Reclam)  wurde das Epos in der Sprache der Angeln (deutscher Stamm in Holstein) verfasst und dann westsächsisch überarbeitet durch einen katholischen Geistlichen. Dessen lateinischer Einfluss sei unverkennbar. Es sind allerdings Sagen verarbeitet, die wir aus sehr viel jüngeren Texten kennen, aus dem 12. und späteren Jahrhunderten. So sind Teile der Edda mit einbezogen, die ja erst im 16. Jh. bekannt wurden.

Zur Klärung eines „Zwischenspiels“ im Beowulf, dem Finnsburglied, wurde im 18. Jh. ein Bruchstück veröffentlicht, das aber nichts klärt und die erste Bezugnahme auf  den Beowulf-Text sein dürfte. Außer der Druckschrift kennt man kein Original dieses altenglischen Lied-Bruchstücks.

Nach Aschbach müssten wir nun zum Inhalt selbst schreiten. Da erzählt ein Christ heidnische Geschichten aus Dänemark, weiß aber nicht, dass die Dänen keine Harfe kannten (Verse 86, 2263 u.a.). Er bringt die gewohnte Chronologie völlig durcheinander, erwähnt (griechische) Giganten (Vers 113) und zitiert Dialoge von Papst Gregor I (Verse 168 ff), von denen wir wissen, dass sie erst in der Renaissance geschrieben wurden. Ab Vers 175 belehrt der Dichter seine Zuhörer, dass die Helden seines Epos Heiden sind und Verachtung verdienen. Möglicherweise war der Mönch eine echte Landratte, denn bei ihm dauert die Fahrt von Südschweden bis zur Jütenhalbinsel genau 24 Stunden, das ist bei weitem zu lang, denn von Gegensturm ist nicht die Rede.

Und so weiter, das Machwerk ist entblößt.

Tamerl tut dies nun ganz souverain: Der Beowulf, angeblich Anfang des 8. Jh.s geschrieben, wurde bis zu seiner Publizierung durch den Dänen Thorkelin 1815 nirgendwo verarbeitet oder nachgeahmt. Das größte altenglische Epos, einer Ilias vergleichbar (Tamerl bringt genaue Hinweise dieser Zusammenhänge), schlief als einziges Manuskript auf einem Regal.  Thorkelin hatte schon 25 Jahre vorher das Manuskript, das ihm englische Kenner zur Kenntnis gebracht hatten, abgeschrieben. Hätten nicht auch diese Engländer (damals lebte  Herder) größtes Interesse gehabt, diesen kostbaren Text selbst herauszubringen, statt 25 Jahre zu warten, bis ein Ausländer sich dieser Mühe unterzieht? Tamerl verwundert dies zu Recht. (Dieser Vorgang ist ganz typisch, möchte ich dazu sagen: Kürzlich haben Amerikaner einen gefälschten Goldhelm eines andalusischen Kalifen in eine Ausstellung in Granada eingeschleust, um ihn dann in Amerika als echt aufzuwerten, nachdem ihn die gut bezahlten spanischen Aussteller nicht abgelehnt sondern im Katalog publiziert hatten.)

Tamerl stellt noch mehr fest: Es gibt in dieser Handschrift Rasuren und seltsame Bearbeitungsspuren, die einen modernen Forscher mit elektronischen Mitteln, den Amerikaner Kevin S. Kiernan (1993), dazu veranlassten festzustellen, dass der Schreiber des Manuskripts der Dichter selbst war. Es sei sein Arbeitsexemplar gewesen. Die zahlreichen Verbesserungen stammen von seiner eigenen Hand. Nun, das kennen wir ja von den Humanisten schon recht ausführlich. Die Aufklärer waren wohl nicht besser, gaben sich nur mehr Mühe. Sie benützten außer Rasiermesser auch Säuren, legten Benützungsspuren an (die meisten Manuskripte sehen ja aus, als hätte sie nie jemand in der Hand gehabt) und sorgten möglichst für Querverweise (in diesem Falle das Finnsburg-Bruchstück).

Nach gewohnter Art hatte der Fälscher die Pergamentblätter in einen älteren (ebenfalls gefälschten, aber schon anerkannten) Kodex eingeschleust, doch Tamerl hat herausgefunden, dass frühere Betrachter und Beschreiber des Kodex nichts von einem Beowulf wussten, während sie die anderen, viel kleineren und unwichtigen Texte des Kodex in ihren Aufzeichnungen vermerkt hatten. Aus Tamerls tiefschürfender Untersuchung geht eindeutig hervor, dass Franciscus Junius (1589-1677) der Fälscher sein muss. Er hatte als erster altenglische Sprachforschung mit Wörterbüchern und grammatischen Untersuchungen veröffentlicht, hatte 1665 die Wulfilas-Bibel wissenschaftswürdig gemacht (eine Fälschung, siehe Topper 1998) und den Kodex mindestens einmal in seinem Leben, vermutlich zweimal, in der Hand gehabt.

Tamerl kann ganz seltsame Erkenntnisse zitieren: „Der Beowulf ist in noch einer weiteren Hinsicht einzigartig. Ein Drittel des Vokabulars kommt in keinem anderen altenglischen Werk vor.“ Wir kennen das von anderen Werken jener Zeit, die Wulfilas-Bibel ist nur das beste Beispiel. Und außerdem gibt es da Unmassen an Fehlern, Verschreibungen und Anachronismen im Text des Beowulf.

Tamerl deckt nebenbei gleich noch weitere Fälschungen auf - vielleicht sollte man auch sagen: Schöpfungen der Aufklärer - wie z.B. die Boethius-Übersetzung des Königs Alfred, das wäre weitere Artikel wert. Dann aber kommt das ganz erstaunliche Fazit:

„Wenn es sich tatsächlich um das Arbeitsexemplar des Dichters handelt, so entstand der Beowulf also in der Zeit der Schreiber, also im 10. oder 11. Jh. Der Beowulf  wäre also gleich alt wie die übrigen altenglischen Texte, die in (Kodex, UT) Vitellinus A. XV enthalten sind.“ (S. 509). Nun staunt der Rezensent aber doch. Tamerl hatte ganz klar herausgearbeitet, dass der Beowulf im 18. Jh. geschrieben wurde (und das mit viel mehr Details, als ich hier zitieren konnte), um dann am Schluss zu sagen:

„Aus welcher Zeit stammt der Beowulf also? Entweder ist er ein ausgefallenes Werk eines Mönches des 11. Jhs., wie Walter Klier in seiner Rezension vermutet (eine Glosse in der FAZ vom 31.3.2001, die den Anlass zu dieser Arbeit gab, UT), oder es handelt sich um eine neuere Produktion.“ (S. 510)

Tamerl kämpft dann noch einmal deutlich um seine Erkenntnis, nämlich Fälschung des Beowulf im 17. Jh., kommt aber anscheinend gegen den Redakteur nicht durch und resigniert mit einem Unentschieden, wo er sich zumindest noch soviel erlaubt: „Von der literarischen Produktion des 8. Jhs. können wir uns getrost verabschieden.“ (S. 511), denn das ist im Sinne des Herausgebers.

Die Peinlichkeit des Nachhilfeunterrichts in Sachen Zeitbestimmung durch Dietmar M. Richter, zweiter Teil, hatte ich schon bei Besprechung des vorigen Heftes angekreidet, weshalb ich mich hier kurz fassen kann: Richter weiß nicht einmal, ob mit dem Zeitraum der Schwingung der Ekliptikschiefe in den zugänglichen modernen astronomischen Schriften 80.000 oder 40.000 Jahre gemeint sind (S.534). „Ich wähle die zweite Interpretation,“ sagt er schlicht ohne Begründung und empfiehlt dann drei Computerprogramme wie in einer Werbezeitschrift. Dass aber diese Zyklenberechnungen von sehr wenigen Beobachtungen der Neuzeit, genaugenommen der letzten hundertfünfzig Jahre ausgehen, und diese auf Grund ihrer Ungenauigkeiten bei einer Hochrechnung auf „astronomische“ Jahreszahlen jeglichen Wert für eine Anwendung in vorgeschichtlichen Zusammenhängen verlieren, müsste ihm als „ernsthaftem Amateur“ eigentlich klar sein. Und dass derartige Kontinuitäten über Jahrzehntausende ja gerade durch die Neue Historische Schule in Abrede gestellt werden, scheint er nicht einmal vom Hörensagen zu kennen. Lückenbüßer, um die zweihundert Seiten voll zu machen?

Da es schon reichen würde, wenn nur ein einziger Artikel in diesem Heft außergewöhnlich gut ist, um es lesenswert zu machen, und da tatsächlich mehrere Artikel dieses Prädikat erfüllen, kann der Rezensent nur wärmstens empfehlen, dass möglichst viele Freunde und Feinde dieses Heft zur Hand nehmen!